Am nächsten Tag kam als erstes Randy zu Besuch. Wir redeten nicht viel. Er brachte mir was zu Lesen und war einfach nur da, was mir reichte. Mehr wollte ich auch noch nicht. Die Ärzte meinten, ich sollte ein paar Tage hier bleiben, insbesondere ob die Gehirnerschütterung sich nicht verschlimmerte. Ich hatte nur Kopfschmerzen, keine Übelkeit. Sie hatten mich gleich zu Anfang durch die Röhre geschoben, aber die Wirbelsäule hatte zum Glück nichts abbekommen. Außerdem konnte man einen Rippenbruch nicht ruhig stellen und starke Schmerzmittel nahm man auch besser unter Aufsicht.
Danach wurde es offiziell und die Polizei befragte mich zum Unfallhergang. Ich hing mich, zumal die nicht mal falsch sondern nur unvollständig war, an Robbies Version, dass mich nach einem Streit zu Hause der Bodyguard meines Vaters auf dessen Befehl verfolgt und bedrängt hatte und ich beim Abbiegen dann die Sprungschanze erwischt und mich überschlagen hatte.
Die nächsten Besucher hatte ich definitiv nicht erwartet. „Robbie, wen hast Du denn dabei?“ „Meine Kumpels Ryan und Dylan. Sie waren die anderen beiden Motorradfahrer.“ Okay, Dylan erkannte ich wieder, aber Ryan hatte ja Snyder verfolgt. Nach ein Bisschen ungezwungenem Smalltalk stellte Dylan, der der jüngste von ihnen war, dann doch die Frage, die die Neugierde raus trieb: „Was war das denn nun gestern?“ Ich erzählte ihnen so viel, wie sie wissen mussten. Dass ich zu Hause ständig Ärger hatte, mich mit meinen Eltern an dem Nachmittag endgültig überworfen hatte, sich vor kurzem mein Freund das Leben genommen hatte. Denn inzwischen wusste dank einer undichten Stelle bei der Polizei und einer eifrigen Boulevardzeitung die halbe Stadt, dass Matthew vor dem Aufprall beschleunigt und den Sicherheitsgurt gelöst hatte. Und natürlich erfuhren sie auch, dass der Fahrer in dem Dodge Charger der Personenschützer meines Vaters gewesen war, der nach einem Streit auf mich angesetzt worden war.
„Und jetzt sitze ich da. Habe nichts. Kein Zuhause, kein Geld, keinen Job.“ „Du bist jung, gerade mal 18. Da kannst Du eine Menge machen. Dein High-School-Abschluss ist gut genug für ein Studium. Schau uns an. Ryan hat einen einfachen Abschluss und ich habe gar keinen. Trotzdem habe ich einen Job, räume Regale im Walmart ein und finanziere so mein Leben. Ryan ist Mechaniker bei John Deere und hat eine Ausbildung gemacht. Deshalb steht er ein Bisschen besser da als ich, aber ich kann mir eine Wohnung, was zu essen und mein Motorrad leisten. Dylan hat noch seine Zukunft vor sich, der macht seinen Abschluss im Sommer. Du liegst ja sowieso nur hier rum und kannst nichts machen. Denk doch mal nach, wie es weiter gehen kann.“ Damit hatte er Recht, aber es kam nicht dazu, denn mein Erzeuger kam rein, als sie maximal 2 Minuten weg waren.
Kein Wort der Entschuldigung, nicht ein kleiner Schritt auf mich zu, kein Ansatz einer Frage wie es mir ging. Er war nur gekommen, um mich aus seinem Leben zu streichen: „Du kannst Dich bei Deinem Bruder bedanken, dass Du hier liegen darfst! Wenn es nach mir und Deiner Mutter ginge, wärst Du jetzt in einem staatlichen Krankenhaus und würdest über dieses dämliche Obamacare behandelt!“ „Nett dass Du extra gekommen bis, um mir das mitzuteilen.“ „Nein, ich bin gekommen, um Dir mitzuteilen, dass Du Dich nicht mehr blicken lassen musst. Die Sachen zu Hause gehören sowieso nicht Dir, weil das Geld dafür von uns war.“ „Aha.“
Das war zwar Unsinn, denn auch in Amerika gehörte das Taschengeld und alles, was sie davon geringwertig, hochwertig mit Einverständnis der Eltern oder nach Erreichen der Volljährigkeit kauften, den Kindern, egal wie teuer es war, aber diskutieren war da wohl eher zwecklos. „Sobald Du hier entlassen wirst, kündige ich Deine Krankenversicherung und dann bist Du nicht mehr mein Sohn!“ „Das trifft sich gut. Ich möchte nämlich auch nicht länger, dass Du mein Vater bist!“ „Freut mich, dass wir uns einmal im Leben einig sind.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und ging.
Das erste, woran junge Amerikaner dachten, die zu Hause raus geflogen waren, waren die Armed Forces. Army kam für mich überhaupt nicht in Frage, aber mit Navy oder Air Force könnte ich mich anfreunden. Und wer die Gesundheitsprüfung für die Rennlizenz schaffte, der hatte auch mindestens den zweitbesten Musterungsgrad und würde bei der Air Force auf jeden Fall Transporter oder Helikopter fliegen dürfen. Und vielleicht schaffte man ja auch den besten Grad noch und wurde Jetpilot. Im Wartezimmer der Radiologie hatte eine Broschüre der Armed Forces gelegen. Da sollte ich nachher mal hin.
Ich konnte zwar ein paar Schritte bis aufs Klo laufen, aber lange Strecken sollte ich fahren. Dazu hatte man mir einen Rollstuhl aufs Zimmer gestellt. Und so rollte ich durch die endlos langen Gänge. Links und rechts Türen, in der Ferne trafen sich die Wände am Horizont. Und auf einmal wurden meine Beine zur Motorhaube, der Gang zur Straße, die Wände und Türen zu Bäumen und Querstraßen. Ich hatte meinen Traum gefunden und ich musste keine Uniform für ihn tragen. Ein klassischer Truck auf den Straßen Nordamerikas.

Im Gegensatz zu den Armed Forces hatte die Gewerkschaft der Fernfahrer hier aber keine Werbebroschüre ausliegen. Und ein Gerät zum Surfen im Internet hatte ich nicht, zumindest nicht in diesem Moment. Das änderte sich allerdings, als mir Randy am Samstagmorgen ein Tablet brachte. „Wo ist das denn her?“ Meins war es nämlich nicht. „Habe ich Dir gekauft, Dein altes hat Dad beschlagnahmt. Dad hat Deinen Mustang verkauft und mir das Geld gegeben. Alles kann ich Dir nicht geben, das würde ihm auffallen und mir eine Menge Ärger bereiten. Aber damit Du Dir die Zeit vertreiben kannst. Wenn Du entlassen wirst, gebe ich Dir noch Bargeld als Start ins neue Leben, das Du ja nun leider anfangen musst, ob Du willst oder nicht.“ „Ich will es selbst.“ Ich erzählte ihm noch ein Bisschen, was ich mir in den Kopf gesetzt hatte, er wünschte mir viel Glück und verabschiedete sich. Immerhin kamen am frühen Nachmittag die Besucher von Vistaprint.
Nun konnte ich also loslegen, wobei ich erst mal das neue Tablet mit meinem Google Account verknüpfte und dann das Passwort änderte, damit das alte Tablet nicht mehr drauf zugreifen konnte. Recht schnell wurde mir klar, dass ich nicht einfach nach dem Führerschein in eine Bank spazieren konnte, mir einen Kredit holen, einen Truck kaufen und zum nächsten Industriebetrieb fahren konnte – Hoppla, hier bin ich. Zuerst einmal war das Mindestalter für einen Langstreckenfahrer 21 Jahre. Man konnte die CDL-A machen und Class 8 Sattelzüge zwar fahren, sobald man 18 Jahre war, aber bis zum 21. Geburtstag galt dieser Führerschein dann nur im ausstellenden Bundesstaat. Wenn man in Delaware oder Rhode Island lebte eine Schöne Schei… Mit Kalifornien konnte man aber was anfangen.
Dann war die Arbeit auch nicht der Traum, den er für Außenstehende darstellte. Man konnte davon leben, verglichen zu anderen Kontinenten in Nordamerika auch ganz gut. Es gab grob vier Arbeitsprinzipien, von denen drei sich aber nur in dafür ziemlich entscheidenden Details der Vertragsgestaltung unterschieden:
1. Man konnte bei einer Firma angestellter Fahrer sein. Das war entweder eine Spedition oder ein Industrie- oder Handelsunternehmen mit einer eigenen LKW-Flotte. Das bedeutete ein sicheres Einkommen, vollen Fokus auf den Job als Fahrer und sorglosen Betrieb des Fahrzeugs. Der LKW wurde vom Arbeitgeber gekauft, unterhalten und gewartet. Die Bezahlung erfolgte zwar nach gefahrenen Meilen, aber seriöse Arbeitgeber verpflichteten sich im Arbeitsvertrag zu einer Mindestauslastung.
Dafür stand ein angestellter Fahrer unter ständiger Beobachtung durch GPS-Tracking, wurde optimal ausgelastet, was bedeutete, dass man oft unter Zeitdruck stand oder alternativ am Ladeort auf genau seine Fracht warten musste, weil davon die weitere Tour abhing und auch keine Alternative dazu hatte wie ein freier, der sich stattdessen eine andere Ladung suchen konnte.
2. Die mildeste Form eines Owner-Operator war, dass man seinen Truck beschaffte und mit einem Handels- oder Transportunternehmen einen exklusiven Vertrag schloss, in dem man den LKW und sich selbst als Fahrer an den Kunden band. Auch hier war das Einkommen vom Kunden soweit zugesichert und die Bezahlung je Meile war deutlich besser als beim angestellten Fahrer.
Das war nur logisch, denn man musste ja auch mit dem Einkommen das Fahrzeug finanzieren und unterhalten. Lief alles glatt, dann hatte man am Ende mehr Geld als ein Angestellter. Aber wenn man sich verkalkulierte oder ungeplante Reparaturen den Truck lahm legten, dann hatte man schnell mal einen Monat, in dem 7 Tage die Woche Kartoffeln mit Frischkäse auf dem Speiseplan standen.
Man musste außerdem sich selbst um seine Finanzen, Steuern und alles andere kaufmännische kümmern, allerdings in der mildesten vorstellbaren Form. Und schließlich stand man auch hier noch unter Disposition und Beobachtung des Kunden mit dem entsprechenden Druck als Ausgleich zur Sicherheit, mit Aufträgen versorgt zu werden.
3. Man konnte sich als Owner-Operator an einen oder auch mehrere Kunden lose vertraglich binden, wurde aber nicht mehr von dem Kunden disponiert und musste selbst für seine Ladung sorgen. Der Vorteil war, dass man immerhin bevorzugten Zugriff auf die Frachten seiner Partner hatte. Außerdem war man so wirklich schon mehrheitlich sein eigener Herr, das GPS und der ständige Druck aus der Zentrale entfielen.
Allerdings sollte man schon eine gewisse Anzahl Transporte für seine Partner fahren. Und wenn denen die Aufträge ausgingen, dann setzten sie als erstes hier die Schere an, denn bei den angestellten und fest gebundenen Owner-Operator waren sie selbst vertraglich gebunden und daher wurden die auch dann noch mit Ladung versorgt. Und der kaufmännische Teil wurde hier auch deutlich komplexer.
4. Die Königsdisziplin war dann der vollkommen ungebundene Freelancer. Er konnte sich die Rosinen aus dem Kuchen picken und nur die lukrativsten Frachten annehmen und den größten Gewinn erzielen. Dafür hatte er aber auch das volle Betriebsrisiko für sein Unternehmen und konnte sich nicht darauf verlassen, dass er bei einem Partner sicher oder zumindest bevorzugt eine Ladung bekam – denn er hatte keine Partner.
Sämtliche Owner-Operator Systeme gab es mit eigenem Trailer oder von den Kunden gestellten Trailern. In Nordamerika herrschte deutlicher Trailer-Überschuss. Große Transportunternehmen und auch die Kunden wie Walmart hatten ein Vielfaches an Trailern gegenüber eigenen oder vertraglich gebundenen Zugmaschinen. Es wurden ständig Trailer be- und entladen. Kam dann ein Transport an, wurde der Zugmaschine einfach ein fertig geladener Trailer angekuppelt und sie ging wieder auf die Reise. Der neu angelieferte wurde dann in Ruhe ent- und wieder beladen.
Ein großes Hindernis war, dass man den Führerschein so gut wie immer selber bezahlen musste. Zwar gab es dank des Fahrermangels inzwischen manchmal die Möglichkeit, den Schein auch in einem Unternehmen bezahlt zu bekommen, aber das wurde meistens nur intern angeboten. Also musste ich erst einmal einen anderen Job annehmen, bevor ich mir den Führerschein leisten konnte. Mir brummte der Schädel und ich schaltete das Gerät erst mal aus.
Apropos „leisten können“, das Leben in Kalifornien war eins der teuersten in den USA. Wollte ich wirklich hier bleiben und den Gürtel verdammt eng schnallen oder lieber wo anders hin? Mir hatte es in Deutschland besonders gut gefallen. Die Ostküste war deutlich europäischer geprägt als der Westen. Dort waren die ursprünglichen Einwanderer hängen geblieben, die einfach nur aus verschiedenen Gründen von Europa weg wollten, aber nicht ihre Gewohnheiten verändern wollten. Im Westen waren die Leute sesshaft geworden, die von der Ostküste weg wollten. Sozusagen die ersten Auswanderer von den Auswanderern und ein ganz anderer Menschenschlag.
Ich machte mich also schlau über die Zentren im Osten. Die Südstaaten schloss ich generell aus. In New York und Washington DC war das Leben teuer, dort und in Chicago außerdem der Arbeitsmarkt schwierig, weil diese Städte sehr beliebt waren. Und als erstes brauchte ich einen einfachen Job als ungelernter Arbeiter. In Detroit gab es dafür durch den gescheiterten Strukturwandel nicht mal mehr Arbeitsplätze für die einheimische Bevölkerung. Pittsburgh hatte sich zu einem Hochtechnologiestandort gewandelt und man kam nur als ausgebildete Fachkraft gut an Jobs. Die einschlägigen Portale rieten dazu, sein Glück in den weniger beachteten Städten wie Cleveland, Columbus oder Indianapolis zu versuchen. Ich begann, die Jobbörsen dort und in einigen anderen Städten, die weder als gut noch als schlecht für einen Umzug dorthin genannt wurden, zu studieren.
Meine Wahl fiel am Ende auf eine gerne verkannte Stadt. Zu groß, um die Tipps für die gemütlichen Städte abzustauben. Nicht modern genug, um in der heutigen Wirtschaft im Gespräch zu sein. Nicht sexy genug, um mit New York oder Chicago mitzuhalten. Aber auch nicht im Strukturwandel unter die Räder gekommen wie Detroit.
Am Sonntag kam Randy wie ein geölter Blitz 2 Minuten nach Beginn der Besuchszeit ins Zimmer. „Da hast Du gestern was verpasst!“ „Will ich es hören?“ Mir war nicht nach Details eines Privatbesuchs mit geschäftlichen Hintergedanken. „Auf jeden Fall! Als ich am späten Vormittag nach Hause kam, habe ich erst mal Dad mit Martin Kendall durch die geschlossene Bürotür telefonieren hören.“ Martin Kendall war Matthews Vater, ich holte so tief Luft, wie es meine angeknacksten Rippen erlaubten: „Hat er ihm mitgeteilt, dass er in seiner Tinte ersaufen soll, nachdem seine Missgeburt mich verführt hat?“ Meine Stimme war ätzend. „Nein, Kendall hat ihn sprichwörtlich auf dem Trockenen sitzen lassen und den Vertrag einseitig fristgerecht zum Ende des laufenden Mengenkontrakts gekündigt. Dad dachte, Kendall könnte ohne uns nicht existieren und ihn immer finanziell ausgequetscht, aber der hatte sich zuletzt wohl breiter aufgestellt und braucht uns als Großkunden zumindest nicht mehr zum Überleben. Das bedeutet, Druckfarbe wird in Zukunft einige viele Cent pro Quart teurer und wir zwei kennen jemanden, der dank gestiegener Betriebskosten zu den nächsten Terminen mit Vistaprint lieber Business statt First nach Boston fliegen sollte. Denn es gibt nicht mehr viele kleine Farbhersteller und die großen werden Dad erst mal zeigen, was für eine Sternschnuppe er im Universum des Druckereigewerbes ist. Da gibt es welche, die unseren Wochenbedarf aller Farben zusammengerechnet täglich alleine in Schwarz aufs Papier bringen. Aber das war erst der Anfang.“ Den fand ich schon mal gut.
„Wieso?“ „Die nächste originelle Nummer war dann, als unser Besuch eintraf. Erst mal meinen Respekt, was Du in den letzten Jahren ertragen musstest. Seit gestern weiß ich, wie sich das anfühlt, am Tisch zu sitzen und Luft zu sein.“ Das klang interessant. „Eine Verkuppelei mit der Tochter hättest Du nicht zu befürchten gehabt. Die sah schon ziemlich burschikos aus und mit dem regenbogenfarbigen Kettenanhänger war mir alles klar – die war das Paradebeispiel für das Klischee, was man wohl „Kampf-Lesbe“ nennt. Mum hat ihr Aussehen zwar pikiert zur Kenntnis genommen, es aber natürlich nicht geschnallt und ist erst mal in das Fettnäpfchen gerasselt, sie im Smalltalk nach einem Freund zu fragen. Sie hat dann einfach gesagt, dass sie lesbisch ist und eine Freundin hat. Mum wäre fast der Löffel in den Suppenteller geplumpst.“ „Hör auf. Ich kann doch nicht lachen!“ „Dann willst Du also nicht wissen, was danach noch passiert ist?“ „Doch, natürlich will ich.“
„Sie haben es da wenigstens noch nicht über die Lippen gebracht, dass sie einen schwulen Sohn haben. Hätte ich ihnen ja fast schon als Mittel der Anbiederung zugetraut. Dad fragte dann, um die peinliche Stille zu überbrücken, wo denn der Sohn unserer Besucher wäre, der muss wohl 13 Jahre oder so um den Dreh sein. Das war das nächste, ehrlich gesagt aber auch nicht so offen getragene Messer, in das er lief. Normalerweise ist er besser auf die Besucher vorbereitet und so was wäre ihm ohne die durch Dich entstandene Unruhe der letzten Wochen sonst nie passiert. Als dann nämlich Mr. Jackson meinte, der Junge wäre zwar mit nach Kalifornien gereist, aber mit seinem Onkel das Wochenende in Redding beim Granite Peak Hillclimb, das Rennen gucken, war Dad dran mit entgleisten Gesichtszügen. Er hat sich aber schnell wieder gefangen. Auf einmal warst Du der tolle Sohn und ich spielte als Basketball-Crack für den Rest des Smalltalks keine Rolle. Du würdest ja Hillclimb fahren, hättest sogar eigentlich am Granite Peak antreten wollen. Aber leider bist Du bei einer Trainingsfahrt verunglückt, liegst im Krankenhaus und müsstest das Rennen aussetzen. Und wenn er das vorher gewusst hätte, dann hätte man sich ja auch in Redding treffen können. Aber das würde bestimmt noch mal bei einem Rennen klappen und dann könnte der Junge auch mal eine Streckensichtung bei Dir mitfahren.“
Das mühsam unterdrückte Lachen tat wirklich weh. „Ach ja? Na da bin ich mal gespannt, wie er das hinkriegen will, wo ich mich doch nicht mehr blicken lassen soll, mich bei Dir bedanken soll, dass ich überhaupt hier liege und nicht unter Obamacare im Staatskrankenhaus, bei meiner Entlassung die Krankenversicherung gekündigt wird und ich dann nicht mehr sein Sohn bin.“ „Ich würde an Deiner Stelle jedenfalls heute Nachmittag oder spätestens morgen mit überraschend freundlichem Besuch rechnen. Aktuell schläft er sicher noch, denn nachdem er festgestellt hat, dass er sich damit ins eigene Fleisch geschnitten hat, Dich abzuservieren und schon mal anzufangen, Deine Sachen zu versilbern, hat er sich gestern Abend mit seinem Freund Jim Beam im Arbeitszimmer eingeschlossen und die Kelle gegeben. Aus der Flasche hatten gestern nach dem Essen er und Mr. Jackson je ein Glas, heute Morgen war sie fast leer.“
„Aha. Anderes Thema. Was ist eigentlich mit Snyder?“ „Der war den Abend nach Deinem Unfall erst mal ganz normal bei uns und hat Dad im Arbeitszimmer hinter verschlossenen Türen Bericht erstattet. Dann kam am Sonntagmittag die Polizei und suchte ihn wegen rücksichtslosem Fahren und Unfallflucht, aber da waren sowohl der Charger als auch er plötzlich vom Erdboden verschluckt. Das Auto ist inzwischen in der Nähe von Phoenix aufgetaucht und wieder bei uns, gehört ja der Firma. Von Snyder fehlt jede Spur.“ „Vielleicht sollte die Colorado State Police mal an Dads Jagdhütte bei Durango klingeln. Phoenix ist ja fast die halbe Strecke.“ Die Jagdhütte war ein ausgewachsenes Ferienhaus mitten im Wald. „Da habe ich noch gar nicht dran gedacht. Jedenfalls wenn Dad kommt, weißt Du, was Sache ist. Und ich war heute nie in diesem Krankenhaus, sondern direkt nach dem Frühstück bei meiner Freundin, wo ich jetzt wirklich hinfahre.“
Randy behielt Recht. Es war gegen 2 Uhr Nachmittags, als unser Vater in mein Zimmer kam. Vorsichtshalber hatte ich ferngesehen und mein neues Tablet in der Nachttischschublade versteckt. Ich hatte ihn in seinem ganzen Leben noch nicht so verlegen mir gegenüber gesehen. Es waren Details und mein Hintergrundwissen, die verrieten, dass er nicht aus ehrlichen Motiven hier war sondern wieder mal nur zu seinem eigenen Vorteil. Zum Beispiel hatte er mich nur begrüßt, aber von einer für eine echte Versöhnung überfälligen Entschuldigung war immer noch keine Spur zu entdecken. Und bei einem ernsthaften Interesse an meiner Person und nicht nur irgendwelchem Nutzen, den ich ihm bringen könnte, wäre eine Frage nach meinem Befinden auch nicht schlecht gewesen, bevor es in Richtung Hauptthema ging.
„Ich denke, wir sollten uns mal unterhalten.“ „Wozu? Ich werde am Dienstag entlassen und dann bin ich nicht mehr Dein Sohn. So waren Deine Worte und wir waren uns ausnahmsweise einig dabei.“ „Es waren sehr schwere Wochen für uns alle. Da sagt man auch mal was Unüberlegtes. Blut ist doch dicker als Wasser.“ „Wenn es nicht durch die Tränen von vielen Jahren „Warum bist Du nicht wie Dein Bruder?“ verdünnt wird.“ „Ich habe lange nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es unverantwortlich ist, Dich ohne Perspektive auf die Straße zu setzen. Als Eltern haben wir eine Verantwortung.“ Ach auf einmal. „Mach Dir keine Sorgen, ich habe eine Perspektive.“ „Du hast einen Schulabschluss, aber keine weiterführende Ausbildung oder ein Studium und wirst Dir das auch nicht ohne unsere Unterstützung leisten können. Ein Ridley arbeitet nicht als Hilfsarbeiter auf einer Farm im Central Valley. Randolph wird in Stanford Wirtschaft studieren und Du kannst mit ihm da hin und studieren was Du willst. Und wenn es Fahrzeugbau ist und Du nicht bei uns in die Druckerei einsteigst sondern in Sachen Automotive machst, dann ist das völlig okay. Autos sind ja eher Deine Welt. Und wenn Du Dich für Elektroautos interessierst, kannst Du bestimmt Praktika bei Tesla machen und einen Fuß in die Tür bekommen. Unser Vice President of Sales and Marketing in der Druckerei kennt Elon Musk.“ Der hatte ja wirklich Kreide gefressen. Und ganz wichtig, immer Beziehungen ausspielen. Wobei er damit im Prinzip sogar Recht hatte, wenn man im Beruf oder bei ambitionierten Hobbys wie meinem Motorsport erfolgreich sein wollte.
„Vor einer halben Woche war ich noch in Mums Augen ein Monster und eine Strafe Gottes, während Du die Freiheit, tun zu können, was ich will, mit Deinem Erbe verknüpft hast. Du wirst zugeben müssen, dass die Sache jetzt irgendwie faul auf mich wirkt.“ In der Vergangenheit hatten wir uns im Normalfall angebrüllt und ich wurde dann im späteren Verlauf niedergebrüllt oder mit Schlägen zum Schweigen gebracht. Daher hatte mein Vater nicht damit gerechnet, dass ich in der Lage sein könnte, auf einer argumentativen Ebene Widerstand zu leisten. Vermutlich hatte er damit gerechnet, dass ich froh sein würde, wenn er mir die Hand ausstreckte und mir ein Leben in Armut erspart bliebe. Die sachliche Ebene durfte er aber heute nicht verlassen, wenn er seine Ziele nicht gefährden wollte. Er fing an, stark zu schwitzen und schnell zu atmen. Wenn das so weiter ging, konnte er gleich mit Herzinfarkt das Nachbarzimmer beziehen – und gefühlt hatten wir noch nicht mal angefangen.
„Du hast uns vorgeworfen, dass wir Deine eigenen Interessen immer nur unterdrückt haben und Dich nicht individuell gefördert haben. Wir haben darüber nachgedacht und mussten feststellen, dass Du Recht hattest. Das wird sich jetzt aber alles ändern.“ „Auch mit dem Motorsport?“ „Ja. Ich kaufe Dir auch den Mitsubishi, den Du immer haben wolltest. Wenn Du Mitte der Woche hier raus kommst, steht er schon in der Garage.“ „Nein, lass mal. Den suche ich mir selbst, am besten schon rennfertig und vielleicht nicht mal mehr straßentauglich ohne Inneneinrichtung, Klimaanlage, Katalysator, Abgasrückführung und den ganzen Plunder. Das erhöht meine Chancen im Rennbetrieb. Ich habe ja meinen Mustang für den Straßenverkehr und der Werkstatt-Van zieht locker einen Anhänger mit dem Auto.“ In dem Moment bekam ich wirklich Angst, ich müsste die Notruftaste drücken. Aber er war schneller als erwartet wieder im Verhandlungsmodus: „Ich dachte, den Mustang wolltest Du gar nicht. Ich hatte Dir ja den Mitsubishi verboten.“
Tja, mal sehen, wie er mir den Mustang jetzt ausgeredet bekam, denn weg war er ja und da es schon ein GT500 gewesen war, konnte er mich auch nicht mit einer Schippe drauf überraschen. „Ach, das war damals. Weil Du mir vorschreiben wolltest, dass ich keinen Japaner haben darf. Inzwischen habe ich gemerkt, dass der Ford im Straßenverkehr viel besser ist. Da macht der V8 viel mehr Vortrieb als die Japaner mit ihren kleinen Turbomotoren. Die sind zwar unglaublich giftig, wenn sie erst mal unterwegs sind, aber im Straßenverkehr eigentlich nicht auf Betriebsdrehzahl zu treiben. Mit meinem Rennwagen bin ich in Downtown San Diego die lahme Ente.“ „Okay, dann behältst Du den Mustang.“ Er bewegte stumm seine Lippen, wohl eine Verwünschung, weil er den Ford morgen teuer zurückzukaufen versuchen musste, wenn er mich für sich gewinnen wollte. Denn wenn ich erfahren würde, dass er schon so sehr mit mir abgeschlossen hatte, dass das Auto verkauft war, wäre ich zu Recht eingeschnappt. Ich war es ja auch, nur offiziell nicht.
„Außerdem möchte ich klar stellen, dass ich mich nicht im Jahr 2013 irgendwelchen gesellschaftlichen Zwängen aus dem vergangenen Jahrhundert unterwerfen werde. Ich bin homosexuell und ich werde es auch bleiben. Das kann man sowieso nicht ändern! Wird Dir Dein Psychiater, den Du mir verordnet hast, gerne bestätigen. Der versteht nämlich sein Handwerk und nicht Deins!“ Er atmete scharf ein. „Auf die Smalltalk-Frage nach einer Freundin mit Nein zu antworten ist die eine Sache. Aber wenn ich dann wieder einen Partner haben sollte, wir bekommen Einladungen mit Partnern und ich soll dabei sein, dann werde ich ihn mitnehmen. Ich denke, dass damit heutzutage auch moderne Geschäftsleute kein Problem haben sollten.“
„Das hat doch alles Randolph verraten.“ Er hatte diesmal seine Stimmbänder nicht unter Kontrolle und ich verstand den geflüsterten Satz, der zu den Lippenbewegungen passte. Ich überhörte es erst mal lieber elegant. „Du musst verstehen, dass das für uns nicht so einfach ist. Gib uns einfach mehr Zeit. Wir werden uns schon an den Gedanken eines Schwiegersohns gewöhnen.“ Okay, wenn das Gewitter naht, Thema wechseln oder zumindest zum Ausgangspunkt zurückkehren.
Dann hatte ich ja noch eine Sache, um ihn in Bedrängnis zu bringen: „Ich finde es toll, dass Ihr den Schritt auf mich zu doch noch gemacht habt. Wie wäre es, wenn wir unsere sich entspannende Beziehung dann in einer Woche mit einem Kurzurlaub vertiefen? Wir könnten nach Colorado in unser Ferienhaus fahren und Weißgänse jagen. Die haben ja schon Saison.“ Das hatte ich extra rausgesucht, denn mit Jagd und Gewehren konnte ich eigentlich nie was anfangen. Wenn es zum in den USA bekannt liberalen Thema von Waffen und Waffenkult kam, war ich eher der Messer- und Schwertertyp, besaß aber keine.
Mein Vater kochte schon wieder innerlich bei dieser Nadelspitze. „Reicht man Dir den kleinen Finger, willst Du die ganze Hand?“ Jetzt hatte er verloren, und zwar die Fassung. Er merkte es auch sofort, aber da war es zu spät. „Ich weiß nicht, was Du meinst. Es war nur eine Frage. Und in der Vergangenheit warst es mehr Du, der Jagdurlaub wollte. Du kommst auf mich zu, da will ich zum Dank nur eine Vater-Sohn-Aktivität anbieten, die Dir Spaß macht.“ „Ich meine ja auch nur… Ich habe leider derzeit ein Bisschen Stress. Ich glaube nicht, dass ich da in den nächsten 2 bis 3 Wochen die Zeit zu finden werde. Danach gerne. Die Weißgänse haben ja fast das ganze Jahr Saison.“
Wenn er so reizbar und nervös war, dann wurde es Zeit für die finale Spitze. Das Thema hatte ich ja schon irgendwie ohne sein Wissen angeschnitten, denn seiner Reaktion nach saß Snyder wirklich in dem Jagdhaus. „Und nachdem Snyder mich so gefährlich verfolgt und über öffentliche Straßen gehetzt hat, dass ich in einen Unfall verwickelt wurde, der mit meinem Ford wahrscheinlich tödlich gewesen wäre, hast Du ihn ja sicherlich mit Deiner Rückbesinnung auf die familiäre Bindung zu mir längst gefeuert?„
Wieder hatte er sich nicht ganz unter Kontrolle. „Man sollte Randolph die Zunge raus…“ Da konnte und wollte ich aber jetzt nicht mehr dran vorbei hören. „Was hast Du gesagt?“ „Snyder konnte ich nicht entlassen, weil der untergetaucht ist und ein Haftbefehl gegen ihn vorliegt. Aber natürlich verspreche ich Dir, der wird gefeuert, wenn er vorbestraft ist.“ Und das wäre er nicht bei seiner Verhaftung sondern nach einer Verurteilung, mit der er nicht rechnete. Wenn ich zurück zu seiner „Zuneigung“, also seinem Geld kam, würde ich kaum gegen Snyder aussagen wollen und dann fehlte der Belastungszeuge.
Jetzt blieb ich aber ungemütlich. Wenn er Randy bedrohte, ging auch bei mir das Signal auf rot. „Was soll Randy mir nicht sagen? Der kommt nachher bestimmt noch bei mir vorbei. Dann kann ich ihn ja mal fragen, ob er mir was mitteilen möchte.“ „Er hat Dir nichts mitzuteilen. Das kannst Du mir glauben.“ „Warum bist Du überhaupt hier?“ „Das habe ich Dir doch gesagt. Du bist Teil unserer Familie. Wir werden uns wohl wieder aneinander gewöhnen müssen, aber wir gehören zusammen. Du bist mein Fleisch und Blut.“ „Ich glaube Dir nicht.“ „Was?“ „Ich glaube Dir nicht, dass Du wegen plötzlicher Familienliebe da bist.“ „Wie kannst Du es wagen, mir das zu unterstellen? Jetzt, wo ich Dir die Hand zur Versöhnung anbiete?“
„Erstens habe ich am Freitag mit Dir abgeschlossen, wie Du auch mit mir. Wenn Du mir auf die Weise sagst, ich bin nicht mehr Dein Sohn, dann bin ich es auch nicht mehr!“ Er sah seine Felle schwimmen, denn er war fest davon überzeugt, dass ich drum betteln würde, wieder in die Familie aufgenommen zu werden, damit er mich vor seinen Karren spannen konnte, weil er das so für seinen Geschäftspartner brauchte. „Und zweitens verhältst Du Dich nicht wie ein Vater sondern wie ein Geschäftsmann in sicherer Position hier. Ein aufrichtiger Vater hätte sich entschuldigt für das, was er mir in der Vergangenheit angetan hat. Und ein Vater hätte sich bei seinem Sohn, den er im Krankenhaus besucht, erkundigt, wie es ihm geht. Du bist gleich zur Sache, wie ein Geschäftsmann eben.“ „Was verstehst Du denn davon? Du hast Dich doch nie für so was interessiert. Nur Randolph hatte diesen Geschäftssinn!“
Nun war er wieder im alten Schema – Randolph der Großartige, Brandon die Niete. „Lass Randy aus dem Spiel! Diese Diskussion ist nur zwischen Dir und mir. Randy hat hiermit nichts zu tun und spielt keine Rolle. Du hast mir die Hand gereicht, aus welchen Beweggründen auch immer. Die kennst nur Du, aber sie erscheinen mir wie Dein ganzes Verhalten zu geschäftlich. Dass Du anders kannst, weiß ich. Denn wenn ich doch mal kurz den Namen einbringe, mit Randy gehst Du anders um, da bist Du der Vatertyp, der Du mir gegenüber nie warst. Wenn Du mir aber geschäftlich kommst, dann kann ich auch so antworten. Ich habe einen Plan gefasst, der nach unserem letzten Gespräch Plan A ist. Er ist hart und lang, aber meine Perspektive. Natürlich wäre es dumm, sich bietende Alternativen nicht zu prüfen. Das hast Du selbst immer gesagt, wenn wir im Leben vor einer Entscheidung standen. Aber Du und ich haben unsere Vater-Sohn-Beziehung am Freitag offiziell beendet. Alles was jetzt kommt und mir von einem Geschäftsmann vorgetragen wird, als der Du hier auftrittst, ist keine Familiensache mehr, es ist ein Deal. Und Geschäftspartner haben ihren Preis. Du willst mich als Geschäftspartner? Was bietest Du mir – und zwar gesichert und schriftlich, nicht nur aus einer Vorteilsnahme dahergesagt? Du glaubst, nur weil Du mir nie was zugetraut hast und ich immer auf Krawall gegen Deine Selbstherrlichkeit gebürstet war, dass ich nicht trotzdem geschäftliche Dinge mitgenommen habe?“ „Ich gebe Dir Selbstherrlichkeit!“ „Das merke ich gerade. Verlass sofort mein Zimmer!“ „Gar nichts verlasse ich!“
Ich drückte den Schwesternknopf, kurz danach kam anstatt einer Schwester Pfleger O‘Reilley, ein gestandener Kerl Mitte 20. „Wie kann ich helfen?“ „Mein Besuch möchte gehen.“ Frostige Tonlage konnte ich auch. „Natürlich. Bitte verlassen Sie das Krankenhaus, Sir!“ „Ich bezahle das alles hier! Ich gehe nirgendwohin!“ „Oh doch, das werden Sie!“ O‘Reilley bugsierte ihn zur Tür. „Ich kündige seine Krankenversicherung! Sofort!“ „Versuchen Sie es doch mal, heute ist schließlich Sonntag. Die bearbeitet das erst morgen Vormittag, dann haben wir morgen Nachmittag ein Fax und 24 Stunden Zeit, die Entlassungspapiere zu schreiben, in denen die Versicherung noch zur Zahlung verpflichtet ist. Dienstagvormittag soll er sowieso raus. Es ändert kein Bisschen, ob Sie das jetzt tun oder nicht.“ „Sie kleine Nummer von Krankenpfleger, was bilden Sie sich ein?“ „Ich bilde mir ein, dass der Patient wünscht, dass Sie das Zimmer verlassen. Ich bilde mir ein, dass das für den Patienten wahrscheinlich auch das Beste ist. Und ich bilde mir ein, hier das Hausrecht ausüben zu dürfen. Gehen Sie, sonst rufe ich den Sicherheitsdienst!“ Dad drehte sich noch einmal zu mir um: „Du wirst noch sehen, was Du davon hast! Du wirst in dieser Stadt nicht mal Müllmann!“ „Überschätz Deinen Einfluss nicht. Aber es ist egal, ich will ja gar kein Müllmann in San Diego werden!“ Damit war er draußen und die Tür zu.
Später kamen noch mal Robbie, Ryan und Dylan. Ich erzählte ihnen ein Bisschen stolz, was ich mir vorgenommen hatte. Sie berichteten mir dann noch, dass die Sache für sie nicht ganz folgenlos gewesen war. Sie hatten eine Anzeige wegen der Lagerung von gefährlichen Gegenständen auf dem Parkstreifen bekommen, aber es gab kein Gerichtsverfahren, weil Ryan und Robbie die 250 $ Verwarnungsgeld zusammengelegt und sofort bezahlt hatten. Das tat mir Leid für sie, aber sie wollten nichts von mir zum Ausgleich annehmen, auch wenn ich ihnen versprach, dass es mir nicht fehlen würde – obwohl es das natürlich würde.
Am Dienstag zu meiner Entlassung kam natürlich Randy. Ich packte meine paar Habseligkeiten in eine Tasche, die er mitgebracht hatte und wir gingen auf den Parkplatz: „Guck mal nicht zu auffällig nach links. Wer ist denn der Aushilfs-Snyder?“ „Wieso?“ „Weil da sein Dodge Charger Dienstwagen steht.“ Randy schielte zur Seite, den Fahrer konnte man aber wegen der verspiegelten Frontscheibe nicht erkennen. „Jones ist jetzt Dads neues Mädchen für alles. Vermutlich also auch sein Detektiv für aufständischen Nachwuchs.“ Spätestens das Summen der Benzinpumpe an dem Charger war der Beweis, dass er nicht hier war, weil seine Mutter im Krankenhaus lag. „Du fährst, aber lass ihn ganz!“ Randy drückte mir den Schlüssel für seinen Dodge Challenger in die Hand. Jones war kein ausgebildeter Fluchtfahrer, da er überhaupt kein Personenschützer war. Da machte ich mir wenig Sorgen, dass wir den nicht irgendwie mit meinem Rennfahrerkönnen loswurden.
Ich entschied mich für den Spurwechseltrick und fuhr auf die Northbound CA-163. Vorausschauendes Fahren war nicht nur im Motorsport wichtig. Jones hatte sich so auffallend unauffällig verhalten, dass wir so oder so auf ihn aufmerksam geworden wären. Ich sorgte erst mal dafür, dass er nicht unmittelbar nach links konnte wegen anderer Fahrzeuge, zwei LKW kamen mir da wie gerufen. Ich hielt den Wagen rechts auf der Expressspur und passte das Tempo an. Dann riss ich schon nach der Trennung durch Linien das Lenkrad nach links und schoss knapp vor der Stelle, wo der Grünstreifen anfing, vor dem vorderen LKW rüber auf die Parkway Lanes. Jones hatte keine Chance. Er hätte bremsen und einen drängelnden Pickup im Kofferraum haben können. Er hätte auf den Trennkeil fahren können, aber dann entweder die LKW auf der rechten Parkway Lane gerammt oder die Leitplanke zwischen den beiden Spuren. Er entschied sich für das vernünftigste – aufgeben und auf die Express Lane fahren.
„Den sind wir erst mal los. Der muss jetzt bis Ted Williams fahren, bevor er auf die Parkway Lanes und an eine Abfahrt kommt. 8 Meilen rauf, 8 Meilen runter, in einer Viertelstunde können wir weit weg sein.“ „Wir sollten am Flughafen oder Bahnhof sein.“ „Das würde bedeuten, dass ich wüsste, wo ich am Ende bleibe. Ich habe Vorstellungen, aber keine Vorstellungsgespräche. Ein Auto wäre vielleicht besser. Ich muss ja, wenn ich irgendwo angekommen bin auch vor Ort mobil sein.“ „Was Tolles wird es dann nicht werden, aber von mir aus. Melden wir auf mich an und wenn Du eine Adresse hast, schicke ich Dir die Papiere und Du kannst es auf Dich ummelden.“ „Das macht mir nichts. Hauptsache kein Ford.“ „Warum das nicht?“ „Ich habe einen Ford von ihm gestellt bekommen. Die Marke ist für mich erledigt.“
Wählerisch konnte ich natürlich nicht sein. Mein neues Auto war dann ziemlich alt und schwach motorisiert. Es war ein 1987er Oldsmobile Cutlass Ciera Station Wagon in rentnertypischem cremeweiß, immerhin aber mit für das Alter sehr geringer Laufleistung, peinlichst genau eingehaltenen Inspektionsintervallen und motorisiert mit dem berühmt-berüchtigten General Motors 4-Tech Reihenvierzylinder, bei Autofans bekannt als „Iron Duke“. Berühmt dafür, dass man ihn mit ein Bisschen Pflege nicht kaputt bekam und berüchtigt dafür, dass ein amerikanischer Mittelklasse-Kombi wie dieser mit diesem 92 PS-Motörchen und der damals üblichen Dreigangautomatik mit Overdrive so seine Probleme hatte, die Erdrotation zu überwinden. Randy kümmerte sich darum, dass der Wagen auf ihn zugelassen wurde, was schnell und hier in diesem Gewerbegebiet voller Autohändler direkt vor Ort ging.
Dann fuhren wir noch ums Eck zu Wendy’s auf ein gemeinsames Burger-Menü. Randy gab mir am Tisch einen Beutel: „Da drin sind ein Prepaid-Handy, ein paar Drogerieartikel und 2000 Dollar. Ich hoffe, Du kommst damit aus, bis Du selbst was verdienst. Wenn Du doch mehr Geld brauchst, dann sag mir Bescheid und ich überweise Dir welches auf Dein Konto oder wenn Du kein Konto hast, schicke ich Dir welches mit Western Union. Ich vertraue Dir, dass Du Dich nicht auf diesem Versprechen ausruhst sondern schnell versuchst auf eigenen Füßen zu stehen.“ Für diesen Anlass wurde der Western Union Cash Transfer mal irgendwann erfunden, bevor Gebrauchtwagenhändler weltweit angefangen hatten, damit gutgläubige Autoverkäufer abzuzocken.
Wir gingen zu unseren Autos und sahen uns lange in die Augen, die bei uns beiden immer glänzender wurden. „Du warst immer für mich da. Meine wichtigste Stütze im Leben. Ich weiß nicht, wie ich Dir dafür danken soll.“ „Indem Du was aus diesem Neustart machst, den ich Dir ermögliche. Führe das Leben, das Du Dir wünschst, werde glücklich und erfülle Dir Deinen Traum. Ich werde Dich vermissen, Bruderherz.“ „Ich Dich auch.“
Dann stieg ich in meinen Straßenkreuzer und Randy in seinen Sportflitzer. An der nächsten Kreuzung trennten sich unsere Wege, er fuhr nach Süden in Richtung Stadtzentrum und ich in Richtung Norden. An einem Einkaufszentrum machte ich noch Halt und kaufte mir eine dieser Klappmatratzen, die zusammengeklappt einen Sitzwürfel oder einen Fußhocker für den Sessel ergaben. Denn wenn ich sparen wollte und schon mal einen Kombi hatte, konnte ich auch darin campen. Außerdem fanden ein Schlafsack, ein Campingkocher mit Topf und Pfanne und ein paar Getränke, Konserven und andere Vorräte ihren Weg in das Auto. Dann war ich wirklich unterwegs. Weil es nur eine Stunde und 90 Meilen Unterschied waren, entschied ich mich für die landschaftlich schönere Strecke.
Als hinter San Bernardino die ersten Berge kamen, konnte ich schon mal für die Zukunft üben. Jedenfalls reihte ich mich mit meiner selbst fahrenden Verkehrsinsel brav mit den zukünftigen Kollegen auf der Spur für die langsamen Fahrzeuge ein.
Es ging schon langsam in Richtung goldene Stunde, als ich meinen Heimatstaat das letzte Mal als offizieller Einwohner verließ. Irgendwann würde ich wiederkommen. Aber entweder als Besucher oder um hier meiner Arbeit nachzugehen. Und mit gemeldeter Adresse in einem anderen Staat.
Das Licht reichte aber noch zum Sightseeing und so fuhr ich erst den Hoover Dam an und schaute mir das beeindruckende Bauwerk an.
Als die Sonne dann so tief stand, dass es wohl bald zu dunkel wurde, fuhr ich noch ein paar Meilen zum Campingplatz Boulder Beach. Der Ranger an der Einfahrt zum Nationalpark kam aus seinem Häuschen: „Guten Abend.“ „Guten Abend. Einmal Trunk Camping.“ „Okay, macht 10 Dollar für den Nationalpark und 20 für den Campingplatz.“ Ich gab ihm das Geld, hatte aber nicht mit so viel gerechnet. Zumal es nicht mal Duschen gab.
Also fuhr ich auf den Campingplatz, legte die Rückbank um, klappte meine Matratze auf und legte sie in den Kofferraum. Dann baute ich den Gaskocher auf und machte mir eine Dose Chili con Carne heiß. Nach dem Essen machte ich den Topf sauber und dann verkroch ich mich in den Schlafsack.
Am nächsten Morgen war ich wenigstens schnell wach. Während auf dem Gaskocher das Teewasser heiß wurde, wusch ich mich mit umso kälterem Wasser. Zum Frühstück gab es dann einen Fertig-Burrito und Tee. Noch mal einen kleinen Abwasch und alles zusammengepackt, dann war ich auch wieder unterwegs.
Ab heute und die kommenden Tage hatte ich mir vorgenommen, einfach nur zu fahren, so weit ich kam. Und das war an diesem Mittwoch nicht so weit wie ich gedacht hatte. Ein Truck durfte 11 Stunden am Tag fahren, das hatte ich mir auch mal ins Auge gefasst. Um die Mittagszeit legte ich bei Salinas in Utah eine Pause ein. Aber nach nur etwas mehr als 8 Stunden Fahrzeit insgesamt an diesem Tag merkte ich, dass die Konzentration nachließ. Ich steuerte also in Colorado bei dem Städtchen mit dem wehrhaften Namen Rifle einen Parkplatz mit Aussichtspunkt an. Das bedeutete noch mal eine Viertelstunde den Berg rauf zu fahren, aber dafür wurde ich mit Aussicht belohnt. Außerdem gab es hier Duschen und Toiletten als Tageskarte für fünf Dollar und ein Schild mit „Camping allowed“ am ansonsten kostenlosen Parkplatz – was wollte ich mehr? Am nächsten Morgen wusste ich, was ich mehr wollte und ich bekam es. Ich drehte mich auf der Matratze um, so dass ich aus dem Heckfenster schauen konnte. Bei so einer Aussicht könnte ich immer aufwachen, das übertraf noch mal Lake Mead. Allerdings war mir auch klar, dass es das mit spektakulären Ausblicken dann erst mal gewesen war.

Am Donnerstag schaffte ich auch dann 11 Stunden Fahrzeit und kam mit einer Mittagspause bei McDonald’s in Goodland (KS) bis zu einem Campingplatz mit dem viel sagenden Namen Woodridge Primitive Camping bei Topeka (KS). Es war ein reiner Zeltplatz, aber Trunk Camping war auch möglich. Die sanitären Einrichtungen beschränkten sich auf eine Zapfstelle für Trinkwasser und ein Plumpsklo.
Bei meiner nicht vorhandenen Fahrzeitplanung hatte ich dann Glück, denn in Kansas City musste ich Freitagmorgen nur über die Südtangente. Da war der Verkehr noch so weit flüssig. Aber wie ein Trucker sollte ich auch bei einer solchen Überland-Reise drauf achten, dass ich Großstädte besser nicht im Berufsverkehr erwischte. Durchs Zentrum hätte ich jetzt gut Zeit verloren.
Zur Mittagspause machte ich dann eine Meile Umweg hinter St. Louis und steuerte einen Truckstop an. Nach der mehr oder weniger sanitäranlagenlosen Nacht war ich vor allem scharf auf die Dusche. Bei den Preisen im Truckerrestaurant wich ich lieber auf die andere Straßenseite aus. Es war nicht teuer und die Portionen auch groß, aber es kostete dann doch eine Stange mehr als das Fastfood bei McDonalds und den anderen Ketten. Ich entschied mich mal zur Abwechslung für Pizza Hut und begann zu begreifen, warum arme Leute in den USA meistens dick waren. Bei diesen Ketten galt wohl „höchste Kalorien bei niedrigsten Preisen“ oder so.
Und so langsam wurde mir klar, dass mein Timing schlecht war. Ich würde am Samstagmittag an meinem Ziel ankommen und damit genau zu dem Zeitpunkt, wo ich wohl keine Jobs finden würde. Immerhin konnte ich so mal nach einer Wohnung schauen. Für heute war aber auf einem wieder gut ausgestatteten Campingplatz bei Zanesville (OH) Schluss.
Am Samstag machte ich mir also Frühstück, ging duschen und fuhr dann weiter, erst einmal vom Campingplatz zurück zum Freeway. Hier sah die Landschaft so anders und für einen Kalifornier ungewohnt grün aus. Es erinnerte mich ein Bisschen an Deutschland.

Gegen 10:20 Uhr passierte ich die letzte von insgesamt 9 Staatsgrenzen auf meiner 4 Tage langen Reise.
South Midway Travel Plaza, mein letzter Mittagsstop auf einem Rastplatz, war einer im europäischen Stil. Auch hier merkte man, dass die Bindung über den Atlantik vorhanden war. Als die ersten Autobahnen in den USA entstanden, da hatte man hier nicht den späteren Weg des mittleren Westens und der Westküste mit ihren Truckstops gewählt, das seinerseits in den 90ern den Weg zurück nach Europa als Autohöfe genommen hatte. Hier gab es Raststätten auf jeder Seite der Autobahn, parallel zur Fahrbahn wie sie in Europa schon in den 30er Jahren gebaut worden waren.
Wahrscheinlich landete ich erst einmal ein oder zwei Nächte in einem billigen Hotel wie Holiday Inn oder so, aber ich versuchte mal mein Glück mit einigen Wohnungsanzeigen. Die meisten legten sofort wieder auf, wenn ich erzählte, dass ich von Kalifornien aus unterwegs war und mir erst noch einen Job suchen wollte. Sie suchten wohl doch eher Studenten aus gutem Hause, die zahlungskräftige Eltern im Hintergrund hatten. Das galt für kleine Wohnungen für einen alleine genauso wie für WG-Zimmer. Noch nicht am Ziel und schon die ersten Schwierigkeiten, die man so als 18-Jähriger ohne Einkommen und ohne Rückhalt von den Eltern bekommen konnte.
