Kapitel 3 – Die neue Heimat

Nachdem ich mit Essen und Telefonieren schon 80 Minuten auf dem Rastplatz zugebracht hatte, passierte es doch noch: „Hi, Tristan hier.“ Ein ziemlich gequälter V8 störte auf seiner Seite als Hintergrundgeräusch die Unterhaltung. „Ich bin Brandon. Hi. Du suchst einen Mitbewohner ab sofort? Das wäre genau das, was ich brauche.“ „Ja. Wo bist Du gerade?“ „Auf dem Weg nach Philadelphia, halbe Strecke zwischen Pittsburgh und Harrisburg auf einem Rastplatz.“ „Oh, fährst Du mal eben direkt hin hin, aber hast noch keine Wohnung?“ „Sozusagen. Und fairerweise muss ich sagen, dass ich auch noch keine Arbeit habe. Das fragst Du ja sowieso gleich.“ „Von allen merkwürdigen Anrufern, die ich in den drei Tagen, seit die Anzeige online ist, hatte, bist Du mit Abstand der verrückteste!“ Na das war’s dann wohl mal wieder…
„Jemanden, der so was macht, muss ich kennen lernen! Mach Dich auf den Weg, wenn Du die Anfrage ernst meinst.“ Komischer Kauz, aber immerhin ein Hoffnungsschimmer. „Ich rufe nur an, wenn ich was ernst meine.“ „Okay, die genaue Adresse ist 759 South Avondale Street. Und ich weiß nicht, was Du für einen Sportwagen fährst. Wir sind mit unserem mit ein Bisschen Hausrat völlig überforderten Ford E Boxvan selbst gerade erst 40 Meilen vor Harrisburg. Wenn Du so ein Ding mit Reklame für Enterprise Autovermietung und in Kentucky zugelassen siehst, kannst Du freundlich hupen und Gas wegnehmen. Sonst wartest Du nur auf uns.“ Tristan schien ein witziger Typ zu sein. „Ich bin froh, wenn der Abstand nicht größer wird.“

Ein Fahrzeug, auf das diese Beschreibung passte, holte ich dank meiner eigenen Schmalspurmotorisierung erst auf dem Schuykill Expressway ein und beschloss dann, die letzten Meilen dahinter zu bleiben. Sie parkten vor dem Haus ein, ein Mann wohl Ende 40 steig auf der Fahrerseite aus, auf der anderen Seite zwei Jungen. Der eine in meinem Alter und der andere ungefähr 12. Ich parkte direkt dahinter ein und stieg auch aus. Der ältere Junge sprach mich an: „Bist Du Brandon?“ „Ja. Hallo.“ „Ich bin Tristan.“ Dann sah er mein Nummernschild: „Kalifornien? In dem Großvaterschaukelstuhl? Nicht Dein Ernst!“Doch. Dienstagmittag in San Diego losgefahren.“ „Hast Du mal von diesen Dingern gehört, die man Flugzeug nennt?“ „Ja, warum ich es nicht genommen habe, ist aber eine verdammt lange Geschichte.“
Der Mann stellte sich als Jason vor. Tristan war 18 Jahre alt wie ich und sie stammten aus einem verschlafenen Kaff im Süden von Kentucky. Tristan wollte in Philadelphia Ingenieurwesen studieren. Der kleinere Junge war Tristans Bruder Douglas. Die Mutter und der jüngste Bruder waren zu Hause geblieben. Wir gingen in das bis auf einen Gasherd leere Haus. Nun musste ich ihnen doch wenigstens mal erzählen, dass mein Vater mich nach Meinungsverschiedenheiten achtkantig rausgeschmissen hatte und ich damit gar nicht so unglücklich war wie man denken könnte, damit sie verstanden, warum ich auf Glück quer über den Kontinent fuhr.

Das Haus war eins der berüchtigten Philadelphia-Reihenhäuser, die mit Flur und Treppe keine 5 Meter breit waren. Es hatte noch einen typisch britischen Zuschnitt, der Baustil war aber amerikanisiert. Nach dem Eingangsbereich kam man über einen Flur in das Wohnzimmer, ein langer und schmaler Schlauch. An das Ende des Flurs war ein Gäste-WC in die Ecke gequetscht, daneben war eine Außentür über eine gemeinsame Treppe mit dem Nachbarhaus auf den Hinterhof, wo man das Auto abstellen konnte. Ganz nach hinten geradeaus war die Küche. Eine Treppe führte in den Keller mit zwei Abstellräumen und der Heizung. Eine nach oben, Dort gab es zwei Schlafzimmer und in der Mitte ein Badezimmer.

„Ich find Dich irgendwie lässig drauf. Wie würdest Du denn die erste Miete zahlen, wenn Du keinen Job und keine Unterstützung von zu Hause hast?“ „Bar.“ „Okay, von mir aus kannst Du bleiben, so lange Du die Kohle hast. Ich nehme das hintere Schlafzimmer oben. Willst Du das eigentliche Wohnzimmer oder das vordere Schlafzimmer oben?“ In das letzte Zimmer sollte dann noch jemand kommen, so dass eine Dreier-WG entstand und sich die in den USA üblicherweise auf die Woche umgerechnete Miete auf 80 $ pro Person reduzierte. „Dann nehme ich vorne oben.“ Ich half Tristan und seiner Familie beim Ausräumen seiner Möbel.

Über das Wochenende stellten sich noch einige potenzielle Mitbewohner vor. Wir entschieden uns als letzten für Kyle, wie wir auch 18 Jahre alt. Er fing bei einem Sportgeschäft eine Ausbildung an.

In den kommenden Tagen kaufte ich mir ein paar Möbel für mein Zimmer. Wie gut, dass ich einen Kombi gekauft hatte. Als Kyle einzog, war ich natürlich wieder als Möbelträger gebucht. Außerdem durchsuchte ich den Stellenmarkt. Und nach anderthalb Wochen fand ich dann eine Stelle als Lagerarbeiter bei einer Groß- und Einzelhandelskette im Zentrallager.
Die Firma funktionierte nach meinem Wissen so wie in Deutschland die Metro-Gruppe. Christians Vater hatte dort als Unternehmer einen Einkaufsausweis gehabt und konnte dann bei Metro „für seine Firma“ einkaufen gehen. Am Ende interessierte es aber keinen Menschen, ob die eingekauften Sachen für eine Versicherungsagentur überhaupt Sinn machten. Weil die Sachen so billig waren, kauften sie dort für den Privatgebrauch Reinigungsmittel, Konserven und alles Mögliche ein. Hier war es genauso. Man brauchte für die Verkaufsmärkte einen Ausweis und die Sachen waren billig und in großen Verpackungen.

Als ich für den ersten Arbeitstag den direkten Weg dorthin suchte, war ich überrascht, dass Google Maps mir neben zwei Routen mit dem Auto mitten in der Nacht eine nur 10 Minuten langsamere Verbindung per Straßenbahn und Bus vorschlug. San Diego hatte zwar auch eine Straßenbahn gehabt, aber die hatte ich nie benutzt. Vielleicht sollte ich, anstatt es von Randy zu übernehmen, das Auto lieber verkaufen um Kosten zu sparen, denn die Monatskarte kostete nur 96 $. Selbst wenn ich nur zur Arbeit fuhr, war das nicht teurer als mit dem Auto, bei jeder privaten Fahrt wurde es billiger. Nun war es aber erst einmal da, also fuhr ich auch damit zur Arbeit.

In den ersten Tagen wurde ich angelernt und machte den Gabelstapler-Führerschein. Meine Aufgabe bestand darin, LKW von Lieferanten auszuladen und die Waren in der Lagerhalle abzustellen, nach Bestellung aus den ebenfalls Warehouse genannten Verkaufsmärkten Waren im Versandbereich nach LKW sortiert zusammenzustellen und die Sattelauflieger zu beladen.

Recht schnell war ich aber erstaunt, dass hier nicht nur unsere eigenen Auflieger rein kamen. Dass Lieferanten wie Dole eigene Trailer schickten war klar, aber da kamen welche von anderen Einzelhandelsunternehmen. Und die meisten Waren auf den Paletten im Lagerhaus waren auch gar nicht von uns sondern Hausmarken anderer Märkte. Die großen Handelsketten wie Walmart, Best Buy und 7-Eleven waren Dauergäste.
Mein Vorarbeiter erklärte es mir in einer Pause: „Mit unseren 700 Märkten Weltweit könnten wir kaum der zweitumsatzstärkste Handelskonzern der Welt sein. So viele Märkte hat Walmart gefühlt nur in Pennsylvania, tatsächlich haben die weltweit über 11000. Inzwischen ist das Verkaufen an Mitglieder der Großhandelsmärkte nur noch das zweite Standbein. Den meisten Umsatz machen wir der Belieferung anderer Ketten. Und so kommt es, dass Walmart mal mit deren Verbrauchermärkten unser Kunde ist und wir das nächste Mal mit denen im Wettbewerb ihrer Großhandelssparte Sam’s Club stehen. Da spricht nur in der Branche keiner drüber und Du tust das bitte auch nicht!“

Das Auto hatte ich wirklich, kaum dass Randy mir die Papiere geschickt hatte, verkauft und fuhr nun hauptsächlich mit Straßenbahn, U-Bahn und Bus. In Philadelphia ging das ganz gut, wobei man die anderen Städte der USA, in denen man auch kein Auto brauchte, an einer Hand abzählen konnte: New York, Boston, Chicago, San Francisco und neuerdings vielleicht noch Denver. Sogar Städte wie Los Angeles, die auf den ersten Blick ein großes Netz an Vorortbahnen, U-Bahnen und Bussen hatten, waren mit dem öffentlichen Nahverkehr in der Praxis eine Katastrophe. Tristan flog, wenn er seine Eltern besuchte, nach Lexington und wurde die restlichen 80 Meilen abgeholt. Kyle musste nach Miami sowieso fliegen und vermisste kein Auto.

Unsere WG funktionierte gut – Außenstehende würden sagen, dass sich da die drei richtigen Chaoten gefunden hatten. Die Küche war Gemeinschaftsraum, in der sich das Gemeinschaftsleben abspielte. Die drei Zimmer waren unsere Rückzugsräume, wobei wir uns auch öfter mal gegenseitig im Zimmer besuchten.

Tristan war unverkennbarer Sohn eines Rednecks. Ich bewunderte ihn um seine Sammlung von Schwertern und Kampfmessern und seine Schattenkampf-Übungen damit. Das erste mittelalterliche Drachenkopfmesser hatte er angeblich mit 3 Jahren bekommen, willkommen in den Konföderierten Staaten von Amerika, wo zwar nicht Pennsylvania, aber sein Herkunftsstaat Kentucky zu gehört hatte. Und kaum hatte ich ihn zu laut bewundert, war ich Besitzer eines KA-BAR Mk.2 Kampfmessers: “Kriegt man sowieso an jeder Straßenecke. So lange direkt am Griff weder USMC, ARMY oder NAVY noch Schleifspuren auf der Klinge zu sehen sind, sondern gar nichts oder wie bei dem hier 1095 Cro-Van, wurde es legal für den Privatmarkt hergestellt und fehlt auch in keiner Bestandsliste beim Militär!“ und eines japanischen Kunai: “Hatte ich sowieso zwei von!“ zusammen mit dem gut gemeinten Ratschlag: „Zum Schattenkampf und Kunststücke üben würde ich die Klingen erst mal dick mit Klebeband umwickeln – sonst musst Du Dich hinterher nur dick mit Heftpflaster umwickeln!“
Seine Redneck-Abstammung merkte man auch, wenn es an die gefürchteten Redneck-Basteleien ging. Da wurde schon mal, weil wir keinen Handmixer hatten, aber der Pfirsichkuchen in der Bäckerei vorhin so lecker aussah, die Sahne mit einem in den Akkubohrer eingespannten Schneebesen geschlagen.
Wo in der WG keine Einigkeit herrschte, aber zum Glück jeder seinen Fernseher hatte, war Sport. Tristan war Basketball-Fan und speziell der Charlotte Hornets, da in seinem Heimatstaat Kentucky kein Team in diesem Sport in einer nennenswerten Liga spielte.

Apropos Küchengeräte, unser zweiter Mitbewohner Kyle hatte von Tristan und mir Kochverbot bekommen, nachdem er es geschafft hatte, einen Kochtopf, das Abendessen und die Atemluft im ganzen Haus für 2 Tage zu ruinieren, indem er Kochbeutelreis hatte trocken kochen lassen. Das einzigartige Materialgefüge aus Edelstahl-Topfboden, Kunststoffkochbeutel und Reiskörnern wäre ein interessantes Studienobjekt für Tristans Werkstoffkunde-Labor.
Kyle stammte wie ich aus besserem Hause, war aber den Ansprüchen nicht gewachsen. Der Unterschied war, dass es bei ihm nicht zum Bruch mit seinen Eltern, beide Ärzte, gekommen war. Er hatte einfach nur beschlossen, dass er Miami verlassen sollte und seinen Neuanfang vom Schutzschirm der Eltern entfernt wagen sollte. Sie waren aber immer bereit, ihn zu unterstützen, sobald es erforderlich wurde.
Wo er Miami nicht verlassen hatte, war beim Baseball. Auch er war seinem alten Team treu geblieben und Fan der Miami Marlins.

Ich war berühmt für meine lose Klappe, unter der vor allem Kyle zu leiden hatte. Das lag aber auch daran, dass er es meistens herausforderte. So kam es mal an einem Sonntagmorgen vor, dass Tristan und ich in der Küche ordentlich beim Frühstück saßen und nichts Böses ahnend Toastbrot aßen und Tee tranken. Kyle hatte eine lange Nacht gehabt und war entweder noch nicht wach genug es zu merken oder noch besoffen genug, dass es ihm egal war – jedenfalls kam er in die Küche und startete die Kaffeemaschine, während er nichts außer einem Tanga mit Leopardenmuster trug.
Tristan war von diesem Auftritt nicht begeistert. „Was für Aussichten am Sonntagmorgen.“ „Mir gefallen sie.“ „Das war ja klar, dass wieder so was kommt.“ „Was denn?“ Die Person des Anstoßes spielte mal wieder provokativ ahnungslos. „Kyle, ich gebe Dir jetzt einen freundschaftlichen Hinweis und werde Dir alle Dinge aufzählen, die mit Leopardenfell gut aussehen. Erstens: ein Leopard!“ Künstlerpause, Tristan kicherte, Kyle verstand es nicht. „Punkt!“ „Soll ich den Tanga lieber ausziehen?“ „NEIN!!!“ „JA!!!“ Kyle zog ihn dann doch lieber in seinem Zimmer aus und kam halbwegs ordentlich mit einem Jogginganzug bekleidet zurück.

Da ich zu Hause kein professionelles Team in meinem Sport hatte, konnte ich es mir erlauben, in der neuen Heimat zum Fan des örtlichen Eishockey-Teams zu werden. Leider waren die Eintrittskarten alles andere als ein Schnäppchen. Sonst wäre ich bestimmt öfter zu den Spielen der Flyers gegangen.

Der Sommer 2013 verging und im Herbst beschloss ich, dass mein Leben nicht alleine aus Kommissionieren und Laden von LKW bestehen konnte. Wenn ich mein Ziel des Owner Operator Trucking verfolgen wollte, brauchte ich auch Theorie. Also schrieb ich mich an einer so genannten Vocational University zu einem Bachelor-Studium in Logistik ein. Diese Vocational Schools für Berufsausbildungen oder Vocational Universities für Studiengänge waren der zweite Bildungsweg und der Stundenplan erlaubte es, dass man einen Beruf ausüben konnte und die Vorlesungen entweder abends besuchte oder wie bei mir als Schichtarbeiter online abrufen konnte.

Im November gab es eine Premiere, die mir vor Augen führte, dass ich einerseits alleine auf der anderen Seite des Kontinents war, andererseits aber auch mit zwei guten Freunden zusammen wohnte. Es war mein 19. Geburtstag und der erste ohne meinen Zwillingsbruder. Wir konnten uns nur per Skype Videoanruf gratulieren. Aber dafür kam ich abends nach Hause, wo Kyle die Küche partymäßig dekoriert hatte und Tristan hatte Chicken and Dumplings, die Kentucky-Version von Hühnerklein mit Klößen und als Leckerchen zum Nachtisch Bourbon Balls gemacht – wenn man aus Kentucky kam, dann schien man auch unter 21 schon Whiskey irgendwo am Gesetz vorbei aufzutreiben zu können. Als sie mich mit Geburtstagsständchen empfingen, war schnell vergessen, dass mein Bruder so weit weg war.

Und als eine Woche später Thanksgiving war, bei dem traditionell die Familie besucht wurde, dachte ich zuerst, ich müsste alleine sein. Tristan und Kyle waren natürlich zu ihren Verwandten gefahren. Von Randy kam die Frage per Skype:

Na? Was machst Du am langen Wochenende?
Donnerstag muss ich arbeiten, die Lieferungen für Black Friday müssen raus.
Und danach?
Mal sehen. Am Freitag und Samstag hab ich frei. Samstag ist Eishockey. Sonntag Spätschicht.
Hm. Deine Mitbewohner?
Bei ihren Familien, wie man das Thanksgiving halt normalerweise macht.

Am Donnerstag kam dann eine Nachricht von Randy.
„Musst Du noch lange arbeiten?“
„Nein. Noch 20 Minuten bis Feierabend und dann 45 Minuten nach Hause.“
„Wie kommst Du eigentlich immer nach Hause ohne Auto?“
Das war für ihn natürlich unvorstellbar. Er war sein Leben lang mit einem Auto zur Schule gebracht worden und ab dem 16. Geburtstag selber hin gefahren. Er hatte bevor ich San Diego verlassen hatte außerhalb von München beim Schüleraustausch noch kein öffentliches Verkehrsmittel von innen gesehen. Und danach bestimmt auch nie wieder.
„Mit der U-Bahn zur 30th Street und von da mit der Straßenbahn nach Hause.“

Ich dachte mir gar nichts dabei und hatte auch gar nicht gemerkt, dass ich gleich mal meine Umsteigestation in den Satz eingebaut hatte. Als ich dann an der 30th Street die Treppe zur Straßenbahn runter ging, die hier auch im Tunnel fuhr, traute ich meinen Augen nicht. Am nächsten Stützpfeiler lehnte Randy und wartete auf mich. Ich lief auf ihn zu und umarmte ihn stürmisch. „Was machst Du denn hier?“ „Ich besuche meinen Bruder. Thanksgiving besucht man doch seine Verwandtschaft, hat mir vor ein paar Tagen jemand geschrieben.“ Ich war so überwältigt, dass ich nicht auf den Bahnverkehr achtete und wir fast noch länger hätten in der Tunnelstation bleiben müssen: „Oh, schnell! Die Linie 13 ist unsere!“

„Und sie haben Dich ernsthaft über Thanksgiving hier her fahren lassen?“War nicht einfach. Dad wollte mir erzählen, dass es keine Verwandtschaft zu besuchen gäbe. Die würden alle nach San Diego kommen. – Auch mein Bruder? – Du hast keinen Bruder. Und dann habe ich ihm gesagt, dass ich einen habe und den besuchen werde. Wenn er keine zwei Söhne hätte müsste wohl ein Irrtum vorliegen und ich wäre auch nicht seiner, denn ich bin mir sicher, einen Zwillingsbruder zu haben. Mum ist gleich gegangen, als der Streit aufkochte.“ „Oh, oh! Mit den eigenen Waffen geschlagen? Wie kannst Du Dir das denn leisten?“
„Er hat dann zähneknirschend zugestimmt. Ich wollte in den Sommerferien schon mal hier rüber kommen, da war es noch seine Drohung, wenn ich den Kontakt zu Dir nicht abbrechen würde, könnte ich gleich auf Dauer bei Dir bleiben und fliege auch zu Hause raus. Inzwischen brauche ich ihn aber nicht mehr. Er weiß es nur noch nicht.“
„Wieso das?“ „Ich habe mich von Anfang an dazu entschlossen, Praktika nicht in Dads Firma zu machen. Das habe ich ihm so verkauft, dass ich dann andere Unternehmensstrategien kennen lernen kann. Er hat zugestimmt. Inzwischen steht fest, dass ich nicht zurückkommen werde. Ich habe im Sommer erst mal nur einen Ferienjob bei Kyocera in der Amerikazentrale gemacht. In diesem Quarter mache ich da ein Praktikum und die haben mir schon angeboten, mich als Werksstudent einzustellen, ein ziemlich sicherer Hafen, sollte ich ihn brauchen. Rechne mal durch. Ich hoffe trotz allem, dass Dad älter wird als unser Großvater. Dann laufe ich, wenn der erst kurz vor 70 zurücktritt, noch 20 bis 25 Jahre als Kronprinz in Wartestellung durch die Firma. Und jedes Mal wenn wir anderer Meinung sind, droht er damit, mich raus zu werfen und mir den Geldhahn zuzudrehen? Bis ich 40 bin? Nie ein anderes Unternehmen gesehen und damit auf dem Arbeitsmarkt in der Führungsebene unbrauchbar? Habe ich keine Lust drauf!“ Hätte ich an seiner Stelle auch nicht. „Und was macht Deine Unternehmensgründung?“ „Ich bastele an einem Bachelor of Science in Logistikmanagement an der Abendschule. Leider reicht das Lagerarbeitergehalt nicht, um gleichzeitig Kapital aufzubauen.“

Damit ließen wir Arbeit und Eltern für den Rest der gemeinsamen Zeit gut sein. Es wurde ein schönes Wochenende. Wir besuchten ein paar Sehenswürdigkeiten in Philadelphia, gingen gut essen und am Samstag nahm ich Randy mit zum Eishockey.

Sonntags musste ich Spätschicht arbeiten. Wir fuhren mit einem Taxi zum Flughafen. Dort lernte Randy sogar noch Tristan kennen, der gerade aus dem Terminal kam, als wir rein gingen. Ich verabschiedete mich von Randy, fuhr mit Tristan zusammen in der SEPTA Regional Rail bis zur 30th Street Station, wo er die Straßenbahn nach Hause nahm und ich die Market Frankfort Line zur Arbeit.

Weihnachten war ich dann leider wirklich alleine, belohnte mich aber selbst mit einem leckeren Festmahl. Weil für einen alleine ein Truthahn etwas zu viel war, stopfte ich die Füllung entsprechend mit verkleinerten Mengen in ein Hähnchen und hatte zwei Tage gut zu essen. Außerdem kam Tristan schon am Wochenende wieder, weil er nicht wollte, dass ich alleine Neujahr feiern musste.

Und so entwickelte sich mein neues Leben. Familie wurde teilweise durch meine WG-Partner ersetzt, besonders Tristan erwies sich als sehr guter Freund. Wir erzählten uns schon mal gegenseitig unsere Sorgen, wenn es zu viel wurde und gaben uns gegenseitig Halt. Randy hielt weiter zu mir und kam gelegentlich mal rüber geflogen, um mich zu besuchen. Ich machte meine ersten Prüfungen am College und hatte gute Noten. Und dann war da im Juni dieser Aushang am schwarzen Brett in der Costco-Kantine. Die interne Stellenausschreibung war für LKW-Fahrer im Nah- und Fernverkehr. Führerschein zahlte die Firma. Ich machte also eine Bewerbung fertig und schickte sie in die Personalabteilung. Nach ein paar Tagen meldete sich mein Vorarbeiter in der Frühschicht bei mir, ich sollte mal in die Personalabteilung kommen.

Dort erwarteten mich Mr. Blackman und Ms. Edwards. „Brandon Ridley. Du hast Dich also als LKW-Fahrer beworben.“ „Ja.“ „Du bist jetzt 19 Jahre. Das bedeutet, dass Du erst mal Nahverkehr machen wirst, weil Du erst mit 21 Pennsylvania verlassen darfst.“ „Ich weiß.“ „Nahverkehr ist aber auch wichtig. Und es ist kein einfacherer Job als Fernverkehr. Du bist Dir schon darüber im Klaren, was das bedeutet? Du wirst längere Arbeitstage haben als im Lager. Im Lager arbeitest Du mit Pausen je nach Saison zwischen 9 und 12 Stunden. Als Fahrer wirst Du mit Pausen immer zwischen 11 und 13 Stunden am Tag arbeiten.“ „Ja. Ich weiß.“ Die Bestimmungen hatte ich mir durchgelesen. Sie fragten mich noch andere Dinge, erklärten mir Sachen und ließen mich Fragen stellen. Am Schluss kam dann noch ein Hinweis, der mir aber egal war, da ich schon wegen des Studiums fast so lange angestellt bleiben musste: „Und wenn Du innerhalb von 2 Jahren nach der Führerscheinprüfung kündigst oder wir Dich wegen einer Verfehlung entlassen müssen, dann fordern wir die Kosten komplett ein.“ Das waren ganz normale Konditionen, zumindest hatte ich im Internet meistens von solchen Klauseln gelesen, wenn die Firma die Kosten für irgendwelche Scheine übernahm.

Offensichtlich hatte ich einen guten Eindruck gemacht, denn nach nicht ganz zwei Wochen durfte ich wieder hinkommen und bekam die frohe Botschaft, dass ich den CDL-A Führerschein machen durfte. Also ging es nun richtig los. Weiter arbeiten im Lager, allerdings mit weniger Stunden. Führerschein in Theorie und Praxis. Und weil das noch nicht reichte auch weiter Video-Vorlesungen für meinen Bachelor.
Schließlich war es geschafft und ich hatte eine neue Führerscheinkarte, anstatt nur D stand jetzt ein halber Roman drauf: ADK. Dabei war D der normale PKW-Schein, den ich vorher schon hatte. A war der neue LKW-Führerschein für normale Sattelzüge und K die Einschränkung, unter 21 Jahren LKW nur innerhalb von Pennsylvania fahren zu dürfen.

Am nächsten Tag dann ging es gleich los. Anstatt zum Lager ging es nun in die Logistikzentrale, wo die Dispatcher saßen und die Fahrzeuge standen, die nicht gerade unterwegs waren. Und da merkte ich gleich mal einen Nachteil, denn dieser Standort war im Juanita Park, einem Gewerbegebiet in Feltonville, das gleichermaßen bescheiden mit den beiden U-Bahnen der Market Frankfort Line und Broad Street Line zu erreichen war. Ich musste nun von der MFL noch in einen Bus umsteigen. Der fuhr zu manchen Zeiten ziemlich belämmert, wo ich ihn brauchte und obendrein dauerte es 1:15 Stunden, mit dem Auto nur 40 Minuten.
Fahren durfte ich heute allerdings noch nicht. Erst mal gab es zusammen mit den anderen neuen Fahrern eine Einweisung für all die Dinge, die man in der Fahrschule nicht lernte: Die Übergabe-Fächer für Frachtpapiere und bei Day Drivern wie mir auch für die Fahrzeugpapiere und Schlüssel. Interne Sicherheitsvorschriften, Bedienung des Kommunikationssystems, über das ich meine Anweisungen bekommen würde und Meldungen abschickte.

Auch im Fahrdienst gab es Vorarbeiter. Wir gingen mit zwei davon runter auf die Stellplätze, wo ein paar Ersatzmaschinen standen. Dann bekamen wir eine Einweisung in die Fahrzeuge: International RH und Prostar, Kenworth T680 und Kenworth W900. Alle Fahrzeuge hatten Cummins-Motoren, um der Werkstatt ein einheitliches Modell zu bieten anstatt der Paccar und Navistar Hausfabrikate – und die Ersatzteilhaltung für die Betriebswerkstatt kleiner und damit billiger zu halten. Die meisten Daycabs hatten Fuller 10-Gang, Fernverkehrsmaschinen 13-Gang – die neuesten Beschaffungen allerdings durchgängig Automatikgetriebe. Das war wirtschaftlicher als Handschaltung, auch wenn es den Fahrern im Normalfall nicht wirklich gefiel. Costco war ein gnadenloser Optimierer von allen Betriebskosten. Meinung der Angestellten war das eher selten gefragt, außer sie trug zur Kosteneinsparung bei.
Die Einweisung war aber knapp gehalten. Wir stiegen in keinen einzigen LKW. Es ging mehr in Richtung „Da ist der Tank!“ Ob es irgendwelche Tankwahl- und Crossfeed-Schalter gab, bei den Fahrzeugen mit moderneren Maschinen den Zusatztank fürs DEF. Wo kam Scheibenwasser rein und wie wurde bei den einzelnen Modellen die PTI durchgeführt.

Ich durfte also erst einmal wieder mobil werden und hatte schon in der Pause mal nach Autos gesucht. In Großstädten und im Osten wurden Autos nicht so liebevoll behandelt und ich lebte in einer Großstadt im Osten. Das Wetter war hier auch nicht gut zum Blech, wenn man die sonnenverwöhnten Autos in Kalifornien gewöhnt war. Daher ließen sich die meisten Gebrauchtwagen in zwei Kategorien stecken. Erstens „Alt und Schrott“ und zweitens „nicht viel billiger als ein Neuwagen, aber schon gefahren und die halbe Garantiezeit rum.“ Eine dritte Gruppe war mein spezielles Problem, nämlich „stand irgendwo in der Gegend, wo man mit der SEPTA nicht hin kam.“ Aber meistens war das nur eine zusätzliche „Option“ zu einer der beiden ersten Gruppen.
Kaum hatte ich ein paar Dollar zusammengespart, durfte ich sie einem Autohändler in den Rachen stecken. Im beschaulichen Warminster, eher ein Vordorf als eine Vorstadt, fand sich ein Händler mit ein paar netten Angeboten. Ich fuhr also nach der Schulung mit SEPTA Regional raus bis ins Umland und kaufte mir einen fahrbaren Untersatz.
Das Auto war zwar nach dem Zähler ein Neuwagen, die 7 Meilen waren wohl zwischen Produktionswerk, Bahnverladung, diversen Zwischenlagerplätzen und dem Händler zusammengekommen. Auf dem Papier war es jedoch ein Gebrauchtwagen, da der Händler ihn vor einer Woche mal kurz zugelassen hatte. Mit diesen Pre-Registrations konnten die Händler Konventionalstrafen vom Werk entgehen, wenn nach den Sommerferien noch zu viele alte Modelle nicht abverkauft waren, aber das neue Modelljahr kam. Denn in der Statistik hatte der Hersteller das Auto ja verkauft. Dass es immer noch da stand und jetzt weniger wert war, interessierte in Detroit nicht.
Danach machte ich mit meinem fahrbaren Untersatz auf dem Heimweg noch einen Halt bei einem Supermarkt, um ein Bisschen Abendessen einzukaufen. Was würde wohl mein Vater zu diesem Auto sagen? Wahrscheinlich „Ein Ridley fährt nicht mit einem Subcompact“, aber wenigstens war es ein amerikanisches Fabrikat und laut Fahrgestellnummer sogar in Michigan gebaut und nicht etwa aus Mexiko importiert, was bei dem Modell auch möglich wäre.


Noch einmal schlafen und dann ging es los. Ich packte mir meinen Rucksack mit der Tagesverpflegung und fuhr dann mit meinem Sonic zur Arbeit. In meinem Fach lag ein Schlüssel, Marke Kenworth und auf dem Fähnchen stand „(MD) T98656“, dazu die Frachtpapiere.

Ich ging also runter und suchte einen in Maryland zugelassenen Kenworth mit dieser Fahrzeugnummer. Zum Glück stand das in der Fahrzeugnummer mit verschlüsselt. Fündig wurde ich bei einem W900. Erster Arbeitstag und gleich mal das Wunschmodell, wenn auch mit Daycab. Ich kletterte in die Kabine und sah mich um, nämlich ziemlich dumm dreinschauend. Das Ding war nicht größer als der Freightliner M2 in der Fahrschule – und das war ein Class 5-7 Cab auf einem Class 8 Fahrgestell gewesen. Ich hätte gedacht, dass ein kastrierter Fernverkehrs-Truck auch im Daycab etwas mehr Platz bieten würde als ein aufgeblasener Verteiler. Ich startete, nachdem ich mich von der Überraschung erholt hatte, den Motor und fuhr vor zur Laderampe.
Trailer C59667, den ich nehmen sollte, war einer der seltsamen Trailer mit Planenwand, die es in den USA nicht so oft gab. Bei uns kamen sie dann zum Einsatz, wenn der Trailer beim Lieferanten von der Seite beladen werden musste. Da ich den im Normalfall beim Kunden abstellte und mit einem anderen weiter fahren sollte, wusste ich nicht, was der Dispatch am Ende mit dem Ding vorhatte. Besonders bei Heimwerkerbedarf und Getränken kamen die zum Einsatz, mir hätte jetzt eine Dry Box gereicht, ich hatte Heimtextilien geladen. Die Tour heute war eine bequeme, ein Lager-Austausch mit Pittsburgh. Ich kuppelte also den Trailer an, machte die PTI und fuhr vom Hof. 31.08.2014, 6:11 AM – der Traumberuf fing jetzt an.

Es war zwar Teil meiner Abfahrtkontrolle gewesen, aber die hatte mir nur gezeigt, dass ich es irgendwann mal würde tun müssen. Und bei Greensburg, nicht so weit weg vom Ziel, meldete sich die Reserveanzeige dann. Einmal nachfüllen bitte. Weil es noch reichte und wir, wenn es in den Tourplan passte, aus Kostengründen nicht am Freeway tanken sollten sondern in den Städten oder an Undivided Highways, fuhr ich also auf dem Weg durch Pittsburgh an eine Tankstelle.

Dann fuhr ich zu unserem Lager und lieferte den Trailer ab. Er blieb einfach auf dem Hof stehen, da keine Rampe frei war. Den sollte dann nachher ein City Driver umsetzen. Ich meldete mich über Qualcomm frei und hatte kurz danach den neuen Auftrag im Display stehen. Es musste ja heute wieder nach Hause gehen, konnte also nichts aufregendes sein.
„Norfolk Southern Pitcairn Intermodal Terminal“ war ein Güterbahnhof als Ladestelle. Ich fuhr hin, meldete mich und sollte erst einmal warten. Dann sollte ich zu einem Platz fahren, wo ich einen Fishbone Trailer bekam, also einen Rahmen mit Auslegern für die gängigen 20 und 40 Fuß Überseecontainer und außerdem die im Inlandsverkehr ebenfalls gängigen Längen 30 und 53 Fuß. Danach ging es zum Kran und eine Blechkiste kam drauf. Der Container war mit Grafikkarten aus Kalifornien für eine kommende Angebotsaktion mit Computerkomponenten beladen. Schließlich machte ich mich wieder direkt auf den Rückweg nach Philadelphia.

Dort bekam ich die Anweisung, den Container vor Tor 3 abzustellen und abzukuppeln. Nachdem ich bisher nur für die Führerscheinprüfung mit dem sehr übersichtlichen LKW zurücksetzen musste und in Pittsburgh einfach abstellen durfte, musste ich nun mit diesem Gefährt rückwärts an die Rampe. Und seitlich raus schauen konnte ich auch nicht. Das hatte beim Freightliner M2 geklappt und die Übungen sehr vereinfacht, hier sah ich aber dabei nur Auspuff. Außerdem musste man bei der Fahrprüfung einer Reihe Pylonen auf dem Boden neben dem Fahrzeug folgen, jetzt musste ich einen Punkt in der Ferne, nämlich das Tor anpeilen. Irgendwann war ich aber auf dem richtigen Kurs zwischen die Markierungen.

Anschließend fuhr ich zurück zum Logistics Depot, parkte die Zugmaschine, ging in den Dispatch-Raum und gab meinen Schlüssel und die Papiere ab. Als ich schließlich meinen für so was sehr praktischen Flitzer zu Hause blitzschnell in eine Lücke gequetscht hatte, in die der ratlos um den Block kurvende Nachbar seinen 4 Fuß längeren Mercury Grand Marquis nur bekommen hätte, wenn das Ding 90° seitwärts fahren könnte, war der erste Tag als Trucker vorbei.
Ich ging ins Haus und dem Geruch nach bereitete Tristan mir einen warmen Empfang. Er hatte derzeit Ferien und zur Feier meines ersten Tages in meinem Traumberuf hatte er den halben Tag damit zugebracht, auf dem Hinterhof im Smoker Pulled Pork zuzubereiten, dazu einen Coleslaw und Potato Wedges. Erwähnte ich schon, dass ich gerne in dieser WG wohnte?

Am nächsten Tag hatte ich in meinem Fach ein Deja-Vu. Wieder lag ein Kenworth-Schlüssel drin und wieder war er im Nachbarstaat zugelassen, aber es war ein anderer: (MD) T26884. Außerdem gab es wieder eine Ladung Heimtextilien. Heute allerdings mit zwei Teilladungen, Harrisburg und einen Kunden in Scranton.
Der Truck war auch sonst ein anderer, nämlich ein T680 mit diesem lustigen GFK-Aufsatz auf dem Daycab. Das Ding hatte aber einen Sinn, denn es senkte den Luftwiderstand, wenn man eine Box oder einen Reefer zog. Und da wir bis auf ab und an mal einen Fishbone mit Container drauf nur solche Trailer zogen, hatten alle unsere T680 und Internationals so eine Beule auf dem Dach. Außerdem wurden seitdem keine neuen W900 mehr beschafft, weil es die nicht mit Aerodynamikpaket gab und sie gemerkt hatten, dass sich das im Verbrauch rechnete.

Ich fuhr also nach Harrisburg und genoss die Ellenbogenfreiheit. Die Kabine war merklich breiter als am W900. Am Ziel durfte ich an die erste Laderampe des Marktes. Während sie entluden, ging ich in den Aufenthaltsraum und holte mir einen Eistee aus dem Automaten.

Als der Lagerleiter mir Bescheid sagte, dass sie fertig waren, zog ich den Truck vor, machte die Türen wieder zu und fuhr weiter nach Scranton. Der Kunde war ein Walmart-Zentrallager. Ob sie mich für die Kriegsbemalung ärgern wollten, konnte ich nicht einschätzen, aber ich sollte an Tor 9 und das war ganz hinten in der Ecke, nur erreichbar über Blind Spot. Damit legte ich den Hof mal kernige 14 Minuten mit meinen anfängerhaften Versuchen, an das Tor zu kommen, lahm. Der Lagerleiter regte sich fürchterlich auf, aber er hatte mir das Tor ja zugewiesen. Und so wie ich aussah, stellte sich eher die Frage, was ich halbe Portion mit Milchbart und Sommersprossen überhaupt in dem LKW zu suchen hatte. Dass ich nicht wie ein Profi einparken konnte, sollte eigentlich klar sein.

Nachdem ich es doch noch geschafft hatte, wurde ich entladen und musste die Zeit Löcher in den Zaun gegenüber vom LKW starren. Aus dem Fahrerhaus durfte ich nicht raus.
Danach fuhr ich leer wieder nach Philadelphia. Dort kam ich auf den Hund, es gab nämlich einen Pup Trailer, und die hießen nicht umsonst Welpe. Sie waren 20 bis 30 Fuß lang und damit nur knapp die Hälfte unserer üblichen Trailer. Damit ging es mit einer Ladung Bekleidung dann noch nach Allentown und mit einem identischen Trailer Verpackungsabfall und Leerpaletten zurück.

Die Dinger waren zwar wendig zu rangieren, aber leider auch gehorsam wie Hundewelpen. Einmal dabei unbedacht zu weit oder mit falschem Timing eingelenkt und sie hauten zur Seite ab.

So verging das Jahr 2014 und zu Thanksgiving hatte sich dann wieder Randy angekündigt. Ich holte ihn am Flughafen ab. Auf dem Parkplatz sah er mein Auto dann auch mal live. Was ich hatte, wusste er natürlich schon lange: „Ist der kleine aber süß. Was wohl Dad dazu sagen würde?“ Wir schauten uns an und sagten gleichzeitig: „Ein Ridley fährt nicht mit einem Subcompact!“ gefolgt von einem längeren Lachanfall.

Wir mussten das letzte Mal offiziell bei Cola feiern. Allerdings hatte Tristan sich auf dunklen Wegen im Sommer mal wieder ein Andenken an seinen Herkunftsstaat beschafft und uns davon ein Bisschen abgefüllt und dagelassen, damit wir die Cola nicht pur trinken mussten…

Weihnachten war ich wieder alleine, Neujahr war auch wieder Tristan zurück, um mit mir zusammen zu feiern. Und Anfang des Jahres gab es dann einen Trucker mehr auf der Welt, allerdings in einem anderen Teil derselben. Ich bekam eine Nachricht von Christian aus dem tiefsten Bayern: „Jetzt weiß ich, was mich bei der S-Bahn und beim Bus immer gestört hat – die Fahrgäste!“

Einen großen Erfolg für meine Pläne konnte ich im September verbuchen. Die Abschlussergebnisse des Studiums wurden veröffentlicht und ich durfte mich jetzt mit Abschlussnote 3.44 Bachelor of Science nennen. Christian musste ich erklären, dass das hier nach deren Noten ungefähr eine 2+ war. Einen Master aufzusetzen machte keinen Sinn für mich. Ich wollte keine Karriere in die Führungsebene eines Konzerns machen und auch keine leitende Funktion auf niedriger Ebene in einem großen Transportunternehmen einnehmen. Die Kenntnisse reichten mir für die spätere Führung eines Einmann-Betriebs aus.

Bis November 2015 kannte ich dann jeden Costco in Pennsylvania ohne Navi und auch den einen oder anderen Walmart oder 7-Eleven fuhr ich so an. Es war ab und zu auch langweilig, aber meine Motivation war gewesen, wenn ich zum gefühlt 1000. Mal irgendeine Tour nicht weiter als 100 Meilen von Philadelphia weg fuhr, dass das ja bald ein Ende hatte.
Und so kam dann erst einmal die Frage, ob ich Day Driver bleiben wollte, aber dann auch staatenübergreifend eingesetzt wurde oder ob ich in den Long Haul wechseln wollte. Nachdem ich gesagt hatte, dass ich wechseln wollte, blieb nur noch eine weitere Frage, die mein Personaler zwischen die Mainland 48 und mich gestellt hatte: „Kenworth oder International?“ Nachdem diese Frage beantwortet war, sollte ich am 1. Dezember einen fest zugewiesenen Truck bekommen.

Ich zog auf dem Heimweg ein Fazit meines bisherigen Lebens. Ich hatte bei der Geburt die Möglichkeit gehabt, später einen gut aufgestellten Betrieb zu übernehmen und ein Leben in Reichtum zu führen. Den Amerikanischen Traum hatte sich mein Großvater erfüllt, ich hätte ihn nur leben müssen. Stattdessen hatte mich dieses Leben in der Jugend angewidert. Ich war zum Rebellen geworden, teils unfreiwillig, und am Ende stand ich mit nichts da außer einem Plan B und keiner Ahnung, wie ich ihn umsetzen sollte.
Na „nichts“ war falsch. Ich hatte einen Zwillingsbruder, der mir einen bescheidenen Neustart ermöglicht hatte. Nicht viel – gerade genug, um an die Ostküste zu kommen und je nach dem wie sparsam ich wohnte und mich verpflegte, 3 bis 6 Wochen über die Runden zu kommen. Gemessen daran, war ich gerade gar nicht so schlecht aufgestellt und obendrein dabei, zum zweiten Mal in der Familie aus dem Nichts eine Existenz aufzubauen.
Mein Großvater war aus dem Leben eines Wanderarbeiters ausgebrochen, hatte eine Arbeit in einer Zeitungsdruckerei angefangen und schließlich eine der größten Druckereien des Westens aufgebaut. Ich hatte aus meinem alten Auto und 2000 Dollar ein Leben mit einem festen Einkommen gemacht, einen Abschluss gemacht, sammelte seit einem Jahr als angestellter Fahrer Erfahrung für die eigene Firma, hatte inzwischen wieder ein zwar deutlich kleineres, aber dafür neues Auto. Schon als Schichtarbeiter war es nicht leicht, einen Freundeskreis zu unterhalten. Trotzdem hatte ich bis jetzt eine WG mit zwei tollen Freunden, die ich hier gewonnen hatte.
Allerdings änderte sich das demnächst und die WG brach auseinander. Kyle war mit der Ausbildung fertig und hatte von der Kette, die ihn ausgebildet hatte, keine Stelle hier bekommen. Von den angebotenen hatte er sich für Minneapolis entschieden. Tristan hatte eine Freundin, die stattdessen bei ihm einziehen wollte. Er hatte mich nicht darauf angesprochen, aber ich konnte mir vorstellen, dass ich dabei stören würde, also hatte ich mir zu Dezember eine neue Wohnung gesucht und auch gefunden. Ein Ehepaar Mitte bis Ende 50 hatte einen Teil des Hauses abgetrennt als Mietwohnung, nachdem die Kinder aus dem Haus waren und eine Wohnung daraus gemacht. Dort würde ich einziehen.

Der Geburtstag war am Freitag und ich hatte mir mal erlaubt, Freitag und Samstag Urlaub zu nehmen. Randy kam am Nachmittag zu Besuch mit dem Flieger an und hatte dieses Jahr drauf bestanden, zum Geburtstag hier zu sein. Dafür war er eben mal Thanksgiving zu Hause. Nun durften wir offiziell ausgehen, was wir an dem Abend auch taten.

Alkohol löste ja bekanntlich die Zunge und so sagte Randy in der Bar irgendwann in diesem Tonfall, den alle tiefsinnigen Unterhaltungen angetrunkener Leute haben: „Irgendwie frage ich mich, warum ich Dich immer bewundert habe, aber es Dir nie gesagt habe.“ Ich verschluckte mich vor Überraschung an meinem Bier und stellte fest, dass Bier unangenehm in der Nase prickeln konnte. „Wieso das denn?“
„Weil Du schon immer Dein Ding gemacht hast und Dich nie hast unterkriegen lassen. Ich war einfach nur angepasst.“ Da konnte er teilweise aber nichts für. Er liebte nun mal das „richtige“ Geschlecht und interessierte sich für Basketball. Beides hatte ihm unsere gemeinsame Jugend einfacher gemacht. „Du kriegst keinen Mitsubishi Rallyewagen? Na und, kaufst Du Dir von Taschengeld einen alten Honda. Dass Du in Deutschland zu Christian gekommen bist, war ein Glücksfall für Dich. Du hast das Leben da richtig genossen, Party gemacht und viel mehr. Auch wenn ich manchmal hätte schreien können, wie Du da alle Klischees mitgenommen hast, die über Eure Szene so herumgeistern. Ich habe damals schon ein schlechtes Gewissen bekommen, ein Bier zu trinken, auch wenn es da legal war. Mir ist in der Jugend glaube ich eine Menge Spaß entgangen.“ „Und weißt Du, was verrückt ist? Für mich war es immer anders rum. Du warst Daddys Liebling. Immer hast Du die richtigen Sachen gemacht und er hat Dir alles ermöglicht, was Du wolltest. Ich habe mich dafür gehasst, Eishockey besser als Basketball zu finden oder dass ich auf Jungs stehe. Du warst der perfekte Erbe und ich war der ungeplante zweite, mit dem es irgendwann mal den großen Krach gibt. Das war eigentlich eine selbst erfüllende Prophezeiung.“
„Red keinen Unsinn. Du hast alles richtig gemacht. Sieh Dich an. Du bist vor 3 Jahren mit nichts in Kalifornien weggefahren. Inzwischen bist Du in Pennsylvania angekommen. Du hast Dir ein eigenes Leben aufgebaut, in das Dir keiner rein reden kann, Du hast studiert und Du arbeitest an dem amerikanischen Traum. Du warst nach 2 Generationen wieder so was ähnliches wie in unserem Alter als Pavee. Und wenn Du weiter so konsequent an Deinem Traum arbeitest, dann haben wir es irgendwann zweimal in der Familie geschafft, vom Landstreicher zum Unternehmer zu werden. Großvater hat dann Ridley Print and Design geschaffen und Du hast Ridley Road Haulage aufgebaut. Was war mein Plan? Die Früchte anderer Leute Arbeit erben!“ So sah ich es inzwischen auch, aber hatte zeitweise auch das Gefühl, einer Illusion hinterher zu laufen. Insbesondere als Lagerarbeiter und als Day Driver.
„Aber ich kann Dir sagen, dass ich gestern früh endlich den Mut hatte, auch offiziell klaren Tisch zu machen!“ Er hatte mir vor einem Jahr erzählt, dass er nach dem Studium nicht bei unserem Vater einsteigen wollte sondern bei Kyocera bleiben. Aber ich wusste auch, dass er sich nie getraut hatte, das zu sagen und immer einen Eiertanz um das Thema gemacht hatte. Dass mein nicht immer leichter Weg durch unsere Teenager-Zeit auch eine Menge Mut erfordert hatte, war mir bis eben nie so bewusst gewesen. „Und?“ „Betretenes Schweigen. Aber ich glaube, endlich hat auch Dad seine Lektion verstanden. Wir sind ins Besprechungszimmer und er hat erst mal in seiner bekannt liebenswürdigen Art gefragt, warum ich jetzt auch so missraten wäre wie Du. Wenn Du so einen schlechten Einfluss hättest, dann dürfte ich nicht nach Philadelphia fliegen, blabla.“ Das kannte ich ja ganz gut.
„Und dann habe ich an Dich gedacht und wie stark Du immer in solchen Situationen bei Deinem Standpunkt geblieben bist und dann kam es alles raus. Ich bin abgelaufen wie ein Uhrwerk und er war geschockt. Ich habe ihm gesagt, dass das doch alles nur seine Schuld wäre, er würde ja gerade wieder so anfangen. Ich würde aber inzwischen auf eigenen Füßen stehen mit einem Stipendium von Kyocera und er könnte mir gar nichts mehr verbieten. Seine Methode, uns beide auf seinen Kurs zu bringen wäre immer nur gewesen, uns das Geld wegnehmen zu wollen. Und so erreicht er nur das Gegenteil. Die Stimmung war dann erst mal dahin.“Na das glaube ich. Vielleicht hat er es ja dann doch mal gelernt.“
„Das war gestern Abend. Heute vorm Abflug hat er mich dann noch gefragt, wie ich mir das denn vorstelle und ob alles den Bach runter gehen soll, wenn er nicht mehr kann. Ich habe dann klar gestellt, dass ich immer da sein werde, wenn die Firma mich braucht. Aber so lange er das Ruder in der Hand hat und meine Meinungen nicht neben sich duldet oder meint, sich in mein Privatleben einmischen zu müssen, werde ich meine eigene Karriere machen. Ich habe ihm klipp und klar gesagt, dass ich unter dem Board of Directors nicht in seine Firma einsteigen werde. Und da rein ernennen lasse ich mich nur, wenn ich anderswo schon Erfahrung im Management gesammelt habe, die mich dafür qualifiziert. Das scheint er geschluckt zu haben.“
„Schön, dass wenigstens Du dann Dein Leben führen kannst wie Du willst, ohne rausgeschmissen zu werden.“ „Soll ich mal jetzt in dieser neuen Situation ein gutes Wort für Dich einlegen?“ „Nein, auf keinen Fall! Er soll von sich aus den ersten Schritt auf mich zu machen, gerade nachdem ihm ja jetzt die Augen aufgegangen sein müssten. Oder eher die ersten Schritte, denn mit einem ist es nach allem, was vorgefallen ist, nicht getan. Und erst dann werde ich mir überlegen, ob ich darauf eingehen werde.“ „Na bei dem zynischen Tonfall, mit dem er mir dann vorhin eine gute Reise gewünscht hat, wirst Du da noch eine ganze Weile drauf warten müssen. Er hat Dich nicht mit einem Wort erwähnt. Nicht dass ich mit Grüßen an Dich gerechnet hätte. Aber er hat mir nicht einmal Spaß gewünscht. Ich bin verreist und wenn ich wieder komme, wird er mit der Frage, wie es war, maximal wissen wollen, ob die Leute bei American Airlines einen guten Job gemacht haben.“
„Na wenn ich kein Thema für ihn bin, sollten wir uns auch mal ein anderes suchen.“ „Einverstanden. Erzähl mal einen Schwank aus Deiner Jugend. Ich habe ja keine zu erzählen.“ „Und meine willst Du nicht hören. Noch ein Miller?“ „Nein, ich nehme jetzt auch mal ein Corona!“ „Gute Wahl!“ Miller hatte Tristan mal irgendwo schwarz besorgt. Nachdem meine Erinnerung an Bier Weißbier und Helles in Bayern gewesen waren, fand ich Miller enttäuschendes Abwaschwasser. Heute hatte ich einfach mal oben auf der Tafel angefangen, Budweiser auch nicht für gut genug befunden und Corona war die nächste Marke im Alphabet gewesen, aber definitiv nicht die schlechteste.

Wir fuhren spät nach Hause und auch wenn wir, zumindest nach deutschen Maßstäben von vor 4 Jahren, nicht viel getrunken hatten, wurde es doch ein ziemlich schwieriger Weg. Man sah uns nicht viel an, sonst müssten wir auch noch eine Anzeige wegen öffentlicher Trunkenheit befürchten. Die Füße waren aber trotzdem schwer. Am nächsten Morgen ließen Tristan und Kyle uns gnädig ausschlafen. Als wir, die wir natürlich dank Verbot unter 21 nichts gewöhnt waren, irgendwann doch mal aus den Betten kamen, schauten die zwei uns mitleidig an. Das Blei war wohl über Nacht aus den Füßen in die Köpfe gestiegen, jedenfalls waren die jetzt schwer. Tristan setzte uns an den Küchentisch und brachte erst mal starken Kaffee. Ich mochte an sich noch nie Kaffee, aber heute lief er quasi von alleine rein.

So hatten wir am Samstag ein Schonprogramm, fuhren abends wieder in die Stadt, wo wir ein Abendessen in einem guten Restaurant hatten. Randy bezahlte für mich mit. Eigentlich wollte ich das nicht, aber wenn ich ablehnte, war er sicher beleidigt. Außerdem musste ich, als die Rechnung kam, feststellen, dass ich das Geld sowieso nicht übrig gehabt hätte. Da war ich mit der Bar-Rechnung gestern trotz der hiesigen Bierpreise dann doch deutlich besser davongekommen.

Am Sonntag hieß es dann schon wieder, Abschied zu nehmen. Ich fuhr Randy zurück zum Flughafen und bereitete mich dann mental auf die letzte Woche im Nahverkehr vor. Kommendes Wochenende noch der Umzug, dann begann ein komplett neuer Abschnitt in meinem Leben – Fernverkehrs-Trucker und zum ersten Mal eine komplett eigene Wohnung

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