Inzwischen war der Winter vergangen und das Jahr 2017 schon ein paar Monate alt. Nachdem mir an einem Winterwochenende langweilig gewesen war und außer Caleb aus der Gruppe keiner Zeit hatte, war ich mit ihm zum Parcours-Hallentraining gegangen. Nicht um mitzumachen, sondern um die Zeit totzuschlagen, die er trainierte, bis er wieder Zeit hatte. Immerhin hatte ich ihm gehorcht und Turnzeug mitgenommen.
Spätestens als mich einer der Trainer ansprach, zog ich mich dann doch um und trainierte mit den Anfängern, die halb so alt waren wie ich. So war das also, wenn man sich mit 22 das erste Mal alt fühlte. Wenigstens war ich nicht zu schlecht, da ich mit Inlinern schon Kunststückchen gemacht hatte und deshalb Sprünge einschätzen, meinen Körper beherrschen und auch schon manche Grundtechnik konnte. Seit dem Abend auf der Skaterbahn hatte ich ja schon die Erkenntnis, mich körperlich betätigen zu müssen, wenn ich bei meiner sitzenden Tätigkeit mit kalorienreichen Pausen nicht aus dem Leim gehen wollte. Also nutzte ich die Gelegenheit, dass ich jetzt bei CAT geregelte Wochenenden hatte und trainierte wenn es am Freitagabend zeitlich passte in der Halle und sonst mit Caleb und ein paar Freunden aus seinem „zweiten Leben ohne Ralph“ im West Fairmount Park.
Außerdem konnte ich so wenigstens ab und zu mal zum Eishockey gehen, zum Beispiel am 1. April zum kleinen Derby gegen New Jersey. Vor mir in der Schlange vor der Sicherheitsschleuse waren zwei Ausländer, so Mitte bis Ende 30. Sie waren weiß, aber sprachen in einer Sprache, die ich nicht verstand und nicht mal den Hauch einer Ahnung hatte, welche es sein könnte. Keine lateinische jedenfalls, denn als Kalifornier sprach ich natürlich als erste Fremdsprache fließend Spanisch und würde von anderen wie Italienisch und Portugiesisch dann wenigstens Bruchstücke aufschnappen können. Deutsch verstand ich nach 6 Jahren Schule und einem halben Jahr Austausch auch und wusste, dass man dann zumindest einzelne Worte auch von Niederländisch oder nordischen Sprachen wie Schwedisch oder Dänisch verstand. Ich verstand dagegen nur ab und zu ein verfälschtes englisches Wort.
Erstaunt bemerkte ich noch ihre Baseball Caps, als sie durch die Kontrolle durch waren und ihre Schlüssel und Geldbörsen aus der Plastikwanne nahmen. Der eine trug nämlich eins mit einem Iveco-Logo in älterer Schrift und einem blau-rot-gelben Dreieck, was dann ebenfalls für Europäer sprach. Der andere hatte eins auf mit den Buchstaben ERF und dem Umriss eines älteren europäischen Trucks. Aber ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, was das für eine Marke sein sollte. Bevor ich aber selbst durch die Kontrolle war und die offensichtlichen Kollegen aus Übersee ansprechen konnte, waren sie auf Nimmerwiedersehen in der Menge verschwunden.
Am Montag kam Brian ins Straucheln. Bisher hatte er mich wirklich komplett durchdisponiert, im Winter natürlich besonders in den frostfreien Staaten nach Süden, wo das ganze Jahr gebaut wurde. Die beiden Carolinas, Virginia, Georgia, Tennessee und Kentucky kannte ich jetzt, aber leider hatte sich nie ergeben, mal nach Florida oder weiter nach Westen Richtung Louisiana oder Arkansas zu kommen.
Aber für diese Woche hatte ich gar nichts. Dass es am Freitag noch nicht unbedingt eine Fracht gab, wenn Brian Feierabend machte, war nicht ungewöhnlich. Aber am Montag war er nicht weiter, als ich anrief.
„Hallo Brian. Ich habe noch keine Fracht?!“ „Hi Brandon. Ich auch nicht.“ Kein gutes Zeichen. „Das bedeutet?“ „Ich sehe in den nächsten 6 Stunden keine Frachten in Greater Philadelphia abgehend. Du kannst warten, schlimmstenfalls bis morgen, oder musst Dir selbst was suchen.“ „Wie kommt das?“ „Zum April beginnt die Bausaison. Dadurch haben wir mehr zu transportieren, auch wenn es paradox scheint, dass es dadurch weniger Ladungen gibt. Aber vertraglich seit Samstag, effektiv ab heute haben wir bis in den Herbst einen ganzen Batzen mehr Subunternehmer unter Vertrag und davon haben viele Vorzugsverträge, aber leider haben wir noch nicht so viele Frachten wie ich gehofft habe und wie wahrscheinlich auch unsere Bosse gehofft haben.“ „Okay, dann suche ich mir was in der Frachtbörse.“
Das hatte ich bisher auch schon ein paar Mal gemacht, wenn Brian nichts hatte oder mir seine Vorschläge nicht in den Kram passten, aber selten gebraucht. Meistens hatte ich dann Konsumgüter, Fahrzeugteile oder so was herumgefahren. Ich suchte, ich fand und ich hatte eine leidige Diskussion.
Beim Kunden angekommen erntete ich nämlich erst einmal nur schräge Blicke vom Herrscher über die Frachtpapiere, wie ich Anfang zwanzig, aber genug Körpermasse, um zweieinhalb Brandons draus zu machen und unfreundlich wie noch was. „Nein, das geht nicht. Bei John Deere gibt es Vorschriften, Neufahrzeuge nur bei Fahrern mitzugeben, die Erfahrung mit solchen Transporten haben.“ „Ist hier John Deere oder ist hier Dole Food?“ „Der Traktor ist ein Garantiefall, damit ist John Deere für den Transport verantwortlich.“ „Ich fahre seit einem halben Jahr Baumaschinen, die schwerer – und bestimmt auch teurer – sind als dieser Traktor durch den ganzen Osten.“ „Ja, ist gut. Geh wieder spielen und gib die Fracht frei für jemanden, der sich damit auskennt.“
„Wer ist bei John Deere verantwortlich, eine Genehmigung zu erteilen?“ „Das Werk in Albany.“ „Gibt es da einen Ansprechpartner?“ „Wozu soll ich den raus geben?“ „Weil ich mir den Transport freigeben lassen will.“ „Das machen die eh nicht.“ „Schlauberger, das weiß ich hinterher, nicht vorher und nicht von jemandem, der da nicht mal arbeitet.“ „Ich habe die Papiere.“ „Und ich den Auftrag in der Frachtbörse blockiert. John Deere ist der Auftraggeber, nicht Du. Und die Nummer von denen hat auch Dein Chef.“
Der Typ regte mich auf. Keine Ahnung warum der so drauf war. Schon zu Costco-Zeiten war der mir auf den Zeiger gegangen. Bei älteren Fahrern riss er sich am Riemen, aber sonst. Es ging das Gerücht, dass er selbst gerne Trucker geworden wäre, aber dummerweise die Messung des Cholesterinspiegels mit mehr Punkten abgeschlossen hatte als die theoretische Class 8 Führerscheinprüfung. Seitdem war er neidisch auf jeden Jungfahrer, der es geschafft hatte.
„Jeder blamiert sich, so gut er kann.“ Scheinbar schien wenigstens die Drohung mit dem Chef zu wirken. Er gab mir eine Telefonnummer, die ich sofort und an seinem Tresen stehend anrief. „John Deere New York, James Stark, guten Morgen.“ „Guten Morgen, Ridley Road Haulage, Brandon Ridley. Ich rufe wegen Auftrag R302310 an. Man will mir bei Dole die Frachtpapiere wegen fehlender Erfahrung nicht geben.“ „Wann wurde Ihre Firma denn gegründet?“ „Im September.“ „Das ist in der Tat kurz, da hat der Verantwortliche dann Recht.“ „Kann ich da irgendwas machen? Ich fahre seit der Unternehmensgründung Baumaschinen für Caterpillar.“ „Eine Referenz wäre gut. Wenn mir Caterpillar die faxen oder mailen könnte, schalte ich Sie für diesen einen Auftrag oder gleich im ganzen John Deere System frei für Tiefladertransporte der entsprechenden Klasse.“ „Vielen Dank.“
Ich rief Brian an und fragte ihn, ob er eine Referenz schicken könnte. Das war natürlich kein Problem. Also schickte er mir nach ein paar Minuten eine Whatsapp-Nachricht „Erledigt.“ Nach einer halben Stunde fragte ich Dickerchen: „Wie sieht es aus? Darf ich nun oder nicht?“ „Nein.“ „Wo steht das?“ „Ich weiß das.“ „Und was weiß Dein Computer?“ Er klickte rum und zog ein langes Gesicht: „Freigegebener John Deere Einzeltransportunternehmer für alle Transporte Klasse 8? Aber…“ „Vielen Dank. Einfacher als durch Dich und den Ehrgeiz mir eine Referenz zu holen hätte ich bei denen bestimmt als Unternehmer keinen Fuß in die Tür bekommen. Deshalb sehe ich mal von einer Beschwerde bei Deinem Chef ab. Aber Dein Gesicht merke ich mir fürs nächste Mal. Das habe ich mir eigentlich schon in den 2 Jahren gemerkt, die ich für Costco gefahren bin.“
Die Fahrt nach Albany (NY) war reine Routine. Mein portables Navi fand auch John Deere auf Anhieb und ich bekam die Anweisung, den Trailer in einer Ecke vom Hof abzusatteln. Den würde nachher ein Hofschlepper vorholen, wenn sie für den Traktor in der Diagnosehalle einen Platz hatten.

In Albany konnte dann auch Brian wieder was mit mir anfangen. Es gab einen Raupenbagger, der nach Hartfort (CT) sollte. Keine Ahnung, warum immer alle so von der Landschaft und den freien Straßen im Westen träumten. Wenn man erst mal New York City, Boston und die I-95 dazwischen hinter sich gelassen hatte, konnte man auch in den Neuenglandstaaten ansprechende Landschaften haben. Zwar bestellte Felder und bewirtschaftete Wiesen zwischen eher sanften Bergen und keine schroffen Felsen in der Wüste, aber auch schön. Und im Herbst erst.
Voll war es auch nicht. Mein treuer Begleiter war ein Peterbilt Classic im Rückspiegel und ansonsten zogen wir weitgehend alleine unsere Bahn über die I-90.

Und weiter ging es mit Brians Hilfe, mal wieder mit einem Tractor Excavator und zwar nach Ottawa. Für den Montag reichte es aber nur noch bis Burlington. Ich startete aber schon in der Nacht durch, so dass ich mit Sonnenaufgang und vor dem Berufsverkehr wieder aus Montreal raus war.

Die Waage war um die Zeit auch noch geschlossen, also durfte ich weiter. Ich war nicht so weit vom Ziel entfernt, als Brian anfing zu arbeiten. Ich hasste es wegen der hohen Roamingkosten, ihn aus Kanada anzurufen, aber wahrscheinlich wähnte er mich noch in Montreal im dicksten Berufsverkehr. Leider hatte er wieder nichts rein bekommen, was ohne größere Leerfahrten erreichbar war.
Also suchte ich mir wieder was in einer Frachtbörse und war bald mit einem Trailer voll Diesel auf dem Weg zurück in die USA. Warum auch immer man den teuren Diesel aus Kanada rüber brachte, aber vielleicht fielen die Steuern ja nur an, wenn er hier an der Tankstelle verkauft wurde.
Die Kanadier behaupteten gerne, dass sie sich besser einfädeln konnten als wir. Aber den Beweis blieben sie schuldig. Man sollte ganz Nordamerika mal in eine deutsche Fahrschule stecken. „Wie fädele ich mich ein?“ Während meinem Austausch hatte ich nie erlebt, dass sich bei fließendem Verkehr auf der Hauptroute eine Schlange auf der Einfahrt bildete, egal wie die Verkehrslage gerade war.

Allerdings war jetzt die Waage besetzt und damit musste ich so oder so abfahren. Und natürlich bekam ich das rote Licht und musste auch auf die Wiegespur. Der Tanker war voll, aber meine Tanks dafür ziemlich leer. Also kam ich ohne Probleme durch. Eine genauere Kontrolle mit Papieren und Fahrzeugtechnik wollten sie auch nicht machen. Zum Glück sah der Truck gut gepflegt aus und entkräftete so den Grund „alte, kaputtgesparte Karre“ von alleine.

Weil ich so früh losgefahren war, musste ich auch früh Schluss machen. Ich nutzte die Gelegenheit, um zwischen einem anderen Tanker und einem Kipper einzuparken. Vielleicht mussten die auch länger stehen und mir blieb ein Reefer erspart, zumindest bis ich eingeschlafen war.
Der Plan ging auf und ich fuhr weiter nach Hartford (CT). Dort bekam ich wieder Arbeit von Brian. Eine Walze wollte ins Land des Ahornblattes, genauer nach Trois Riviere. Wie auch immer man das aussprach – Französisch war mir ja bekanntlich am liebsten, so lange ich es nicht sprechen musste. An der Grenze ging dank der gewohnt guten Unterlagen von CAT alles sauber. Früher hatte ich hier auch „gerne“ mal etwas länger zur Kontrolle gestanden, weil man bei Costco halt mit einigen Positionen mehr in den Papieren unterwegs war. Wenn es ein Zöllner genau nahm, dann war der eine Weile mit Klettern und Zählen beschäftigt.

In Trois-Riviere gab es dann auch eine Rückladung von CAT, denn aus Kanada in die USA war da laut Brian nicht immer so einfach. Apropos nicht einfach, bisher hatte ich weder eine Walze noch einen Raupenbagger gefahren, also hieß es gut nachdenken, wie das damals in der Einweisung war. Besonders beim Raupenbagger, der ziemlich exakt so breit war wie der Trailer hieß das Konzentration. Aber schließlich war es geschafft, ohne der Star des nächsten „Idioten fahren Baumaschinen“ Videos auf Youtube zu werden. Durch das architektonisch ganz ansprechende Trois-Riviere machte ich mich auf den Weg nach Manchester (NH).

In Manchester gab es noch einen Tagfüller, nämlich eine Planierraupe nach Hartford. Und dort war mein Tag zu Ende und ich begann die Stadt zu hassen. Nachdem ich mir zu Ende meiner Costco-Zeit hier noch einen Anbrüller abgeholt hatte und ich nicht schon wieder ein Motel bezahlen wollte, fand ich nur einen Stellplatz unter der Autobahnbrücke. Ich hoffte, der Verkehr würde nicht so schlimm sein über die Nacht.
War er natürlich dann doch, also war es mehr ein Dämmerschlaf und so richtig fit fühlte ich mich nicht. Eine als Frühstücksgetränk reichlich ungewöhnliches, aber dafür ziemlich koffeinhaltiges Mountain Dew brachte den Kreislauf in Schwung. Heute sollte es mit einem Radlader nach Maniwaki (QC) gehen. Bis hinter Montreal ging das auch gut, aber dahinter wurde es dann bergig und ich erfüllte mit den dann doch für diese Gewichtsklasse und Anstiege zu wenigen PS die alte Weisheit, dass Stau nur hinten blöd ist. Nicht mal einen Seitenstreifen hatte die Straße, um die Schlange durchzulassen.

In Maniwaki konnte Brian mich nur noch in Richtung Michigan schicken, also nahm ich lieber eine Fracht aus dem freien Markt an und brachte für Walmart eine Fuhre nach Hause.
Ich wurde an der Waage vor Montreal mal wieder gewogen und für gut befunden. In der Stadt machte ich dann Pause in einem Gewerbegebiet. Noch mitten in der Nacht machte ich mich wieder auf den Weg und ließ die Skyline in der Dunkelheit hinter mir.

So konnte ich heute dann zum Hallentraining gehen. Schon längst war ich schon in die mittlere Gruppe aufgestiegen, auch weil ich konsequent unterwegs trainierte, zum Beispiel auf schwach besetzten Truckstops mit den Betonpöllern zwischen den Parkreihen oder einfach im Wald. Die Versuchung war groß, ab und zu mal bei einer Ladestelle die Treppe aus den Büros in Hochparterre mit einem Sprung übers Geländer abzukürzen, aber davon hielten mich die Sicherheitsvorschriften ab und dass ich gerne zu den Kunden zurückkommen wollte.
Und am Wochenende ergab sich dann kurzfristig die Planung für das darauf folgende. Denn ich bekam eine Nachricht von jemandem, die mich mit dem Inhalt ein Bisschen überraschte. Sie kam von meinem Austauschpartner Christian Hofer, den ich seitdem, also seit über 5 Jahren, nicht mehr gesehen hatte. „Bin am kommenden Samstag ab Mittag in Toronto auf der Durchreise. Montag geht es weiter.“
Also buchte ich einen passenden Flug bei Philadelphias Haus- und Hofairline American. Nicht dass ich die mochte, aber die hatten hier als einzige einen Hub und man kam quasi überall mit ihnen hin. Im Laufe der Woche sagte ich Brian, dass er mich erst ab Dienstag einplanen sollte.
Ich war gespannt, was Christian alles zu erzählen hatte und was ihn hier her brachte. Viel zu seiner Reise ließ er sich aber nicht entlocken. Wir machten das übliche Touristenprogramm durch. Also CN-Tower, Distillery District und so. Zu gerne hätte ich mehr erfahren, was er vorhatte, aber er blockte ab. Ich würde es schon früh genug erfahren, meinte er. Aber jetzt wäre das noch alles zu ungewiss.
Also setzte ich mich am Montag wieder in den Flieger. Christian hatte einen Weiterflug mit WestJet, was darauf schließen ließ, dass er in Nordamerika blieb. Und er ging nicht mit mir durch die vorgezogene Einwanderungskontrolle, was also alle Ziele in den USA auch raus strich.
Na ja. Wenn er nicht wollte, musste ich wohl warten. Zumindest die nächsten Stunden des Wartens wurden mir schon mal versüßt. Denn er war in meiner Kabinenbesatzung. Der Latino, der mir schon damals auf dem Flug zur außergerichtlichen Einigung nach San Diego aufgefallen war. Und heute war kein Rechtsverdreher dabei, der mich dazu auffordern konnte, die mit Blicken ausgezogene Uniform zurückzugeben. Dass er auf diesem Flug im Dienst war, könnte bedeuten, dass er doch in Philadelphia stationiert war.
Ich saß sogar in dem Bereich, den er bediente. „Was möchten Sie trinken, Sir?“ „Cola Light, bitte.“ Ich hatte kürzlich gelesen, dass Cola als feinperlige Limonade der Schrecken des Kabinenpersonals war und als Light noch viel schlimmer, weil die Süßstoffe den Effekt verstärkten. Durch den geringen Luftdruck schäumte sie und es dauerte ewig, sie einzuschenken. Und genau das war der Zweck dieser Übung. So stand er umso länger neben meiner Reihe. Ich saß allerdings aus Gewohnheit am Fenster, der Mittelplatz war frei und am Gang saß ein Geschäftsreisender.
Schließlich war die braune Brause im Plastikbecher und er reichte ihn mir rüber, aber blieb dabei mit dem Ärmel seiner Uniform an dem Riegel vom Tisch am Mittelplatz hängen. Durch den Ruck rutschte ihm der Becher aus der Hand und so landete die Cola in meinem Schoß. Meine Flüche waren nicht wiedergabefähig, während mein Flugbegleiter nur noch Entschuldigungen raus bekam und mich mit Papierservietten überhäufte. Aber davon gingen die braunen Flecken auch nicht aus der hellblauen Jeans. Das würde ein unangenehmer Weg vom Flieger zum Auto. Mein Zorn war allerdings nicht von langer Dauer, denn bereits beim Abräumen konnte ich meine Blicke schon wieder nicht mehr von ihm lassen.
Und immerhin bekam ich was zu googlen. Denn weil er mich bedient hatte, konnte ich dieses Mal auf seinem Namensschild „J. Noguerra“ lesen. Leider fanden sich keine Bilder, die seine Identität bestätigten, aber in Pennsylvania und beiden Virginias Ergebnislisten in Wildwasserkajakrennen, die einen J. Noguerra oder Javier Noguerra auswiesen. Zurückgerechnet in die Jugendklassen der entsprechenden Jahre war er 23, was ungefähr hinkam. Allerdings konnte ich ihn auch nicht in den einschlägigen Datingplattformen finden. Wäre ja zu schön gewesen, wenn es so einfach wäre.
Nach 3 Wochen kam dann auch die Auflösung von Christian. Er war immer noch Trucker, hatte aber laut dem Profilbild in WhatsApp dezent den Kontinent gewechselt:

Du wolltest doch wissen, warum ich in Kanada bin.
„Hallo Kollege. Was fährst Du denn da schönes?“
„Kenworth W900 mit kraftstrotzdenden 370 PS und 18 Gängen, um wenigstens eine reelle Chance zu haben, die meisten davon auf die Straße zu kriegen.“
„Okay, W900 sehe ich selber. Das Nummernschild ist Manitoba, oder?“
„Ja. Bin in Winnipeg. Weit komme ich ohne Sleeper aber nicht. In Ausnahmen mal zwei Tage am Stück mit Motel.“
„Und was ist in dem Silo?“
„In dem speziell ist Mehl. Es gibt neben Lebensmitteln aber auch noch welche für Baustoffe, Chemie und Landwirtschaft. Wir sind die größte Silospedition Mittelkanadas.“
Na das war ja ein Ding. Da kam der einfach mal so nach Nordamerika.Der Kalender für 2017 wurde dünner, schon war die Hälfte weg. Und über Independence Day waren auch alle Freunde so weit weg. Lediglich Ralph und Caleb nicht, denn Ralph hatte keine Familie mehr, Caleb konnte seine nicht leiden und anders rum. Ralph hatte aber Bereitschaft und das Wetter war zu gut, um bei ihm in seiner Wohnung zu sitzen und auf einen Anruf zu warten.
Da aber Calebs zweiter Freundeskreis ähnlich heruntergewirtschaftet war, war auch denen langweilig, das schrie nach Parkour im Park, dachte ich. Aber das galt nur am Samstag, nachdem ich mit der Rechnungserstellung fertig war. Caleb hatte andere Pläne: „Sind wir mal ehrlich. Parkour mag ein schöner Sport zu sein, aber kaum, um dauernd im Park über Bänke und Felsen zu turnen.“ „Sondern?“ „Urban Exploration.“ „Ooookay…“
Dass so was kommen könnte, hatte ich mir schon überlegt, aber nie mitbekommen, dass die vier so was machten. „Du musst nicht.“ Der Reiz war schon da, aber die Bedenken auch. „Ich hänge da doch ein Bisschen zu sehr am sauberen Führungszeugnis, das ich für manche Kunden regelmäßig vorzeigen muss.“ „Die SEPTA will auch von allen Fahrpersonalen alle 2 Jahre ein Führungszeugnis haben. Also irgendwas nicht zu machen, weil man juristische Folgen spürt ist okay. Immerhin sagst Du nicht, dass Dir das zu gefährlich ist.“ „Du sprichst mit jemandem, der mit 18 Jahren Bergrennen gefahren ist. Ich weiß nicht, womit man leichter 600 Fuß tiefer einschlägt und dann noch mal 6 Fuß tiefer liegen bleibt. Wobei ich natürlich gerne lebe.“ „Ich auch. Für die anderen drei kann ich nicht sprechen. Jamie und David stehen auch schon mal ungesichert auf einem Schornsteinkopf oder Gittermast. Und die machen auch In-Use-Exploration. Hayden hat eine Schwäche fürs Trainsurfing, was ich als Lokführer natürlich auch nicht leiden kann.“
„Was hast Du denn morgen dann mit mir vor?“ „Schleuse 68 am Manayunk Canal.“ Das war ja quasi vor meiner Firma. „Ich gehe bestimmt nicht mit einem Anfänger ins Beury Penthouse. Schleuse 68 hat zwei Vorteile. Die Reste von dem Ding sind nicht sonderlich hoch und wenn es schief geht, liegst Du im Kanal und nicht auf einer Betonplatte. Und da brauchst Du auch keine besondere Ausrüstung.“
Das war dann also nun der Hintergrund meiner zweiten Clique. Dass sie nicht nur über Parkbänke und Felsen turnten, hätte ich mir zumindest bei manchen denken können. David war ähnlich wie Caleb schon rein optisch etwas verrückt. Waren es bei Caleb allerdings seine nur oben ohne in voller Pracht sichtbaren Tattoos sowie zwei große, schwarze Plastik-Ohrstecker, die das ausmachten, glänzte David mit seinen weinrot gefärbten, langen Haaren aus jeder Menschengruppe raus. Caleb war 21 und David wie ich 22.
Jamie hatte einen weißen Vater und eine Latino-Mutter, was seinen südlichen Einschlag erklärte. Mit 19 war er ein Bisschen jünger. Er hatte an sich aber nichts Auffälliges an sich, sah man von seinen Muskelbergen ab. Hayden war mit 17 das Nesthäkchen, passte optisch noch weniger als ich in die Truppe. Immerhin hatte ich mit meinem Brush Cut eine Frisur mit wenigstens etwas coolem Image, wenn es schon neben dem Ohrstecker mit rotem Stein aus „echtem Kristallglas“ nichts Auffälliges an mir gab. Aber Hayden hatte einen ganz braven Grundschnitt, den er dann mit ein Bisschen Gel durcheinander brachte und sonst nichts. Kein Piercing, kein Tattoo. Er war scheinbar der brave Junge von nebenan, aber stille Wasser waren ja schon immer die tiefsten.
Ich traf mich mit Caleb an der alten Schleuse, wo er mich an den niedrigen Mauern und den Resten der Schleusentormechanik die Parcours-Techniken in Freerunning umsetzen ließ. Denn die Techniken waren gleich, aber die Ziele verschieden. Parkour war aus einer Fluchttechnik des Soldaten Raymond Belle im Französischen Indochinakrieg entstanden, die sein Sohn David in den 80ern auf einen Vorort von Paris übertrug und zum Jugendsport machte, aber immer mit dem Ziel, möglichst mit dem geringsten Aufwand und der größten Geschwindigkeit Hindernisse auf einer vorgegebenen Strecke zu überwinden.
Freerunning, vor einigen Jahren auch als Streetclimb bekannt war die aus Parkour entstandene Klettertechnik, mit der Urban Explorer ihre Hindernisse überwanden, was nicht das Ziel hatte, schnell und Kräfte schonend von A nach B zu kommen, sondern mit Aufwand und Artistik im Ermessen des Kletterers an einen schwer zugänglichen Punkt. Also Obergeschosse erreichen, wo der Einstieg in Gebäude einfacher war oder fehlende und baufällige Gebäudeteile auf einem alternativen Weg überwinden. Auf Sicherheit gehende Explorer beließen es dabei, die verspielteren balancierten auch schon mal riskant über irgendwelche Rohre und Träger anstatt den Wartungsweg an der Wand entlang zu nehmen oder eine Leiter runter und auf der anderen Seite wieder rauf zu steigen.
Ich schaffte Calebs Übungen, ohne ein Bad im Manayunk Canal oder schon etwas gefährlicher im Schuylkill River zu nehmen und wir wollten gerade wieder zurück als Calebs Handy klingelte. „Hallo Hayden.“ „Abholen? Wo?“ „Chambersburg? Das ist doch hinter Harrisburg?“ „Wie kommst Du denn da hin?“ Caleb fing an, hysterisch zu lachen. „Der Güterzug hat nicht vorher angehalten? Dann sei froh, dass der nicht nonstop nach Los Angeles gefahren ist. Aber ich bin mit dem Zug in Manayunk. Bis ich zu Hause bei meinem Auto bin, wird es über eine Stunde dauern. Was ist mit David und Jamie?“ „Na dann weiß ich nicht, in wessen Strahlenschutzbunker die gerade ohne Handynetz hocken. Direkt auf dem Sendemast soll man ja angeblich auch kein Netz haben. Ich kann Brandon fragen, der ist gerade bei mir.“ Er drehte seinen Kopf zu mir rüber: „Wie lange brauchen wir zu Deinem Auto? Zu mir nach Eastwick ist ja ein Stück und Hayden sitzt an einer Bushaltestelle, wo morgen Vormittag wieder was fährt.“ „5 Minuten.“ „Wie, nur 5 Minuten? Du wohnst doch nicht hier und ich habe Dich zu Fuß komme sehen. Würdest Du ihn abholen? Sind aber 100 Meilen eine Strecke.“ „Klar. Dazu hat man Freunde, oder? Meine Firma ist direkt am Bahnhof Ivy Ridge und ich habe da geparkt.“
Wir gingen zu meiner Firma. „Na die Halle sieht auch so aus, als wäre das Gelände verlassen. Habe vorhin drüber nachgedacht, hier mal zu exploren.“ Ich wollte sowieso was trinken und ging deshalb in die Halle. Dabei nahm ich nicht den Sensor in der Türklinke sondern schloss auf und ließ den 10 Sekunden dauernden Voralarm losgehen, bevor ich die Anlage schnell mit meiner Chipkarte am Terminal entsperrte: „Na das dumme Gesicht von Dir, wenn der Alarm los geht, hätte ich gerne live aufs Handy gesendet bekommen.“
Wir tranken schnell was und nahmen jeder eine Flasche mit ins Auto. Dann sammelten wir Hayden ein und lieferten ihn in Bryn Mawr ab, einer noblen Gegend wo seine Eltern wohnten. Caleb stieg in der Innenstadt an der Straßenbahn aus und ich fuhr nach Hause. Am Montag, den ich mir keinen Auftrag hatte geben lassen, kaufte ich ein paar Sachen, die Caleb mir aufgetragen hatte. Grippers-Handschuhe mit Gummibeschichtung auf der Greiffläche, aber freiliegenden Fingerkuppen, eine starke Taschenlampe, Schuhe mit Klettverschluss und guter Federung, Staubmasken.
Außerdem reaktivierte ich das alte „dumme“ Telefon mit der Prepaid-Karte, das mir Randy bei meiner Abreise gegeben hatte. So ein billiges Teil hielt wesentlich mehr aus als ein empfindliches Smartphone. Wenn es kaputt ging, dann war der Verlust nicht so groß. Aber man konnte im Notfall Hilfe rufen. Es sollte, auch wenn man in der Gruppe unterwegs war, immer jeder eins haben. Es konnte ja sein, dass man sich verlor und wieder verabreden musste. Oder im schlimmsten auszudenkenden Fall saß man in der Falle und der mit dem Telefon stürzte beim Versuch abzusteigen ab. Dann saß man immer noch in der Falle, aber konnte nicht mal mehr Hilfe rufen.
Und am 4. Juli, als alle nur irgendwelche Paraden bestaunten, machten wir uns auf den Weg über den Fluss nach Camden (NJ), im Prinzip war nicht nur die angesteuerte Fabrik sondern die komplette Stadt ein gefühlter Lost Place.
Caleb zog sich in der Nebenstraße, wo wir Calebs alten Mercury Tracer und Davids ähnlich abgewirtschafteten Mazda 626 geparkt hatten, eine Wollmütze auf und band sich ein Tuch über Mund und Nase. Ich nahm mein Motorradtuch mit Blitzmotiv, das aus elastischem Endlosmaterial war, für die untere Gesichtshälfte und trug dazu ein Baseball Cap mit dem Logo der Band Manowar. David und Jamie hatten Youtube-Kanäle, wo sie die Videos hochluden und wir wollten wegen unserer beruflichen Situation beide nicht erkannt werden.
Und damit kletterten wir über eine halb eingerissene Mauer und ein Stück die Fassade entlang an ein Fenster der alten Fabrik, von wo wir rein kamen. Dann sahen wir uns in und auf dem riesigen Gebäude um.

Zum Abend hin wechselten wir in ein stillgelegtes Krankenhaus und hatten auf dem Dach Logenplätze beim Feuerwerk, das die Leute so zum Unabhängigkeitstag abbrannten.Es war faszinierend. Und damit meinte ich anders als insbesondere David und Jamie nicht das Verbotene sondern die Umgebung. Eine Selbstverständlichkeit hatte Caleb mir noch beim Einstieg auf den Weg gegeben, den Ehrenkodex der Explorer: „Only take impressions, only leave footprints!“ Nimm nur Eindrücke mit und hinterlasse nur Fußspuren. Ich war dann am späteren Abend in Davids Apartment, wo wir dann selbst noch ein Bisschen feierten, hin und her gerissen. Mir war klar, dass man das nicht tun sollte. Bei bewachten Gebäuden im falschen Staat konnte einem das auch mit einer Kugel im Kopf erklärt werden, wo die Abwehr gegen Einbrecher unter großzügiger Auslegung der Verhältnismäßigkeit der Mittel von der Jury schon mal als Notwehr eingestuft wurde. Aber eine grundsätzliche Leidenschaft war geweckt, die ich wohl nur schwer wieder loswerden würde.
