Kapitel 26 – Der Beifahrer

Sonntag, 09.09.2018

Nach dem frühen Frühstück hatte ich meine Sachen gepackt und ausgecheckt. Nun musste ich wieder zurück nach San Rafael, das Auto abgeben und zu meinem Truck. Ich hatte mich gut verkalkuliert und vielleicht mit mehr Ausflugsverkehr über die Golden Gate Bridge gerechnet. So war ich eine Stunde zu früh am Truck. Also stellte ich das System um auf Bereit. Schlimmstenfalls musste ich jetzt noch warten. Es dauerte auch 12 Minuten, bevor sich das System meldete.

PICKUP: CAUKI-CAT-FA
DESTIN: MOKCI-CAT-WS
TRAILER: 5558
LOAD: CB54
WEIGHT: 23,818
PRIORITY: URGENT
REMARKS: CALM DOWN IT’S SUNDAY
DISPATCH: MABOS-CAT-EVP


Evan mahnte mich also im Scherz, langsam zu machen. Scheinbar hatte er wirklich noch nicht mit mir gerechnet. Und erst mal sollte ich langsam leer nach Ukiah fahren, eine Walze holen, allerdings eine leichtere als ich her gebracht hatte. Somit bekam die Sache immerhin noch ein Bisschen Sinn, den ich zu suchen mir schon bei Costco abgewöhnt hatte. Frag nicht warum, bring es einfach hin! Logistik kommt nicht von Logik.

Die Fahrt nach Ukiah dauerte knapp 1:40. Im Gegensatz zu Evan, den ich ins Schwitzen gebracht hatte, war das Werk besser auf mich vorbereitet. In 10 Minuten war die Walze samt Trailer abgenommen und aufgesattelt. Ich fuhr vom Hof, dieses Mal wollte das Navi anders rum und am Walmart-Lager vorbei.
Schon bevor ich eingebogen war, fielen mir die zwei Gestalten auf dem Dach auf. Und dann tauchten zwei weitere auf. Während die ersten Kapuzenpullover trugen, hatten die letzten Uniformen des Walmart Sicherheitsdienstes an. Wie konnte man nur so dämlich sein, egal an welchem Wochentag, In-Use Exploration eines Lagers im Einzelhandel machen? Die arbeiteten 24/7, in einem Supercenter sowieso.
Die beiden riskierten die spektakuläre Flucht und sprangen vom Dach auf einen Reefer, der an einer Ladebucht stand und von da auf den Boden. Dann sah ich sie erst mal nicht mehr. Der erste tauchte auf einem an der Mauer geparkten Gabelstapler auf, sprang auf die Mauer, direkt weiter auf die Straße, rollte sich ab und rannte mir genau vor den Truck. Ich hatte es beim Absprung vom Stapler kommen sehen, weil ich die zwangsläufigen Bewegungsabläufe kannte und war schon mal vorsorglich in die Eisen gegangen. Trotzdem rollte ich noch und zog auch an der Hupe.

Sein Kumpan traf es nicht so gut, er war auch auf dem Gabelstapler, aber ein Sicherheitsmann bekam ihn im Absprung am Fuß zu fassen, er schlug auf die Mauerkrone und polterte mit einem Schrei, den ich durch die geschlossene Scheibe hörte, zurück auf den Hof. Während der von vor meinem Truck in der Grünanlage verschwinden wollte, machte ich ihm Zeichen, er sollte einsteigen. Streetclimber mussten zusammenhalten.

Er stieg ein und ich gab Vollgas, auch um die zuschlagende Tür zu übertönen. Am Ende der Straße sah ich im Rückspiegel, wie die Sicherheitsleute um die Ecke kamen, die Straße runter blickten und dann in den Park rannten. „Vielen Dank, hast Du gesehen was mit Jesse passiert ist? So wie der geschrien hat.“ „Ist die Kamera an? Oder ist das sogar Livestream?“ Er setzte sie ab und drückte drauf. „Jetzt ist sie aus, gestreamt habe ich nicht. Ich werde von hier auch kein Video veröffentlichen.“ „Dein Kumpel hat im Wortsinne in die Mauer gebissen und ist auf den Hof zurückgezogen worden.“ „Autsch. Ich bin übrigens Marius.“ So hieß er also mit echtem Namen. Sein Szenename war der bekanntere. Vermutlich wollte er mir keinen Namen nennen, der Rückfragen provozieren könnte. „Brandon. Nichts zu danken, wir müssen doch zusammenhalten. Das ist aber ein seltener Name.“ Dass man ihm kaum anmerkte, dass er kein Muttersprachler war, hatte ich schon längst auf Youtube gemerkt, denn es war „er“. „Ich bin auch nicht von hier sondern aus Europa.“ Ich fand es blöd, Fragen zu stellen, deren Antwort ich kannte. Aber nur so konnte ich vermeiden, mich zu verplappern. Allerdings wolle ich auch aus irgendeinem Grund nicht sofort, dass ich mich als Abonnent zu erkennen gab: „Woher genau?“ „Litauen.“ „Habe ich mal gehört. Dichter als Deutschland war ich aber nie dran.“ „Immerhin, das ist mehr als Deine Landsleute durchschnittlich so wissen, die es gerne mal in die Russische Föderation verschieben. Wir müssen zusammenhalten? Bist Du auch Explorer?“ „Ja.“
„Bieg hier bitte links ab!“ „Ich muss arbeiten und auf den Highway und keine Stadtrundfahrten machen. Du kannst gerne aussteigen!“ „Nein, bitte nicht! Ich weiß ja nicht mal, wie ich hier weg kommen soll. Weder habe ich Schlüssel für Jesses Auto, noch gilt mein Führerschein in den USA. Würdest Du mich mitnehmen? Aber da unten liegt mein Rucksack mit allem, was ich beim Exploren nicht gebrauchen kann.„Also gut.“ Ich fuhr die Straße runter, am Ende war ein Gelände, wo ein Gebäude abgerissen worden war oder Schuttreste abgeladen worden waren. Er holte einen riesigen Rucksack hinter einer Betonplatte hervor und kam zum Truck zurück.

Das Navi wollte, dass ich wieder auf der US-101 bis San Rafael zurück fuhr. CA-20 und CA-128 waren nach den Waldbränden früher im Jahr wohl noch zumindest für Schwerverkehr gesperrt. Eine Motorradstreife hatte einen Dodge Ram raus gezogen und Marius ging leicht in Deckung: „Tu uns beiden einen Gefallen und verhalte Dich unauffällig. Sitz einfach so da, als gehörst Du da hin. Es gibt nur zwei Dinge, die dazu führen, dass Dich in den USA die Polizei raus zieht. Entweder Du hast was falsch gemacht oder Du tust so als hättest Du was zu verbergen.“

„Ich habe ja was falsch gemacht.“ „Und wer weiß das? Ein privater Sicherheitsdienst, der Dich in Ukiah im Gestrüpp einer Grünanlage vermutet und hoffentlich nicht mal Dein Gesicht beschreiben kann. Ich glaube kaum, dass sie Dich an die Polizei gemeldet haben und schon gar nicht als Beifahrer in einem Truck.“ Wir fuhren weiter, bei einer Kontrolle auf der Gegenspur war Marius schon ruhiger, aber irgendwie wirkten sich schwarz-weiße Autos immer noch auf seinen Puls aus.

Marius konnte sehen, wie lange wir auf dieser Route bleiben sollten und spielte auf seinem Webbook rum. „Wo machen wir denn Pause?“ „Wieso? Musst Du mal wohin?“ „Noch nicht. Aber generell halt.“ „Ich würde sagen, kurz bevor wir auf die I-80 abbiegen.“ „Da ist eine verlassene Fabrik in einem Industriegebiet. Direkt an der Straße!“ „Niemals!“ „Doch!“ „Ich bin hier vorgestern lang. Eine verfallene Fabrik wäre mir aufgefallen. Aber wir können trotzdem in Guadalcanal Village gucken, ob da eine Location ist.“

Die Fabrik, die Marius in Google Earth gesehen hatte, war allerdings in der Real Street View (und auch in aktuellem Google Street View, man musste nur auf 3D schalten) schon platt gemacht. In der Tat wäre das mal eine nette Location gewesen. Wir entschieden uns für Unit 503, eine dreistöckige Fertigungshalle. Fabrik wollte ich das nicht nennen. Weil ich damit rechnete, dass Marius filmen wollte, parkte ich meinen auffälligen Truck hinter der ebenfalls abbruchreifen Nachbarhalle, zog mir das Motorradtuch über Mund und Nase, setzte die Gopro-Kopfhalterung auf und zog mir die Greifhandschuhe an. Er zog sich einen Endlosschal bis über die Nase. „Ich gebe uns maximal eine Stunde. Wenn wir überhaupt rein kommen!“
„Hast Du einen Szene-Namen? Ich denke, ich werde mal streamen.“ „Malik.“ Marius nannte mir seinen und startete den Stream. Wir umkreisten die Fabrik einmal. Das Erdgeschoss war verrammelt. Ein offen stehendes Fenster im ersten Stock half auch nicht viel, weil man nicht dran kam. „Über Dach vielleicht?“ An zwei Ecken standen Holzpfähle mit Sprossen, die oben mit schmalen Stahlstreben an der Wand fest waren. Wir kletterten rauf und Marius balancierte schon über eine Strebe. Die Dinger waren verdammt schmal, aber auch ich kam so aufs Dach. Und hier gab es am Treppenhaus dann wirklich eine offene Tür.
Innen war das Gebäude aber ziemlich zerstört und voll Graffiti. Interessante Dinge wie Maschinen waren komplett raus geräumt. Lediglich Transportbehälter und so standen noch vereinzelt herum. So kamen wir mit weniger Zeit hin. Die originalen Toiletten waren komplett zerstört und über die offenen Türen und Dachluken sowie eingeworfenen Fenster war Wasser die Wände runter gelaufen und da drin alles verschimmelt und die Scherben von Fliesen und Sanitäreinrichtung lagen scharfkantig auf dem Boden. Deshalb schalteten wir die Kameras kurz aus und missbrauchten eins der von Vandalismus schwer gezeichneten Büros als Ersatztoilette. Dann öffneten wir ein Fenster über einem Vordach, von dem aus wir uns an den Armen hängend auf die Laderampe fallen lassen konnten, wir waren wieder auf festem Boden und Marius beendete seinen Stream. Ich hatte ihm gesagt, dass ich sowieso nur aufzeichne, er hatte erst mal nicht weiter gefragt.

Am Truck wechselten wir die Kleidung, schlugen den Staub aus den Sachen von eben und steckten sie dennoch in Müllsäcke. Waschen lohnte noch nicht, ich ging davon aus, dass wir bis Philadelphia noch ein paarmal exploren würden. Mit Wasser aus dem Kanister wuschen wir uns zumindest mal Hände, Gesicht und Haare. Dann spendierte ich Marius aus meinem Vorrat Brot, Butter und Käse. Mit seinen Getränken kam er für heute noch hin.

52 Minuten hatte nun das kleine Exploration-Abenteuer, die anschließende Katzenwäsche und Brote schmieren gedauert. Ich beschloss, um nicht noch länger hier zu stehen, während der Fahrt zu essen, wickelte mein Sandwich also in Papier und steckte es erst einmal in die Ablage. Erst einmal im 13. Gang angekommen, brauchte ich zum Fahren nur noch eine Hand.

Um 2:50 PM passierten wir Sacramento und die I-5. Jetzt könnte ich wieder bis 95 rauf zählen, aber so konsequent wie auf dem Hinweg wollte ich das nicht betreiben. Als wir den Donner Pass hinauf fuhren, hing Marius quasi mit der Nase am Fenster wie ein kleines Kind.
„Eigentlich wollte ich hier mit dem Güterzug lang surfen bis an die Ostküste.“ „Vergiss es. Ich weiß nicht warum, aber man soll nicht im Westen surfen.“ „Na toll! Dann kannst Du das ja mir überlassen! Es machen auf Youtube jedenfalls genug.“ „Oder jemanden fragen, der sich auskennt.“ Ich wählte Haydens Handynummer, er ging nicht dran.
Ich wählte jetzt die Nummer seines Feature Phone, als er sich meldete, war zweifellos das Geräusch eines fahrenden Zuges zu hören. „Fall nicht runter.“ „Du hattest schon bessere Zeitpunkte zum Anrufen!“ „Wo hängst Du denn rum?“ „Auf einem Tankwagen in Wilmington auf dem Heimweg.“ Ich erklärte ihm kurz die Situation und er Marius, was los war.
„Das ist da drüben Bandenkrieg. Wenn Du gar kein Bandana auf dem Kopf hast, bist Du ein Fremder. Von Willkommen in Amerika über ausrauben bis abgestochen werden ist alles drin. Wenn Du ein schwarzes hast, meucheln dich die roten und anders rum. Hast Du ein gelbes, darfst Du nur auf alten Atchison Topeka Santa Fe Strecken der BNSF fahren, aber nicht auf ehemaligen Burlington Northern Strecken der BNSF, wo die anderen beiden drauf rum fahren. Und so gibt es westlich von Mississippi und Missouri hunderte verfeindete Gangs, die nur drauf warten, Dich bei 70 mph von dem Zug zu werfen, auf dem Du mit diesem Kleidungsstück gar nicht sein dürftest.“ „Verrückt.“ „Ja. Deshalb solltest Du besser im Osten fahren, wenn Du nicht in einer Zinkkiste den Rückflug nach Europa antreten willst. Ich kenne die Regeln und mache trotzdem am Mississippi Schluss.“ „Hm, schade.“
„Ich habe noch Ferien und will am Dienstag mit dem Expressgüterzug Nonstop nach Atlanta und dann weiter nach Florida runter, ein paar Tage Badeurlaub und wieder zurück. Wenn Du willst und so lange in den USA bleibst, kannst Du mit. Ach, und am Montag hat Caleb erst in die Budd-Waggonfabrik und zum Sonnenuntergang ins Beury Building eingeladen. Könnt Ihr ja beide kommen.“
„Klar, coole Sache. Das Beury wollte ich noch mal machen, bevor der Wiederaufbau losgeht. Muss ich nur den Montag frei nehmen.“


4:15 PM passierten wir den Pass und hatten noch gut Fahrzeit aufgrund meines späten Beginns. Nicht ganz eine halbe Stunde später waren wir in Nevada und ich rastete den Tempomat auf 70. Marius merkte es irgendwann. „Wie schnell sind wir denn?“ „70 mph, das sind nicht ganz 115 km/h.“ „Echt? Bei uns dürfen LKW nur 80. Und eben warst Du auch langsamer.“ „Kalifornien ist für uns ein Scheiß-Staat. Die strengsten Längenbegrenzungen, die dichtesten Kontrollen und das niedrigste Tempolimit. Hier in Nevada dürfte ich auch 80, aber Meilen. Das wäre dann um die 130 km/h. Dann säuft er mir nur zu viel.“ „So schnell dürfen wir in Litauen auf der Autobahn ja mit dem PKW nur im Sommerhalbjahr.“

Auch die Landschaft in Nevada fesselte Marius noch ans Fenster. Und immer wieder war die Southern Pacific Main Line parallel zur Interstate sichtbar.

In Nevada machte die Polizei auch Kontrollen, einen Ford Mustang hatten sie gleich mit zwei Streifenwagen angehalten. Marius wurde immer entspannter, wenn Polizei auftauchte. Das änderte sich noch mal durch das eindringliche Piepsen des WPass. „Was ist das?“ „Der Transponder für die Waage. Wir müssen runter und uns wiegen lassen. Mehr sollte eigentlich nicht passieren.“ „Was kann denn passieren?“ „Fahrzeug- und Personenkontrolle. Ich habe es mal unterstellt, weil Du ja sonst nicht an Immigrations vorbei gekommen wärst. Einen Reisepass mit Stempel oder Visum hast Du dabei?“ „Klar.“
Mit 58,121 lbs. war alles in Ordnung, die Ampel sprang auf grün und ich beschleunigte wieder, bevor sie es sich wegen der zweiten Person im Truck anders überlegten. Die Sonne stand schon ziemlich tief und erzeugte lange Schatten.

Nevada war nicht unbedingt für seine Staus bekannt, aber sogar die gab es hier. Zumindest wenn eine Baustelle eingerichtet wurde.

In Winnemuca hatte ich dann genug. Um 8:21 PM beendete ich den Tag auf dem Truck Stop einer mir genehmen Kette. „Dann buche ich uns erst mal zwei Duschen.“ „Was kriegst Du dafür?“ „Kosten tut sie 15 Dollar. Gib mir 7, eine ist nämlich nach dem Tanken kostenlos.“ Leider gab es nur eine Ermäßigung. Entweder spendierte mir Flying J eine Dusche fürs Tanken oder ich konnte eine für 12 Dollar über die CAT-Kundenkarte buchen, wofür es dann aber ein Heißgetränk on Top gab. Beides zusammen ging nicht innerhalb von 24 Stunden am gleichen Truck Stop.
„Happiger Preis. Nur eine buchen, auch wenn es Dich nicht stören würde, sieht wahrscheinlich doof aus, oder? Ich weiß noch nicht, was mich in Litauen erwartet, aber auch so habe ich nicht die Kohle, um für 10 oder 5 Dollar nur zu duschen. Zumal wir wohl da drin essen werden?“ „Mich stört’s nicht und Nevada ist auch ein eher lässiger Staat was das angeht. Wenn dann stört Dich, dass ich schwul bin!“ „Bleib artig, seif nur Dich ein und wir sparen uns die zweite, okay?“ „Na klar. Erlaubt ist nur, was beide wollen.“
Während der Dusche, die natürlich nur gemeinsam in der großen Kabine, aber nacheinander unter der Brause stattfand, ließ ich mir erklären, was denn nun in Litauen los war. Gefragt hatte ich mich das schon vorher, als die Videos ausblieben und alte von seinem Account verschwunden waren. Jemand hatte den Rettungsdienst und die Polizei gerufen, als er auf einem Schornstein herumgeklettert war. Jetzt hatte er die Rechnung für die angerückte Höhenrettung und einen Krankenwagen am Hals, obwohl es keinen Grund gegeben hatte, dass sie kommen. Zumal die Polizei zugegeben hatte, ihn vorher schon observiert zu haben, also wusste, dass er auch wieder runter klettert und nicht springt, wo er rauf geklettert ist. Da waren die Buchungen für Amerika nur nicht mehr zu stornieren.
„Und Du darfst trotzdem ausreisen?“ „Ja. Ich habe nichts Illegales gemacht. Bei uns gibt es kein Gesetz, das demjenigen, der es macht, verbietet, auf fremden Gebäuden herum zu klettern. Der Besitzer macht sich sogar strafbar, wenn jemand verunglückt und er das Gebäude nicht gegen draufklettern gesichert hat. Es kommt nur eine dicke Rechnung oder nicht für die Anfahrt von Krankenwagen und die Höhenrettung. Ich habe dagegen Widerspruch eingelegt und bis zur Entscheidung des Gerichts mal bestimmte Videos entfernt.“ Das war ein interessantes Gesetz, wusste ich doch selber, dass es so eine Sicherung quasi nicht gab.

Es gab hier ein richtiges Restaurant und so hatten wir dort tatsächlich unser Abendessen. Danach ging es zum Schlafen in die Zugmaschine. Ich musste erst mal mein „Wandregal“ leer räumen, also das obere Bett, damit Marius einen Schlafplatz bekam. Unten in meinem Bett sah ich mir dann noch seinen Stream von heute Mittag an. Heute Morgen hatte er auch zu streamen versucht, aber in Ukiah keine anständige Datenrate und somit keinen flüssigen Stream hinbekommen und aufgegeben.


Montag, 10.09.2018

Der Tag begann mit etwas ungewöhnlichem – Regen in Nevada. Es war allerdings nur etwas Niesel, wahrscheinlich hatte es ein Teil der Wolken geschafft, sich so weit abzuregnen, dass sie über den Donner Pass gekommen waren, aber nicht aufgelöst hatten. Schweren Regen gab es hier oben quasi nie. Wir gingen frühstücken und ich riet Marius noch dazu, im Shop seine Vorräte mit Getränken und ein Bisschen Brot und Belag aufzufüllen. Eigentlich nicht erlaubt, ließ ich meine CAT-Karte scannen, damit er meinen Rabatt bekam. Konnte sowieso keiner prüfen, wer das am Ende gegessen hatte. Dann ging es los.

Nach knapp zwei Stunden hörte der Regen auf. Eine halbe Stunde später wurden wir an der Osino Weighing Station schon wieder raus gezogen. 58,629 lbs. waren natürlich auch längst in Ordnung und wieder kam die grüne Ampel sofort.

Nach 33 Minuten Pause auf dem West Wendover Truck Stop, meldete sich das Navi direkt nach der Autobahnauffahrt. „Crossing Border, entering Utah, changing time zone!” Marius stellte seine Armbanduhr um, die Handys taten das automatisch, sobald sie sich auf einem Mast in Utah einbuchten. Und auch meine Truck-Uhr zog sich über Navi und Bordcomputer die passende Zeitzone. Eine Armbanduhr hatte ich schon länger nicht mehr.

Nachmittags passierten wir Salt Lake City und vor uns bauten sich Berge auf. „Wie hoch geht das denn noch?“ „Da kommt noch gut was. Höchster Punkt der Strecke müsste kurz nach der Grenze in Wyoming sein.

Und von der anderen Seite war die Landschaft dann eine Katastrophe, denn 10 Meilen nach dem Divide spuckten einen die Berge aus in endloses Flachland und von dort fuhr man eine nicht merklich geneigte Tischplatte über hunderte Meilen runter bis an den Missouri River. Meile um Meile vorwärts, Fuß um Fuß bergab, ohne dass es ein Anzeichen für dieses Gefälle gab.

Nach knapp einer Stunde erreichten wir dann Wyoming und bei Sonnenuntergang hatte ich genug. Außerdem wollte und konnte ich mir am Wochenende keinen Jetlag erlauben. So waren noch 3 Stunden auf der Uhr, als ich den Flying J in Rock Springs ansteuerte. „So, heute gibt es zwei Duschen. In Wyoming sind sie nicht ganz so tolerant wie in Nevada.“ Das war noch eine Untertreibung. Außerhalb des konföderiertesten Südens gab es kaum eine konservativere Ecke als hier. Um die Kasse von Marius zu schonen, gab es dann warmes Abendessen bei McDonalds nebenan.


Dienstag, 11.09.2018

Das Frühstück bei Dennys am Truck Stop direkt ließ ich mir aber nicht nehmen. Und auch Marius sah ein, dass McDonalds da keine Alternative war. Kurz nach 7 Ortszeit waren wir wieder auf dem Highway, nun wurde die Landschaft, die meinen Beifahrer die letzten Tage so fasziniert hatte, umso eintöniger. Mit Nebraska, dem Inbegriff eintöniger Landschaft überhaupt, konnte ich dann auch den nächsten neuen Transitstaat auf meiner Landkarte markieren.

Nach Rock Springs (WY) kam nun Big Springs (NE) an die Reihe, denn auf dem dortigen Flying J tankte ich für 3.07 $ die Gallone voll und wir machten unsere gesetzlich vorgeschriebene Pause von mindestens 30 Minuten. Zum Glück war Marius wie ich auch in der Lage, stundenlang zu fahren ohne Pause machen zu müssen. Ich schlug vor, dass wir Sandwiches im Truck essen sollten.

Nach der Weiterfahrt erinnerte mich eine Werbetafel an meinen inneren Konflikt. Ursprünglich hatte ich ja davon geträumt, eine große Transportfirma zu haben. Und so ganz glücklich war ich mit diesem eher kleinen Truck auch nicht. Er war größer als ein W900 oder 389, aber das war’s dann schon. Eigentlich wollte ich aber einen anderen Truck.
Aber verkaufen konnte ich ihn nicht. Wenn ich die Marke wechseln wollte, dann mussten diesen jemand anders fahren und ich doch die Verantwortung für mindestens mal einen Angestellten übernehmen. Und dazu brauchte ich eine andere Halle. Die wäre sowieso nicht schlecht, denn meine war für den aufstrebenden Stadtteil ein Schandfleck. Und wenn ich mal nachrechnete, was ich an Miete sparen könnte, wenn ich in der Halle wohnen würde, tat sich auch schon wieder eine Geldquelle für die Finanzierung auf. Vielleicht sollte ich doch mal rechnen oder rechnen lassen.

„Da oben hat man bestimmt einen schönen Ausblick. Nur zu sehen gibt es nichts außer Mais- und Getreidefeldern.“ Grund für diese Bemerkung war ein Getreidesilo. Die legendär langweilige Landschaft Nebraskas hatte schon Stephen King zu seinen „Kindern des Zorns“ inspiriert.

Der Tag neigte sich durch die Fahrt Richtung Osten schnell dem Ende. Schon stand die Sonne tief am Himmel.

Auch wenn die Uhr schon auf 6:40 stand, wollte ich nicht auf den Don & Randy Truck Stop in Lincoln. Erstens gab es da sowieso keinen Rabatt und zweitens wollte bestimmt nicht nur ich zusehen, ob sich nicht noch eine Gelegenheit für Exploration in Omaha fand.

Direkt an der I-80, schon neben der Abbiegespur auf die US-75, stand ein riesiger Getreidesilokomplex, von ebenso riesigen Graffiti überzogen. Dass sich Marius beim Anblick nicht seinen Pullover voll sabberte, war eigentlich alles. Im Norden sah ich nur Wohngebiet drum herum, im Süden aber Industrie. Also zog ich in einer heißen Aktion über 3 Spuren auf die US-75 South und sofort danach in der Ausfahrt Highland Park runter. Rechts ein aktives und links ein weiteres stillgelegtes, an Getreidesilos herrschte hier kein Mangel.

Ich stellte den Truck ab, wir stiegen schnell in die ohnehin eingestaubten Klamotten und machten uns schon mit Taschenlampen im Gepäck auf den Weg.

Es waren knapp 15 Minuten zu laufen. Als wir eine halbe Stunde später oben auf den Silos waren, war die Sonne schon untergegangen und wir konnten nur noch das Abendrot sehen. Also genossen wir den Ausblick auf die Lichter von Omaha und erkundeten die Anlage dann noch mit Taschenlampen.

Zurück am Truck packte ich den Gasgrill aus, setzte statt dem Rost die Kochplatte drauf und machte zwei Dosen Eintopf warm. In der Zwischenzeit machten wir wieder Katzenwäsche aus dem Kanister, aber diesmal eine größere, um nicht so viel Staub und Schmutz mit in die Betten zu nehmen.


Mittwoch, 12.09.2018

Schon vor Sonnenaufgang klingelte Marius Handywecker. „Was ist los?“ „Ich will von dem kleinen Silo direkt nebenan den Sonnenaufgang sehen.“ „Also gut.“ Ich quälte mich aus dem Bett, machte mich bereit für Exploration und wir gingen los. Das Silo war zwar an eingeworfenen Scheiben und Graffiti leicht als stillgelegt auszumachen, aber es stand mitten in einem aktiven Güterbahnhof.

Dennoch war der Aufstieg ein Kinderspiel. Das Dach war Marius noch nicht genug, er wollte unbedingt auf das alte Krangestell des Aufzugs. Das war kein Anfängeraufstieg, aber auch nichts Schwieriges. Allerdings würde er dort oben für Bahnarbeiter und Passanten auf dem silbernen Tablett stehen. „Warte, das ist gefährlich…“ „Du kannst ja unten bleiben, wenn Du Dich nicht traust!“ Bevor ich die Gefahr erklären konnte, war er weg.
Ich beschloss also, mal Ausschau nach den wirklichen Gefahren zu halten und außerdem seinen Stream anzuwerfen. Dort lamentierte er über sein Lieblingsthema. Wenn jemand ihm sagte, dass etwas zu gefährlich war, sah er nämlich rot. Das sollte jeder für sich ausmachen, aber nicht auf ihn übertragen. Ein Bisschen verhöhnte er mich, dass ich, wenn ich so feige war, doch komplett auf dem Boden bleiben sollte und so weiter. Sein Text-To-Speech-Ei glühte von Kommentaren in beide Richtungen. Das war auch so eine seiner Einnahmequellen. Ein Kommentar, den Nutzer eintippten und der dann darüber vorgelesen wurde, war mit einer Spende an ihn verbunden.
Die einen wurden sogar komplett beleidigend mir gegenüber und dass ich ja eine Schande für die Explorer wäre. Andere, deren Nicknames ich als Amerikaner erkannte und deren Channels ich auch kannte, waren eher meiner Meinung und wiesen drauf hin, dass hier andere Gesetze galten als in Litauen und die auch anders umgesetzt wurden.

Na warte, Freundchen! Du kennst mich nicht, aber ich kenne Dich! Und ich kenne auch Deine Ängste, sofern Du sie verraten hattest. Kontrollverlust war eine davon. Ich blieb auf seinem Stream und hatte mir ja sowieso Kopfhörer aufgesetzt. Also tat ich, als Marius nach Sonnenaufgang durch Arbeiter unentdeckt von dem Gestell abstieg, so als würde ich Musik hören. Er schluckte es: „Da sitzt Malik und hört Musik.“ „Schleich Dich an und erschreck ihn doch!“ Er schlich sich also wie über Text-to-speech gewünscht sehr langsam an und schien mir wirklich einen Schrecken einjagen zu wollen.
Ich hielt mein Handy so, dass er es nicht sehen konnte und ich konnte dafür drauf sehen, was er wirklich sehen konnte. Und so spielte ich mit der freien Hand Luftgitarre und zitierte mit zwar nicht ganz so tiefer, aber ebenso gruseliger Stimme wie auf der Aufnahme den Anfang eines Metal-Liedes, sowieso nicht seine Musik. Zu meiner Freude war es schon komplett in Marius Stream zu hören, der zwei oder drei Schritte hinter mir stehen blieb, um zuzuhören, als ich anfing.

To protect all that is dear to you,
you can lock every door,
close every road,
suspect every stranger,
but no matter how safe you think you are…
there is one deadly threat,
you cannot keep out,
and that is…
Your! Own! Fear!


(Luca Turilli’s Rhapsody – Of Michael The Archangel and Lucifer’s Fall, Luca Turilli, Nuclear Blast Records, 2012)

Als ich mich auch noch zu der Textstelle „und das ist… Deine! Eigene! Angst!“ umdrehte und auf ihn zeigte, als er noch einen Schritt von mir entfernt war, sah ich im schwachen Sonnenlicht, dass ihm die Kombination aus Textzitat und meinen scheinbaren Augen hinten die Farbe etwas aus dem Gesicht rutschen ließ. Und ich war noch lange nicht fertig mit ihm.

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