Der Test hatte wohl ergeben, dass mein Truck entweder nicht so schlimm im Verbrauch war oder dass das Einsparpotenzial in den Kaffeekassen all der Betriebe, die Casey wieder freischleppen mussten, größer war als bei den Tankstellen, die ich ansteuerte. Gerade wo es jetzt auf den schlammigen Herbst und dann den in manchen Regionen schneesicheren Winter zuging. Jedenfalls stand nach einigen Wochen ein nagelneuer Freightliner mit 6×4-Antrieb auf dem Hof und unser Latino-Kollege tanzte drum herum wie ein kleines Kind.
Der große Flatbed kam mir dann auch mal auf die Platte. Der hatte, nachdem die alten Felgen nichts mehr waren, auf Brians Wunsch von Isaac rot eloxierte Felgen, blaue Nabenkappen und weiße Radmuttern verpasst bekommen, die Farben der USA. Das passte nicht so wirklich zu Evans und meiner Zugmaschine mit gelber Deko, aber auch bei Casey waren mit dem neuen Truck schon die Farben der USA eingekehrt. Oregon war gestern, heute stand das ganze Land auf der Agenda.
Dass es nun in das ganze Land ging, merkte ich auch daran, dass sich die Anzahl der nicht besuchten Mainland 48 Bundesstaaten auf 3 reduzierte. Denn ich kam inzwischen bis Montana. Lustig daran war nur, dass ich dabei das Kunststück fertig brachte, nie in Idaho zu laden sondern immer durch fuhr.

Ich hatte inzwischen beim Ausräumen der teils nur weggestapelten Umzugskartons einige Dinge aus meinem alten Truck wiedergefunden. Neben meinem Stiftehalter in Form eines Minipapierkorbs auch die Dekogegenstände. Nun war zwar das topfebene Armaturenbrett eine dankbare Oberfläche für den Klebefuß des Tablets und auch den auf einem Powerstrip fixierten Drahteimer mit den Stiften, aber mit der Deckenverkleidung war kein Staat zu machen. Auf der Struktur hielt sowieso kein Saugnapf und auch der Rekord, bevor mein Plüschbagger mitsamt Klebehaken für das Aufhängeband haltlos in den Beifahrerfußraum stürzte, lag bei ca. 20 Minuten.
Montana war ein Staat der zwei Gesichter. Während an der Grenze nach Idaho keine Fragen aufkamen, warum der denn vom lateinischen Wort für „bergig“ abgeleitet war, führten mich meine Touren auch bis Havre, wo es nur noch grasbewachsene Hügel gab.

Nach ein paar Wochen zog ich mal optisch nach, ließ mir von Brian eine Dose roten Lack und weiße Steckkappen für die Radmuttern kaufen. Danach war meine Zugmaschine auch im USA-Style.
Durch den September und Oktober hindurch begann das Privatleben allgemein etwas zu leiden. Durch einige Verkleinerungen oder komplette Geschäftsaufgaben von Spediteuren im Raum Oregon-Nordkalifornien war das Transportvolumen stark gestiegen. Evan, Casey und ich nutzten gnadenlos unsere 70 Stunden in der Woche aus, hatten Außen-Reset und manchmal blieben wir auch mehrere Wochenenden hintereinander draußen.
Brian musste uns dafür an die Arbeit bringen und selbst entsprechend die Dispo machen. Außerdem ließ er Bewerber für einen vierten Fahrerjob kommen, was aber erst einmal keinen Erfolg hatte.
Alex war jetzt zwar nicht mehr sonderlich beschäftigt, weil die Holzvorräte soweit aufgebraucht waren und der Neueinschlag erst in einigen Wochen begann, aber musste seine Überstunden abfeiern. Und weil wegen der weltbekannten Probleme bei seinem Arbeitgeber Boeing mit der neuen 737 MAX sein Cousin Lesha in der Hauptverwaltung in Chicago mit den Nerven runter und den Überstunden rauf war, hatte sich Alex in jeweils ein Flugzeug der Wettbewerber Embraer und Airbus gesetzt und war rüber geflogen, um seinen zumindest geographisch nächsten Verwandten mental und aktiv im Alltag zu unterstützen.
Und auch der hiesigen Luftfahrt ging es schlecht. Bei Mercy Flights hatte einer der Piloten seine ATPL gemacht und war von den zweimotorigen Turboprops mit im Krankentransport mehr von Idealismus denn einer guten Bezahlung getriebenen Besatzungen zu den Besserverdienern bei den Linienfliegern von Alaska Airlines in Seattle gewechselt. Das hieß erst einmal mehr Flugstunden und vor allem viel mehr Bereitschaftsdienst für die Verbliebenen, insofern war Danny auch in Sachen Freizeit weitestgehend aus dem Verkehr gezogen.
Isaac schließlich hatte sich ein Luxusproblem geschaffen. Denn er machte gute Arbeit, klotzte teilweise auch am Wochenende ran für gute Kunden, anfangs getrieben von der Sorge, dass man den Jungspund am Truckstop nicht ernst nehmen könnte. Und wie in den meisten Bereichen bedeutete gute Arbeit, dass die Kunden das weiter erzählten. Und das bedeutete, dass mehr Leute diese gute Arbeit in Anspruch nehmen wollten. Und deshalb hatte er auch immer die Bude voll stehen. Und auch er brauchte dafür neues Personal sowie mehr Zeit für seine Bürotätigkeiten, wenn er nicht sowieso im aktiven Geschäft mit anpackte.
Erst in den November hinein ergab sich wieder bei den meisten von uns ein entspannterer Ablauf. Allerdings war das Jahr nun auch ziemlich vorbei.
Nachdem ich damals mit dem Oldsmobile via Campingplatz am Lake Mead vorbei gefahren war und meine Eltern in dieser Stadt des Lasters keinen Urlaub verbrachten, sah ich in dieser Zeit außerdem das erste Mal in meinem Leben Las Vegas.

Ein Bisschen vermisste ich meinen Indian Summer aus dem Osten. Während es in Pennsylvania das gesamte Spektrum von noch grün über Herbstlaub je nach Baum von gelb über orange, hellrot und dunkelrot bis braun gegeben hatte, war hier alles, was schon Herbstfarben hatte, irgendwie gelb, hellorange und hellbraun.

Generell hatte Oregons Süden trotz seiner Lage ein unerwartet warmes Klima. Die Berge zu beiden Seiten schatteten alles ab, es gab außer unmittelbar an der Küste relativ wenig Regen, die Durchschnittstemperaturen waren nicht mal im Winter negativ, im Sommer dafür recht warm. Es galt als Mittelmeerklima und die typische Landwirtschaft um Medford waren Weinberge und Pfirsichplantagen – auch wenn sich seit der Legalisierung von Marihuana in Oregon eine merkliche Bewegung auf noch lukrativere Gewächse zeigte.
Eine Premiere war dann Thanksgiving. Zum ersten Mal seit ich einen eigenen Haushalt hatte, würde ich weder alleine feiern noch würde mich Randy besuchen kommen. Ganz nach der Tradition feierten wir mit der Familie, nämlich zusammen mit unserer Mutter bei meinem Patenonkel Kieran, dem Bruder unserer Mutter, in Bakersfield.
Weil ich mit dem Flugzeug bis Bakersfield oder mit dem Flugzeug nach San Francisco, BART nach San Leandro und dann mit Randy im Auto genauso lange brauchte wie mit dem Auto die ganze Strecke, setzte ich mich in meinen Pickup und fuhr runter. Okay, am Ziel in dem gehobenen Viertel zwischen den Neuwagen, elegante Mercedes E und C Limousinen von Onkel und Tante, Mums Alfa Romeo Stelvio Crossover und Randys Lexus LC Coupé, wirkte mein 7 Jahre alter Silverado etwas hemdsärmlig. Lediglich der 2014er Camaro ZL/1 unseres Cousins machte auf seine sportliche Art einen ähnlich raubauzigen Eindruck.
Allerdings war mein Onkel ohnehin jemand mit Ecken und Kanten. Dem war egal, was vor seiner Tür parkte, es kam auf die Leute an, die drin saßen. Und dass man ihn zumindest im Privatleben über Äußerlichkeiten kreuzweise konnte, dürften die lieben Nachbarn auch längst wissen. Als Unternehmensberater musste er beruflich dennoch Standards einhalten.
Meine erste Familienfeier im größeren privaten Rahmen seit 7 Jahren war irgendwie befreiend. Ich hatte mir sowohl damals in Philadelphia als auch jetzt in Medford meine Ersatzfamilien aufgebaut, aber das blöde daran war, dass die mich an diesem Termin immer hatten spüren lassen, dass ich alleine war und sie echte Familien hatten.
Okay, in Philadelphia hatte mich dann immer Randy besucht, Weihnachten und Silvester feierte ich üblicherweise mit Vollwaise Ralph und Elternverweigerer Caleb. Insofern tat mir gerade Evan etwas leid, weil er sich auch mit seinen Eltern zerstritten hatte und niemand in Medford geblieben war. Brian war nach Cleveland zu seinen Eltern geflogen, Alex zwar zu Hause aber der hatte Lyosha zu Besuch. Casey war mit seinen Eltern zur Oma nach Sacramento, Danny in Harrisburg bei seinen Großeltern und Isaac in Reno bei seinen Großeltern, wo auch seine Eltern aus Pennsylvania zu Besuch hingekommen waren.
Unser Vater und Onkel Kieran verstanden sich nie wirklich gut, daher hatte es über Jahre keine gemeinsamen Familienfeiern gegeben, wenn es nicht gerade besonders außergewöhnliche Anlässe wie runde Geburtstage, Silberhochzeiten oder Randys Universitätsabschluss waren. Jetzt, mit dem eingeleiteten Scheidungsverfahren, hatte unsere Mutter wieder intensiveren Kontakt zu ihrem Bruder aufgenommen und sie trafen sich zu allen möglichen familiären Anlässen.
Nach diesem Familienfest lag es in der Natur der Sache, dass Weihnachten auch schon vor der Tür stand. Brian fragte uns, wie unsere Pläne waren. Casey wollte bis einschließlich Heilig Abend fahren und ab dem 02.01. wieder. Ich hatte mir für zwei Wochen was vorgenommen, die vielen Fahrten vor Thanksgiving hatten mein Bankkonto ganz gut gefüllt Außerdem hatte ich mir Pläne gemacht. Evan wollte durchfahren, praktisch für Brian war, dass der sich dank seiner Berufserfahrung als CAT-Disponent aus Boston selbst disponieren konnte. Irgendwie tat mir Evan leid.
Die drei nächsten Wochen waren dann ereignislos. Noch eine und das Jahr 2019 wäre aus Arbeitssicht geschafft.
Sonntag, 15.12.2019
Erst einmal hatte ich am Wochenende eine längere Diskussion mit einem überraschend perspektivlosen Marius in Litauen. Er hatte im Spätsommer 2019 den Gipfel der Urban Exploration erreicht und war mit einem seiner litauischen Hobbykameraden und jemand aus Kiew als „Fremdenführer“, der das schon dreimal mehr oder weniger erfolgreich durchgezogen hatte, illegal in Pripyat und auf der Funkpeilanlage Duga gewesen, beides im Sperrgebiet von Tschernobyl gelegen. Das war so ziemlich die weltweite Krone der Urban Exploration.
Und wie das so war mit den gekrönten Häuptern, fehlte ihm jetzt eine Perspektive, weiter zu machen. Immerhin war das Maximum erreicht. Vielleicht sollte er sich mal um sein Studium kümmern, denn irgendwann würde es so oder so vorbei sein, sich sein Leben mit Patreon-Spenden für Youtube-Videos zu finanzieren.
Montag, 16.12.2019
Brian war schon im Büro, als ich kam. „Guten Morgen Brandon. Letzte Woche für dieses Jahr.“ „Ja. Seit ich wieder Familienkontakt habe, freue ich mich auch auf Weihnachten. Und auf dem Rückweg gibt es noch einen kleinen Zwischenstopp in San José für Eishockey.“
„Was hast Du Silvester vor?“ „Philly, warum?“ „Wegen Evan. Der ist die gesamte Zeit alleine unterwegs, weil er hier eh niemanden hat außer uns und der Clique. Ich habe gedacht, dass wir dann wenigstens den Jahreswechsel mit unseren Freunden zusammen hier auf dem Gelände feiern sollten. Kam mir leider spontan, Casey, Alex und Danny haben schon zugesagt, Isaac hat noch gar nicht geantwortet. Eine Firma und Freunde können nie eine intakte Familie ersetzen. Aber gute Kollegen und gute Freunde können trotzdem ein Rückhalt sein.“ „Das ist wohl richtig.“ „Schade, dass Du nicht dabei sein kannst. Aber da bin ich selbst Schuld mit meiner spontanen Idee.“
Brian legte mir die fast leere Dokumentenmappe hin. Die wurde ja erst im Laufe der Woche voll, nur die Dokumente für meinen ersten Auftrag hatte er schon ausgedruckt, es ging bei Home Depot los und zu FedEx in Fresno (CA) mit Haushaltsgeräten. „Du darfst als erster unseren neuen ausführen.“ Es hatte letzte Woche einen neuen Dryvan-Trailer gegeben, jetzt nur noch 48‘ lang, weil man mit dem überlangen 53‘ in Kalifornien sowieso nicht sinnvoll fahren konnte. Brian würde dann eher ein STAA Double kaufen, wenn er mehr Kapazität wollte. Das konnte man auch in Kalifornien voll auslasten, ohne Achslasten zu überschreiten, beim 48er ging das auch. Der 53er durfte aber die Achsen nicht ganz hinten haben in Kalifornien, aber dann konnte man nicht voll beladen, sonst war man auf den Antriebsachsen der Zugmaschine zu schwer.
Er fragte noch: „Und sonst? Auf dem Land angekommen?“ „So klein ist Medford ja auch nicht. Es gibt hier alles, was man braucht.“ „Aber kleiner als San Diego oder Philadelphia. Ich kenne das noch extremer ja auch in die andere Richtung. Key Largo hatte 10.000 Einwohner und dann kam der Kulturschock von Cleveland, immerhin ein guter Zwischenschritt bevor ich nach Boston bin. Aber sogar ich musste mich wieder etwas auf Landei umstellen, als ich hier her gekommen bin.“ „Umstellen ja, aber so wild war es nicht, ich bin halt sowieso selten hier, weil die ganze Woche und manchmal länger unterwegs. Außerdem kann man hier viel besser Motorradtouren planen und Autorennen fahren. Ich kriege beim Anblick einer Großstadt mit schöner Skyline immer wieder mal Gedanken ans Stadtleben, aber wenn Du plötzlich auf die Idee kämest, mich in einer Großstadt stationieren zu wollen, dann müsste ich mir das sehr gut überlegen.“ „Keine Sorge, expandieren wollte ich so schnell nicht. Zumindest nicht auf andere Standorte.“
Was mir Isotrak anzeigte, während ich die PTI machte, hatte ich ja schon in der Dokumentenmappe gelesen. Ein Bagger im Sägespänelager der Holzfabrik grüßte mich beim Abbiegen mit den Arbeitsscheinwerfern. Ich ging davon aus, dass es Alex war und schaltete einmal kurz die Rundumleuchten an.
Die Ladung war ziemlich leicht, also tankte ich erst mal bei Isaac am Truck Stop voll, bevor es in den teuren Nachbarstaat ging. Am California Point of Entry wurde mal wieder mein Kühlschrankinhalt kontrolliert.
Ohne Transponder musste ich an jeder Waage abfahren und wenn sie mich nicht haben wollten über die Nebenspur an der Waage vorbei, in Colusa County sogar auf die Waage, durfte aber sofort weiter mit meinen 56,464 lbs. Nach der Mittagspause auf der Elkhorn Rest Area ging es noch weiter bis ans Ziel in Fresno. Die Küchengeräte wurden entladen und dann schickte Brian mich schlafen.
LOCATION: CAFRE
ACTION: 10H BREAK
DISPATCH: ORMFR-PCT-BRW
Also musste ich so schnell wie möglich wieder los, was gegen 6 war. Die 15 verbleibenden Minuten für heute bedeuteten aber auch, dass ich nicht mehr weit kommen würde, definitiv nicht zum Truck Stop. Ich stellte den Truck hier im Gewerbegebiet ab und würde mal wieder eine Nacht mit „Wildcampen“ verbringen müssen.

Dienstag, 17.12.2019
Schreck in der Morgenstunde, denn der neue Auftrag wurde wie immer eingespielt, während ich die PTI machte. Und der hatte es in sich.
PICKUP: CAFRE-FEX
DESTIN: MXESE-XYZ
TRAILER: DRY48
LOAD: TV SETS
WEIGHT: 32,347
DISPATCH: ORMFR-PCT-BRW
Der Code bedeutete nämlich Mexiko – Ensenada. Empfänger schien nach einem ersten Blick ins Navi ein unabhängiger Einzelhändler zu sein. Also machte ich mich erst mal wieder auf den kurzen Weg zu FedEx, ließ mir die Fernseher aufladen, verschob die Achsen weiter nach hinten und war dann auf der Straße nach Süden.
Irgendwann rief Brian an: „Guten Morgen.“ „Guten Morgen, Brandon. Ich sehe, Du bist schon unterwegs.“ „Ja. Danke für die nicht erhaltene Vorwarnung.“ „Das wusste ich selbst noch nicht genau, als ich Dich gestern hier verabschiedet habe. Der Auftrag war zwar schon vorgemerkt, aber ich hatte die Hoffnung, noch was Gutes im Inland zu kriegen.“ „Und warum ich?“ „Weil Casey nicht zu Hause war am Wochenende und Evan kein Wort Spanisch spricht, ganz im Gegensatz zu Dir, der es zumindest mal als Fremdsprache gelernt hat.“ „Und deshalb darf ich jetzt ins kalte Wasser springen? Ich habe schon so einiges über Mexiko und vor allem die Grenzabfertigung gehört. Wenig davon hat mir gefallen.“ „Es gibt genug, die das regelmäßig machen. Im kalten Wasser lernt man aber schnell schwimmen. Du machst das schon.“
Am frühen Nachmittag war ich also zum ersten Mal, seit ich 2012 hier weg gefahren war, wieder in San Diego. Meiner Mutter hatte ich erst gar nichts davon erzählt, die würde sich sonst nur noch mehr aufregen als ich selbst. Allenfalls hielt ich vorsichtig Ausschau nach einem cremefarbenen Alfa Stelvio Crossover, um rechtzeitig den Kopf einziehen zu können, sie kannte meinen aktuellen Truck ja sowieso nicht.
Nach zweimal einer knappen Viertelstunde Grenzkontrolle hieß es dann „Willkommen in Mexiko“, das war die einfache Richtung.

Meine Fahrt durch Tijuana war entspannt, hier war ich auch einer von einigen Amerikanern. Es stimmte zwar, dass Mexikaner das in der Theorie billiger machten, aber es war wohl auch so, dass die in der Praxis mehr Aufwand betreiben mussten, um sich einen Ruf zu erarbeiten, die Zollkontrollen auf amerikanischer Seite in Grenzen zu halten. Insofern gab es auch genug Amerikaner, die Transporte über die Grenze durchführten. Danach ging es an der Küste entlang, wo sich Hotel an Hotel reihte.
Am Ziel war es dann gut, dass Brian mir den Job gegeben hatte, denn Evan hätte sich hier nun händisch und füßisch verständigen müssen. Der Lagerist bei dem Laden sprach nämlich kein Wort Englisch und war entsprechend froh, als ich ihn schon Spanisch begrüßte.
In Mexiko war es auch nicht ganz so schlimm mit den Beschränkungen für Fahrer, die in den USA bei manchen Kunden ja froh sein konnten, wenn sie während der Entladezeit auf die Toilette durften. Schlimmstenfalls musste man warten, bis man entladen war und dann einmal um den Markt herum kurven, nur damit vorne keine Parkmöglichkeit für LKW war.
Nachdem ich also aus dem Sanitärbereich zurück war, setzte ich mich versicherungsrechtlich bedenklich auf die Mauer und ließ Füße wie Seele über dem Abgrund baumeln, während ich aufs Meer blickte. Entladen werden, wo andere Leute Urlaub machen.

Was war 2019 nur für ein Jahr gewesen? Es machte 2013 jedenfalls deutlich Konkurrenz. Im Januar hatte ich noch, als Folge des Jahres 2013 an der anderen Küste gelebt und war frisch verliebt. 2 Wochen im Jahr habe ich das der Person gestanden, 3 weitere Wochen danach war er beim Trainsurfen ums Leben gekommen. Dass mir das nicht beim Streetclimb auch passierte, hatte nur daran gelegen, dass meine Kumpels Caleb und Tristan nicht den Kopf verloren sondern Tristan Caleb dazu brachte, anonym den Notruf zu wählen, als ich von einer Brücke in den eiskalten Fluss gestürzt war. Ein Pfadfinderlager unterhalb der Brücke wurde von den Behörden auch verständigt und sie zogen mich an Land.
Als ich nach Wochen aus dem Krankenhaus raus kam, war meine Firma pleite, auch weil ich in den 4 Wochen zwischen Wesleys und meinem eigenen Unfall im Selbstmitleid zerflossen war und dabei meinen Vertrag mit Caterpillar überstrapaziert hatte. Trotz Anstrengungen von Bruder Randy, meines Kumpels Tristan und – wen ich nie auf der Rechnung gehabt hätte, meines eher lockeren Freundes und schwarz für mich arbeitenden Mechanikers Isaac – war das nicht abzuwenden.
Eine Rückkehr zu CAT war, auch mit neuer Firma, unmöglich. Teamleiter meines Gebiets war nun Shen, vorher unter Brian einfacher Disponent, der jetzt mit eiserner Hand disponierte und mich wissen ließ, dass ich unerwünscht bei ihm war.
Brian selbst war nach Medford, Oregon gezogen und hatte die Spedition seines überraschend verstorbenen Opas übernommen, Disponent Evan als Fahrer gleich mitgenommen. Und auch Isaac hatte zufällig einen Weg hier her, denn sein Onkel setzte sich zur Ruhe und gab seinen Truck Stop mit Tankstelle, Werkstatt und Freightliner / Western Star Verkauf auf. Also zogen wir in der letzten Aprilwoche zusammen von Philadelphia nach Medford um, er ins Haus seines Onkels, ich in ein gemietetes.
Randy hatte damals als Renovierungshelfer und für den Einzug alle möglichen Freunde mobilisiert, auch Christian aus Kanada und sogar Marius aus Litauen waren da. Kurz zuvor hatte der auf neben Isaac nur drei wahre Freunde zusammen geschrumpfte Freundeskreis in Philadelphia geholfen. Da hatte ich erst gemerkt, wie viele Freunde ich wirklich hatte und wie viele davon in Oregon waren oder es in einer Woche geworden waren. In den folgenden Wochen und Monaten erweiterte sich der Freundeskreis noch um Sägewerker Alex und Rettungsflieger Danny.
Der „Rückschritt“ ins Angestelltenverhältnis hatte mir nichts ausgemacht. In Amerika sah man das sowieso nicht so verbissen wie in Europa. Ich hatte soweit ein sicheres Einkommen, einen immer gut gewarteten Truck und das auch noch von meiner Lieblingsmarke, die ich seinerzeit durch einseitige Erfahrungen bei Costco und das dumme Geschwätz von Kollegen über das Image der einzelnen Marken verschmäht hatte, was ich schon bereute, als ich noch meinen Peterbilt 579 fuhr und merkte, wie viel Platz die anderen so boten.
Und das großartigste an diesem Jahr war die Scheidung unserer Eltern. Klingt komisch, ist aber so. Nacheinander hatten sich erst ich und dann Randy von unseren Eltern abgekapselt. Schon auf Randys Abschlussfeier im September 2018 wurden unserer Mutter die Augen geöffnet und Anfang dieses Jahres reichte sie die Scheidung ein. Dadurch wurde ihr Verhältnis zu Onkel Kieran wieder besser und Thanksgiving war für mich die erste richtige Familienfeier seit 6 Jahren, für Randy seit 2 Jahren, als er 2017 nicht mehr von der Universität zu Weihnachten nach Hause fuhr und sowieso Thanksgiving schon seit 2013 mit mir als Männerabend in Philadelphia gefeiert hatte. Weihnachten würden wir im kleinen Kreis nur mit unserer Mutter in San Diego feiern.
Und bei diesen Gedanken an meine tolle neue Heimat fasste ich einen Entschluss. Ein Telefonat und einen Login im Kundenportal auf dem Tablet später war alles erledigt. Ich rief Brian an: „Hallo Brandon. Was gibt’s? Ich glaube nicht, dass ich Dich heute noch da weg kriege.“ „Deshalb rufe ich auch nicht an. Ich bin Silvester dabei.” „Wie jetzt? Ich dachte, Du bist in Philadelphia?” „Habe umgebucht. Ich fliege erst Neujahr und treffe meine Freunde nur zum Skifahren. Sie haben mich sogar darin unterstützt, hier zu bleiben und mit meinen neuen Freunden Silvester zu feiern.“ „Dann lohnt das doch gar nicht mehr? Und was würde dieses schwedische Mädchen dazu sagen?“ „2 Tage fliegen, um 3 Tage Ski zu fahren. Was sie sagt, weiß ich nicht, denn sie weiß es nicht und kennt mich nicht. Ich sage dazu mal „Yes, I dare!“ Aber das will ich dann doch durchziehen, um meine alten Freunde zu sehen. Wer weiß, wann Du mich mal wieder bis an die Ostküste schickst und dann auch noch nach Pennsylvania.“ „Ich weiß nicht. Aber wenn ich Dich mal dicht genug in der Gegend habe, verspreche ich Dir einen Reset in Philadelphia.“
Nach dem Entladen war trotz noch 3 Stunden Fahrzeit für heute Schluss. Brian hatte es ja schon angekündigt.
LOCATION: MXESE
ACTION: 11H BREAK
DISPATCH: ORMFR-PCT-BRW
Gegenüber einer Tankstelle am Strand fand ich einen Stellplatz, die Dusche und Toilette der Tankstelle konnte ich gegen eine kleine Gebühr nutzen.
Mittwoch, 18.12.2019
Ich machte eine besonders gründliche PTI. Immerhin dürfte ein amerikanischer Truck Flüchtlinge anziehen wie das Licht die Motten. Ich war aber sauber. Der neue Auftrag ging zurück in die USA, was logisch war, durfte ich doch keine Binnenfracht in Mexiko fahren.
PICKUP: MXESE-XYZ
DESTIN: AZPHX-WAL-CW
TRAILER: DRY48
LOAD: CANNED FOOD
WEIGHT: 41,314
DISPATCH: ORMFR-PCT-BRW
Bauernhöfe fingen früh an. Ich hatte meine Bedenken, ob man mich um 5:30 schon beladen konnte, aber es war alles bereit. Um 20 nach 6 war ich also auf dem Rückweg zur Grenze.
Mit der Hilfe eines alten Hasen von Transportes Morales, einer seit Jahrzehnten im USA-Verkehr aktiven Spedition aus Mexico City, der auch seinen Sohn anlernte, ging es wirklich recht schnell durch den mexikanischen Zoll, ein Grenzer kam noch mit, meinen Truck zu begutachten und schickte seinen Diensthund einmal drum herum. Dann durfte ich vorziehen und kam in der Schlange zwischen Enrique und Carles, den beiden Morales-Fahrern raus.
Auf der US-Seite musste man sich erst mal anmelden, kam dann erst mal als Person an die Reihe bei Immigrations. Für mich als US-Amerikaner gar kein Problem, Carles kam auch schnell durch, Enrique wurde bei seiner Ersteinreise in die USA auf Arbeitsvisum etwas stärker gefilzt. Dann dauerte es eine Ewigkeit, bis wir mit einem Pager benachrichtigt werden sollten, dass wir zur Fahrzeugkontrolle vorziehen sollten. Also setzten wir uns in den Warteraum auf dem Fahrzeugplatz und hielten Smalltalk.
Mein Pager ging los, ich verabschiedete mich von ihnen und zog vor in die Kontrollstation. Nach den mehr als 20 Minuten in dem Warteverschlag wurde nun noch mal eine Viertelstunde lang mein Truck gefilzt auf alles Mögliche. Flüchtlinge, Drogen, die übliche Schmuggelware wie Zigaretten und Alkohol. Knapp eine Stunde nachdem ich von der öffentlichen Straße auf den mexikanischen Grenzposten gerollt war, verließ ich nun den amerikanischen in Richtung öffentliche Straße.
Meine Rennfahrerreflexe waren dann bei Juma gefragt, wo mir ein Pickup von der Auffahrt direkt vor den Truck einscherte. Ich brauchte nicht nur die zum Glück freie Überholspur sondern auch den inneren Pannenstreifen, um meinen schlingernden Lastzug auf der Straße zu halten.

Trotz des einen heiklen Zwischenfalls kam ich aber sicher in Phoenix an, wurde bei Walmart abgeladen und fuhr wieder mal auf einen Parkplatz im Gewerbegebiet. Bisher hatte es die ganze Woche noch nicht mit einem Truckstop geklappt. Immerhin hatte ich auch hier Zugang zu einer brauchbar sauberen Toilette.
Donnerstag 19.12.2019
So eine explosive Ladung hatte ich noch nie, nicht mal das saisontypisch ebenfalls stark vertretene Feuerwerk konnte da mithalten, das ich im zarten Alter von 19 Jahren bei Costco durch die Gegend kutschiert hatte.
PICKUP: AZPHX-BBI
DESTIN: CASCZ-BBI
TRAILER: DRY48
LOAD: DYNAMITE
WEIGHT: 33,912
HAZMAT / UN: 103 / 0331
REMARKS: KEEP FUEL LEVEL LOW
DISPATCH: ORMFR-PCT-BRW
Ich holte die Fuhre Sprengstoff am Materiallager von BHP Billiton ab, packte die Magnetschilder an den Trailer und war auf dem Weg. Am Flying J Thousand Palms (CA) war Pause.
Immer wieder eine anstrengende Nummer für Trucks war der Tejon Pass. Mein zwar alter, aber gut gewarteter 9400i hatte damit keine Probleme. Einem maximal halb so alten Volvo dagegen schien bei der anstrengenden Nummer ein Schlauch geplatzt zu sein.

Am Pilot Travel Center in Lost Hills (CA) endete mein Tag im schönsten Abendrot. Ich machte ein Foto meines Trucks auf dem Parkplatz. Man musste in den sozialen Medien heutzutage ja was bieten, wenn man einmal angefangen hatte, sein Leben öffentlich für wildfremde Menschen zu dokumentieren.

Freitag, 20.12.2019
Ich sollte mal nachmessen, ob das Northern oder Southern California war, aber es regnete, als ich gegen 4 Uhr nachts die letzte Etappe meines Gefahrguttransports antrat. Es dauerte noch fast dreieinhalb Stunden, bis ich den Steinbruch in Santa Cruz erreichte. Nun schickte mich Brian erst mal leer los, denn der nächste Ladeort, ein mir und einem Litauer bestens bekannter Walmart in Ukiah, war doch beachtliche 6 Stunden entfernt. Und dann dort nur den Müll aufladen.
PICKUP: CAUKI-WAL-SC
DESTIN: ORKLF-HAW
TRAILER: DRY48
LOAD: EMPTY PALETTS
WEIGHT: 41,827
REMARKS: KEEP FUEL LEVEL LOW
DISPATCH: ORMFR-PCT-BRW
Die Ladung war nicht zu schwer. Vollgetankt konnte ich mit diesem Trailer fast 49,000 Pfund zuladen. Warum sollte denn der Tank leer bleiben? Für die Strecke war er jedenfalls zu leer, weshalb ich in San Francisco eine Tankstelle ansteuerte. Die lag in den berühmten Straßen am Berg. Nachdem ich also rauf gefahren war und 90 Gallonen nachgefüllt hatte, ging es die stufenförmige Straße wieder runter.

Fast den ganzen Tag war ich leer durch die Gegend gefahren. Also blieb mir nur noch eine Stunde, bevor ich an der US-101 auf einem Parkplatz die letzte Nachtruhe für 2019 einlegen musste.
Samstag, 21.12.2019
Gegen halb 5 morgens ging es weiter. Das war noch mal ein kompletter Tag heute. Es rollte einiger Schwerverkehr die 101 hoch in der Nacht. Von Eureka wechselte ich über die CA-299 nach Reading auf die I-5. Die 299 machte mit 16 Rädern weniger definitiv 16 Mal mehr Spaß.
Die Mittagspause legte ich in Weed ein. Viele Leute in sozialen Medien einschließlich meinem Youtubekanal lachten sich regelmäßig darüber kaputt, dass die Stadt hieß, wie gewisse Drogen im Volksmund. Vielleicht sollten sie sich stattdessen mal mehr Gedanken darüber machen, warum der Volksmund dieses Zeug „Unkraut“ nannte, denn nichts anderes hieß „Weed“ ursprünglich mal und heißt es auch immer noch.
Fast 9 Stunden waren rum, als der finale Befehl für 2019 in Isotrak aufploppte. Dachte ich jedenfalls. Und „losgelassen“ wurde ich auch nicht, Brian wollte wohl sichergehen, dass ich nicht mit dem Truck in Urlaub fuhr oder so – und immer noch, dass ich ihn nicht volltankte.
PICKUP: ORKLF-HAW
DESTIN: ORMFR-PCT
TRAILER: DRY48
LOAD: EMPTY
REMARKS: KEEP FUEL LEVEL LOW
DISPATCH: ORMFR-PCT-BRW
Also fuhr ich die Dreiviertelstunde zur Firmenhalle. Und da kam noch ein Befehl, der mich etwas überraschte.
LOCATION: ORMFR-PCT
ACTION: RELEASE
REMARKS: CLEAR TRUCK OF ALL PERSONAL BELONGINGS
DISPATCH: ORMFR-PCT-BRW
