Kapitel 44 – Zweigleisig

Montag 18.05.2020

Immer noch ziemlich durch den Wind fuhr ich zur Arbeit. Auf dem Hof begrüßte mich in der Ecke geparkt derselbe gemietete Kenworth, den ich schon zuvor gehabt hatte. Und im Büro begrüßte mich Brian: „Guten Morgen Brandon.“ „Guten Morgen.“ Scheinbar war er wieder zur Büroarbeit übergegangen, zumindest an unseren Papiertagen. Unter der Woche disponierte er uns meines Wissens ob mit oder ohne Corona normalerweise von zu Hause, wenn er keine Termine mit Besuchern in der Firma hatte.
„Der Mack letzte Woche hatte wohl verstellte Injektoren. Daher der abartige Verbrauch. Man muss nur mit den richtigen Leuten sprechen. Aber da Dir die Kabine sowieso von der Größe des Arbeitsplatzes, der Sitzposition und den Spiegeln nicht gefallen hat, ist das auch egal. Wieder einen LoneStar? Die Versicherung hat das Geld freigegeben, ich kann bestellen, auch wenn oder eher gerade weil die Lieferzeiten derzeit echt übel sind. Vielleicht kriege ich aber einen passenden ab Halde. Irgendwann soll die Mietschlampe ja auch wieder weg.“ 
„Ja, gerne.“ Die Kabine war über jeden Zweifel erhaben. Und es war irgendwie meine Marke geworden, spätestens seit ich hier den 9400i hatte. Der Peterbilt 579 war zwar vor knapp einem Jahr dank der Ultraloft-Kabine wieder konkurrenzfähig geworden, aber hatte mir inzwischen zu wenig Charakter. Und wenn man als Angestellter schon die Möglichkeit hatte, ein Modell zu kriegen, das sonst eher  „18-Gang Handschalter oder 12-Gang Automatik?“ Das war die Gretchenfrage, denn Navistar hatte mit der Konkurrenz gleichgezogen. Ich gab die Antwort, die ich vor einigen Wochen nicht für möglich gehalten hätte: „Das überlasse ich Dir und wahrscheinlich Isaac als Deinem Berater, sofern die Automatik eine Endurant ist wie die jetzt im T680. Bloß keine Ultraschiss, dann auf jeden Fall Handschaltung.“ „Okay. Gute Fahrt, los geht es bei unserem Freund Alex.“ „Ach, der arbeitet auch wieder?“ „Scheinbar, jedenfalls tauchen sie seit heute wieder im System auf. Abstand halten im Sägewerk stelle ich mir jetzt aber auch nicht so kompliziert vor.“

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Nach Arizona? Mal sehen, wie ich da mit dem Flatbed wieder weg kam, denn die hatten noch Industrie-Lockdown. Und was sie deshalb mit dem Holz wollten, musste ich in Ruhe auf den Papieren sehen.

Also sattelte ich den Flatbed auf und fuhr zum Sägewerk. Der Typ an der Einfahrt schickte mich hinter die Halle und wollte „Mr. Yastreb“ bescheid sagen. Als ich zwischen den Gebäuden durch kam, zeigte Alex schon auf eine Fläche neben einem ihrer eigenen Trailer. Also einen Kreis auf den Hof ziehen und zurücksetzen. Dann schickte er einen seiner Jungs mit dem Stapler los, das Holz zu holen. Alex war ziemlich brummig und machte auch den Eindruck, als würde er den gestrigen Abend noch irgendwie verarbeiten. Bei den Mengen Bier, die er Isaac weggesoffen hatte, hatte er heute Morgen vermutlich das Tier in sich entdeckt – und es war bestimmt ein Kater!

Die drei Pakete Holzbalken standen auf der Ladefläche, ich hatte die Gurte festgezogen. Alex kam wieder vorbei, um die Papiere zu unterschreiben und schon war er mit seiner Ausfertigung wieder verschwunden. Früher war der beim Beladen auch entspannter, aber sein neuer Job oder seine Verfassung heute Morgen schienen ihn auf Trab zu halten.
Die Bescheinigung für wichtige Waren sagte aus, dass die Baustelle für eine Schule war. Die wollte man vermutlich fertig kriegen, um mehr Plätze zu haben, wenn der Lockdown endete. Ich hatte auf einer deutschen Nachrichtenseite gelesen, dass die Schule dort offiziell wieder los ging, sich aber Eltern beklagten, dass durch auf zwei bis drei Gruppen geteilte Klassen und nur eine oder zwei Jahrgangsstufen am Tag in der Schule die Kinder wohl teilweise bis zu den Sommerferien nur noch drei Schultage hatten.

Der Verkehr hatte wieder zugenommen mit der ersten Lockerung der Beschränkungen, Öffnung diverser Geschäfte und Betriebe. 20 Minuten mit Stop & Go vom Sägewerk zur Interstate hatte ich auch schon länger nicht mehr gebraucht.

Die I-5 ging es fast komplett ohne Probleme oder ordnungsrechtliche Hindernisse runter. Am California PoE wurde ich nicht mal kontrolliert, musste nur die Papiere fürs Holz zeigen und mündlich bestätigen, keine verbotenen Lebensmittel an Bord zu haben. Heute wurde scheinbar keine Jagd auf illegale Äpfel und Nüsse gemacht. Auch Colusa County ließ mich ziehen, also steuerte ich kurz danach die Elkhorn Rest Area nördlich von Sacramento an.
Eine Meile vom Ende der Westbahn des Sacramento International Airport entfernt war das eigentlich eine ziemlich laute Pausenstelle, aber derzeit flog ja kaum was. Ich machte mich über eins meiner eingeschweißten Sandwiches her und guckte dabei das neueste Video des bekannten Berliner Truckers aus Winnipeg auf Youtube, wozu ich gestern früh vor lauter Möhren und Sellerie hobeln nicht gekommen war. Nach 36 Minuten war ich wieder auf der I-5, die mich noch bis morgen Mittag begleiten sollte.
Erst Santa Nella musste ich zum Wiegen raus, mit 64,420 lbs. ließ man mich aber sofort weiter. Danach fuhr ich noch ein Stück und machte am TA-Center Buttonwillow Schluss für heute.

Ich ging duschen und „Kalifornien-legale“ Frischwaren für morgen kaufen. Kern County war noch im kompletten Lockdown, also holte ich mir als Abendessen eine Takeaway-Portion bei Taco Bell.

Während meine letzte Nacht vor allem dank der gegebenen Bettschwere mit bleiernem Schlaf gesegnet war, lag ich heute dafür wach und versuchte, meine Gefühle für Danny zu sortieren. Es gelang mir aber nicht, ein unbeschreibliches Chaos kreiste in meinem Kopf und am Ende fiel ich in einen kurzen Dämmerschlaf.


Dienstag, 19.05.2020

Es war durchaus fraglich, ob ich in so einem Zustand überhaupt einen Class 8 Truck fahren sollte. Ich fühlte mich jedenfalls ziemlich unfit. Dennoch putschte ich mich mit einem noch eben gekauften Kaffee zu den mit einer Banane aufgewerteten Mini-Wheats auf. Und ich hatte mir bei der Gelegenheit noch einen Sixpack Energydrink geholt.

Ich funktionierte. Allerdings machte mich eine kleine LED darauf aufmerksam, dass ich das wohl schon gestern bei der Abfahrt nicht so ganz hatte. Also tankte ich zur Mittagspause in Mecca (CA) noch mal nach. Und auch das vermasselte ich, denn mit den 30 Gallonen kam ich mindestens zwei, wenn nicht dreimal aus Kalifornien raus. 20 hatte ich an sich gewollt. Ich machte daher lieber eine halbe Stunde Powernapping und ließ das Mittagessen dann zu Gunsten einer Büchse Powergesöff ausfallen.

Am frühen Nachmittag kam ich in Yuma an und füllte die Tanks erst mal zu den Preisen von Arizona auf, bevor ich das auch noch verbaselte und mit dem Bisschen im Tank gleich zurück nach Kalifornien fuhr.

Zweimal abbiegen und dann war ich auch schon da. Der neue Auftrag ging nicht nach Kalifornien zurück, sondern weiter nach Osten.

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Exxon stand als Mineralölkonzern auf der Liste der Common Essential Companies, da brauchte es wenigstens keine separate Bescheinigung, dass die Fracht wichtig war. Denn auch New Mexico war noch komplett „dicht“. Die Tanks standen auf der Lagerfläche bei Union Pacific, die ja bekanntlich nicht nur selbst transportierten sondern auch Lagerung von Sperrgut und Sonderfrachten machten. Nun setzte auch noch Regen ein und so war ich wenigstens nass bis auf die Knochen, als alles festgezurrt war.

Von den verbleibenden dreieinhalb Stunden nutzte ich noch drei bis auf den Parkplatz Estrella Road in Shawmult (AZ). Das war ein Kiesparkplatz mit derzeit mal wieder eher mäßig gepflegten sanitären Anlagen, aber für einen Toilettengang reichte es. Hier machte ich mir ein Abendessen warm, aß als Nachtisch die drei Aprikosen, die ich heute Mittag zum Sandwich vorgesehen hatte und fiel wie ein Stein ins Bett.


Mittwoch, 20.05.2020

Morgens gab es Mini-Wheats mit Apfelwürfeln, um 7:15 AM gab es Druck auf die Bremszylinder. Ich wollte am Stück durchfahren. Um 01:09 PM erreichte ich den Pepperonistaat. Nicht mal die Waage am Point of Entry stoppte meinen Vorwärtsdrang. Das tat erst der Indian Plaza Truck Stop, wo ich die vorgeschriebenen 30 Minuten Pause machte, mir wegen bevorstehender Ladevorgänge die eigentlich durchaus notwendige Dusche verkniff und bis auf den Weg zur Toilette in meiner Kabine blieb. Anschließend ging es das letzte Stück zur Raffinerie. Regen hatte auch wieder eingesetzt, also Dusche gratis. Der neue Auftrag wies nach Hause zurück. Brian versuchte wahrscheinlich immer noch, den Flatbed und mindestens einen der anderen Trailer jede Woche nach Hause zu kriegen.

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Alles rund um die Landwirtschaft hatte diesen Trailer in den letzten Wochen am Laufen gehalten. Hilfsstoffe wie Dünger und andere Agrarchemikalien, Pflüge, Heu als Tierfutter. Ich fuhr rüber zur Union Pacific, die hier nicht selbst der Versender war. Aber wie ich ja spätestens seit der Morgendämmerung mit Marius auf dem Getreidesilo in Omaha wusste, waren auf Bahnhofsgeländen auch Umschlag- und Verpackungsbetriebe für Massengüter angesiedelt. Und so war es auch hier. Der Dünger kam vermutlich in Silozügen an und wurde hier in Säcke abgefüllt. Ich wollte die drei Stunden noch nutzen und fuhr los.

Das Navi schlug US-491 und US-191 vor. Ich bog schon in Shiprock nach Westen auf die US-64 ab, denn so konnte ich noch eine Stunde fahren, während es auf der 491 zwischen Shiprock und Cortez keine Rastmöglichkeit gab, ich aber nicht mehr bis Cortez kommen würde.

Landschaft und Abenddämmerung konnten sich sehen lassen.

Am Arizona Point of Entry, der Teec Nos Pos Weigh Station war dann Schluss. Der gewöhnungsbedürftige Name entstammte garantiert der Sprache der hiesigen Ureinwohner. So kam ich zwar wieder um die Dusche, aber zumindest in den Genuss einer sehr sauberen Toilette und einem ebenso sauberen Waschbecken zur Körperpflege.

Und nachdem die letzte Nacht für den entsprechenden Schlaf gesorgt hatte, gab es heute wieder die Gelegenheit zum Nachdenken. Lange nachdenken, denn mobiles Internet war hier auch eher ein Fall fürs Essigfass.
Hatte ich nicht doch schon seit wir uns kannten, so ein Bisschen in Richtung Danny geschielt, nur einfach nicht so unverhohlen wie am Wochenende? Er passte ja auch bestens in die Reihe, angefangen mit meinem ersten Freund. Matthew hatte damals erzählt, dass er eine mexikanische Großmutter und einen halbmexikanischen Großvater hatte. Javier war so sehr Latino, dass man es an der Hautfarbe erkennen konnte, Wesley war spanischer Abstammung gewesen und Danny hatte eine italienischstämmige Mutter. Ich hatte es wohl mit den südlichen Typen.
Nun hatte ich bisher kein Glück in der Liebe, weshalb ich zögerlich gewesen war und meine Gefühle unterdrückt hatte. Aber irgendwann musste ich diese schlechten Erinnerungen ja mal hinter mir lassen und mich wieder auf eine Beziehung einlassen. Und Danny war nett und humorvoll. Manchmal war er ein bisschen durchgeknallt, was man vermutlich sein musste, wenn man es länger mit mir aushalten wollte. Und schließlich sah er gut aus. Auch wenn es auf innere Werte ankam, waren gute äußere immer noch eine angenehme Begleiterscheinung.
Ob sein Beruf nun ein gutes oder schlechtes Omen war? Nach einem Flugbegleiter und einem Check-in-Mitarbeiter flirtete ich nun also mit einem Piloten. Scheinbar stand ich nicht nur auf südliche Typen sondern auch auf Überflieger, war aber mit keinem glücklich geworden. Heute wälzte ich mich weder im Bett noch schlief ich übermüdet ein sondern hatte eine richtig erholsame Nacht.


Donnerstag, 21.05.2020

Dank der Weigerung Arizonas, die Sommerzeit einzuführen, war ich hier in meiner Logzeit. Nach der gründlichen Katzenwäsche im Fahrer-Sanitärbereich der Waage, dem Frühstück und der PTI fuhr ich um 7:24 AM weiter. Und es dauerte nicht lange, bis die Zeitzone wechselte von MST auf MDT, als ich nach Utah kam. Dieser Staat hatte zwar wenig Vegetation, aber dafür umso beeindruckendere Felslandschaften. Zum Leben war mir so was zu trocken, wenn man es nicht mit einer Großstadt wie damals San Diego aufpeppen konnte. Da war mir Medford mit Wald drum herum doch lieber.

Abgesehen von der Landschaft erwies sich die US-191 als ereignislose Strecke. Es war aber auch wenig los, auch wenn Utah zu den Staaten gehörte, die die Einschränkungen abseits der Großstädte schon wieder am weitesten aufgehoben hatten. Dennoch war wenig Verkehr und vor allem wegen der zögerlich anlaufenden und in anderen Staaten noch auf die systemrelevanten Betriebe beschränkten Wirtschaft waren wenig LKW unterwegs. So war es dann ungewöhnlich früh, dass ich um 12:35 PM, dank der Zeitverschiebung nur 4:11 nach Abfahrt schon wieder Pause machte. Aber diesen Kult-Rastplatz musste man einmal aufgesucht haben.

Die Betonung lag dann allerdings auch auf „einmal.” Dieselpreis ging noch halbwegs, meinen Silverado Benziner würde ich hier definitiv nicht tanken, und wenn ich ihn 2 Meilen zur nächsten Chevron Station schieben musste. Es gab nur Super Plus zu Preisen, wie man sie sonst nur aus Kalifornien kannte. Zugang zu den Toiletten nur gegen Bezahlung oder Kassenbon aus dem Shop. Ich machte mein „Ich war hier“ Foto, kaufte mir ein paar Beutel Dörrfleisch von etwas ausgefalleneren Tieren wie Wild, Känguru und Zebra, das hier wohl als so ziemlich das einzige Produkt sein Geld wert war und bummelte meine Pflichtpause ab.

Auf dem weiteren Weg meldete sich das Navi. Die I-80 war im Bereich Salt Lake City voll gesperrt. Also beschloss ich großzügig im Südwesten der Stadt zu umfahren. Die nächste Verkehrsbehinderung in Salt Lake City dürfte sich aber schnell einstellen. Zwei Kollegen waren sich beim Einfädeln nicht ganz einig. Irgendein Gefühl sagte mir, dass morgen nicht alle Pakete bis 10:30 zugestellt sein würden.

Die Abfahrt meiner Umleitung war dann mal wieder was, was für uns selbstverständlich war, aber Europäer auf Amerikaurlaub an den Rand des Nervenzusammenbruchs beförderte. Ein Diverging Diamond Interchange. Diese effektive Autobahnauffahrt, von denen in den letzten 10 bis 20 Jahren einige gebaut worden waren, kam mit zwei Grünphasen je Ampelanlage aus, ohne dass man durch den fließenden Gegenverkehr abbiegen musste. Bei einer konventionellen Kreuzung war entweder das der Fall oder man musste für das gleiche Sicherheitslevel vier Grünphasen einlegen. Dafür herrschte im Bereich der Auffahrt eben Linksverkehr. Fairerweise musste man zugeben, dass der durchschnittliche Amerikaner auf Europaurlaub mit Kreisverkehren ähnlich überfordert war.

Am Nevada Port of Entry kam ich ohne Wiegung vorbei. Den Score der Maschine hatte ich offensichtlich wirklich gut angehoben in den letzten Wochen. Der Tag endete wie geplant am Truck Stop in West Wendover. Damit hatte ich auch endlich wieder eine Dusche zur Verfügung.


Freitag, 22.05.2020

Viel hatte ich mit Blick auf die Karte der Gesamtstrecke nicht mehr zu fahren, aber Nevada zog sich nun mal. Am kurzen Halt auf der Waage in Osino lag es bestimmt nicht, dass ich etwas über 4 Stunden brauchte. Aber schließlich waren die Paletten mit dem Dünger runter und ich war bereit für das, was da kommen möge – nämlich nichts!

PICKUP: NVWMC
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9 Stunden und 400 Meilen Leerfahrt. Die Wirtschaft war noch nicht wieder wirklich beieinander. Andererseits hatte Brian mal erwähnt, dass er auch nicht mehr so gut lokale Frachten bekam, seit wir weiter weg fuhren. Dass auch mal 300 bis 600 Meilen Leerfahrt nach Hause im Fernverkehr an der Tagesordnung waren, konnte man ja auch bei Mirco auf Achse per Youtube verfolgen.
Seine europäischen Abonnenten wunderten sich dann immer wieder. Aber wir Nordamerikaner fuhren ja auch so lange geradeaus wie die Europäer in Urlaub. Da konnten wir auch so lange leer fahren wie die einen Fernverkehrsauftrag. Mein alter Wohnort Philadelphia und der heutige Medford lagen noch nicht einmal maximal auseinander, aber es waren schon fast 2,900 Meilen oder etwas über 4,600 Kilometer. Wenn man in meiner damaligen Austauschstadt München diese Entfernung losfahren wollte, dann ging einem in den meisten Richtungen das Land vorher aus. Aber auf dem Landweg oder mit einer kleinen Fährpassage bei Gibraltar kam man damit fast nach Astana in Kasachstan, etwas hinter Teheran im Iran, nach Rijad in Saudi-Arabien oder mitten in die Wüste von Westsahara, kurz vor der mauretanischen Grenze. Da konnte man ja schon mal von Budapest, Genf oder Hannover leer nach München zurückfahren.

Meine Leerfahrt unterbrach ich für ein Nachmittagessen in Denio Junction, einem „Dorf“ aus einer Tankstelle, einer Farm und ein paar Wohntrailern. Weil ich nicht wusste, was es da gab, hatte ich mir lieber einen Salat morgens auf dem Truckstop gekauft. Anschließend fuhr ich noch etwas über 3 Stunden bis auf den Quartz Mountain Pass, wo ich auf dem Wanderparkplatz Schluss machte.


Samstag, 23.05.2020

Von hier waren es noch 3 Stunden nach Hause, die ich problemlos runter fuhr. Die Statistik überflog ich nur, so wichtig wie damals als Unternehmer war sie mir sowieso nicht mehr. Aber an den 83.4% Effektivität blieb ich dann doch kurz hängen.
Anschließend fuhr ich nach Hause und machte erst einmal Wäsche. Heute war nichts los. Isaac und Paul mussten arbeiten, Danny auch und mit 50:50 Wahrscheinlichkeit hatte ich ihn eben auf dem Heimweg starten sehen, denn eine der beiden King Air von Mercy Flights war über die Stadt gebrummt, um nach dem Südstart nach Norden abzudrehen. Ich fuhr stattdessen mal eine Runde Motorrad.

Sonntag, 24.05.2020

Heute hatte dann mal Brian eingeladen. Wahrscheinlich war ich als dritter Hausbesitzer oder zumindest Hausmieter der Truppe dann mal demnächst dran. Paul und Danny hatten Apartments in Wohnanlagen, der Rest wohnte in billigen Mietblocks.
Paul, Isaac, Casey und Alex waren schon da, als ich ankam. Heute hatte ich mal, weil ich gestern schon früh da war, einen Kuchen zugeteilt bekommen, den ich mitgebracht hatte. Alex nutzte die frühe Stunde zu einer Frage: „Sagt mal, Brandon, Isaac. Ihr seid doch Motorradfahrer. Wo kriegt man denn derzeit Motorradkleidung her? Nur online?“ „Nee, Cycle Gear hat Bestellservice mit Abholung. Kannste anrufen oder online bestellen und Abholung auswählen und noch am gleichen Tag fährst auf den Parkplatz hinterm Laden, sie stellen Dir Dein Paket raus und wenn Du telefonisch bestellt hast, zahlst Du gerade mit Karte, online ist schon abgebucht. 3 Stunden brauchen sie von der Bestellung bis Abholung. Wieso?“
„Weil ich mir ein Motorrad gekauft habe.“ „Du hast den Schein?“ Ich war überrascht, Alex war so irgendwie gar nicht der Typ dafür. „Klar, damals mit Auto zusammen gemacht, nur dann nie gefahren. Meine Verwandten wollten nicht, dass Lesha und ich Motorrad fahren und danach hatte ich erst nicht Kohle, irgendwie ist es dann hinten runter gefallen. Bis ich Euch kennen gelernt habe, war ich ein ziemlich langweiliger und hobbyloser Typ, der dafür kaum Geld ausgegeben und lieber angespart hat. Aber diese gelbe Kawasaki Versys von 2014 hat mich dann doch etwas zu verführerisch angelächelt und ich kann sie am Dienstag abholen. Ist gestern zum Händler überführt worden.“
„Seit wann lächelt die? Die 2014er sieht in Gelb aus wie eine auf Krawall gebürstete Wespe, die Jahrgänge davor wie ein Zyklop mit ihrem einzelnen Glubschaugenscheinwerfer.“
 „Sie muss ja mir gefallen, nicht dir. Fahr weiter Deine Buell, die geht mir dafür ein paar Meilen am guten Geschmack vorbei. Oder in Insekten gesprochen sieht aus wie ein bucklige Assel. Auch leistungsmäßig dürfte ich damit eher in Brandons Klasse liegen.“
Ein paar PS mehr hatte die meines Wissens schon. Nur wie er die anmelden wollte, war die spannende Frage. Denn das Straßenverkehrsamt war geschlossen. Casey wechselte, bevor das ausartete, zum Glück das Thema, ohne das Thema zu wecheln: „Gelbe Kawasaki? Aus Flagstaff, Arizona zufällig?“ „Genau, woher weißt Du das denn?“ Casey grinste. „Rate mal, wie die hier rauf gekommen ist. Die stand in ihrem Transportgestell knapp 30‘ hinter mir mitten im Trailer voll mit gesammelten Werken.“

Und schließlich kamen mit Danny und Evan die nächsten – gleichzeitig! Zwar hatte Danny die Hand weggeschlagen, aber ich hatte wohl den Versuch von Evan bemerkt, Danny an der Hand zu nehmen. Entsprechend angespannt war die Gartenparty dann auch. Danny zwinkerte mir zu, stieß zwei Minuten später am Buffet nicht wirklich zufällig mit Evan zusammen.
Evan und ich hingegen tauschten dabei eher giftige Blicke aus. Und so wurde die ganze Veranstaltung etwas zur Eisgartenparty. Danny flirtete zweigleisig, die beiden Gleise namens Evan und Brandon gingen nur aufgrund der Gleisbettung in Form von Anstand und Rücksicht auf unsere anwesenden Freunde nicht aufeinander los. Brian und Isaac sahen aus wie zwei Tiger auf dem Sprung, um jederzeit einzugreifen, wenn was eskalierte. Paul und Casey schienen nichts zu merken oder höflich zu ignorieren und scherzten untereinander. Alex fräste sich ungewohnt hungrig durchs Buffet.
Als die Gesellschaft sich auflösen wollte, schritt dann Isaac in einem Punkt ein. Der Umweg war für ihn ohnehin wesentlich kleiner als für Danny. „Evan, soll ich Dich nach Hause fahren?“ Man musste vermutlich erst einmal Staff Sergeant gewesen sein, bis man eine Frage so aussprechen konnte, dass der angesprochene sie als Befehl auffasste. Aber Evan winkte Danny tatsächlich zum Abschied verlegen zu und kletterte bei Isaac in den RAM 3500.
Erst in den Abendnachrichten zu Hause stellte sich heraus, dass es mit dem Brand am Pier45 in San Francisco ein ablenkend-sensationsheischendes Gesprächsthema gegeben hätte.


Montag, 25.05.2020

Nicht nur war ich schlecht gelaunt, als ich zur Arbeit fuhr. Das gipfelte auch noch darin, dass ich meinen Silverado abstellte und ins Büro gehen wollte, als Evan gerade mit seiner Mappe unterm Arm raus kam und zu seinem Kenworth wollte. Ich giftete ihn an, da diesmal keine Anstandswauwaus um uns herum waren: „Lass Danny in Ruhe!“ Er antwortete arrogant: „Seid Ihr zusammen?“ „Wir hatten Sex miteinander.“ „Das war keine Antwort auf meine Frage!“ Er ging zu seiner Zugmaschine – und verdammt noch mal, er hatte Recht. Wir waren nicht offiziell zusammen. Die beiden aber scheinbar genauso wenig, wenn er nicht damit auftrumpfte.

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