Kapitel 49 – Woche der Entscheidungen

Montag, 29.06.2020

Als ich auf den Firmenhof fuhr, waren die anderen beiden Trucks schon weg, mein Miet-Kenworth stand noch so da, wie ich ihn ausgeräumt und verlassen hatte. Brian kam die Treppe runter und zeigte auf seinen GMC Safari Van. „Guten Morgen. Steig ein!“ Ein weiterer Grund, warum ich mich damals gegen einen Campervan entschieden hatte: ich kam mir als Beifahrer gerade vor, als würde ich in Brians Wohnzimmer einsteigen.

Schnell war mir klar, wo die Fahrt hin führte. Zu Isaacs Truck Stop und Werkstatt. „Was wollen wir denn bei Isaac?“ „Deinen neuen Truck abholen. So wie Du Dich zuletzt aufgeführt hast, kriegst Du einen schönen Freightliner Cascadia!“ „Mach keinen Quatsch!“ Wir waren da. „Hallo Ihr zwei!“ „HallIsaac!“ „Wo steht denn das gute Stück?“ „Noch in der Halle. Ist erst am Wochenende fertig geworden!“ Er öffnete die Tür und Brian hatte mich natürlich nach Kräften verarscht.

Natürlich hatte er wieder einen International beschafft. „Du hast nicht wirklich geglaubt, ich gebe Dir einen Cascadia? Ich bin an sich drauf aus, dass Ihr Eure Arbeitsgeräte liebevoll behandelt.“ „Fast hattest Du mich so weit. Immerhin verkauft Isaac nur Freightliner und Western Star.“ „Im Prinzip ja, aber… Über die freie Werkstatt kann ich auch andere Fahrzeuge mit guten Rabatten einkaufen, muss das aber bei einem Vertragshändler der Marke machen und sowohl dem als auch Freightliner nachweisen, dass ich die Zugmaschine umfassend veredelt oder technisch verändert habe, zum Beispiel mit einem Spezialaufbau. Dann geht das. So kaufen ja auch Händler anderer Marken, die Umbauten und Veredelung in ihren Werkstätten machen, bei mir Neufahrzeuge von Freightliner, Western Star oder Fuso ein.“
„Umfassend veredelt“ war der Truck auf jeden Fall. Angefangen von Chromfelgen mit lackierten Muttern und Hubcaps über alles andere, was sich verchromen ließ und es bis 3 nicht auf einen Baum geschafft hatte, eine Zweifarblackierung in rot und blau, mit einem weißen Zierstreifen und mit einem großen US-Stern als dreifarbiges Endlosband, in dessen blauem Streifen lauter kleine weiße Sterne waren. Krönung war ein Airbrush, das – auch wenn ich zu meiner Schande noch nie da war – ziemlich unverkennbar den gar nicht so weit von hier entfernten Crater Lake zeigte, auf dem Dach. Irgendwie gefiel mir das sogar besser als der letzte mit der Skyline. Dezent auf den ersten Blick, fielen einem viele kleine Details erst auf den zweiten Blick ins Auge.

Isaac drückte mir die Schlüssel in die Hand und machte die kurze Einweisung: „Ist wieder die 525 PS Maschine, diesmal mit Eaton Endurant 12-Gang-Automatik, wenn Ihr wieder die Trailer habt und mal ein Rockys Double fahren müsst. Wie immer 6×4 und große Tanks. Ansonsten kennst Du das Modell ja.“ Ich sah an der Seitenaufschrift, dass der Truck für die Rocky-Doubles mit 120,000 Pfund Gesamtgewicht zugelassen worden war.
„Dein Tablet habe ich bei Brian geholt und das liegt in der Ablage, aber den Fuß musst Du selbst ankleben, wo Du ihn willst. Ist jedenfalls alles schon von unserem Elektronik- und Systemtechniker mit Isotrak eingerichtet und gekoppelt. Kannst Du wieder Adressen mit einem Knopfdruck zwischen Truck und System hin und her schieben und das E-Log ist auch gekoppelt.“ Endlich, nach 23.000 Meilen mit der Leihkrücke und dreifacher Buchführung ging es nun wieder alles synchronisiert.

Hinter Brian fuhr ich zur Firma her, dort machten wir noch die Bürokratie für die neue Zugmaschine fertig und ich räumte meine Sachen ein. Um 09:04 AM war ich abfahrbereit.

PICKUP: ORMFR-KRH
DESTIN: WASPK-WAL-NM
TRAILER: REF48
LOAD: Yoghurt
WEIGHT: 39,000
REEFER: 39F
DISPATCH: ORMFR-PCT-BRW

Das war an sich der normale Start mit einem Reefer, Kraft-Heinz war hier in der Stadt und ihrem Umland die größte Ladestelle für Frischwaren. Wenn nicht gerade Walmart oder Tidbit eine Ladung mit Reklamationen oder abgelaufenem Haltbarkeitsdatum hatten, konnte es nur bei Kraft-Heinz losgehen.

Mit einem kleinen Stau an einer Engstelle, aber dafür zu meiner Überraschung mit Bypass an der Waage hinter Myrtle Creek vorbei, ging es nach Norden. Dank des langen Vorlaufs vor der Abfahrt machte ich schon nach 3 Stunden auf der Gettings Creek Rest Area Mittagspause. Auf dem Southbound Parkplatz gegenüber hatte ich am Freitag die letzte Nacht in dem Miettruck verbracht.

Portland ließ ich ohne größere Probleme hinter mir. In Multnomah County galt noch die recht strenge Stufe 1 der Lockerungen und entsprechend waren wenige Leute unterwegs. Im Columbia River Valley setzte dann heftiger Regen ein.

Cascade Locks wurde ich zum Wiegen rausgezogen. Mit einem neuen Truck war das im Prinzip kein Wunder. Eine genaue Kontrolle gab es aber nicht.

Hinter dem Durchbruch durch die Hauptkette des Kaskadengebirges hörte der Regen erwartungsgemäß wieder auf. Diesen Bruch sah man sogar auf Google Maps. Bis Hood River war es grün, dann kam ein kleiner Bereich grün-braun gemischt und kurz vor The Dalles, genau am Hauptkamm, wurde es dann alles braun, weil hier über die Berge nur noch wenig Regen hinkam.

Auch am Washington PoE kam ich ungeschoren durch und durfte die Waage passieren. Am Flying J in Pasco (WA) machte ich Schluss und stellte meinen Truck kurz nach Sonnenuntergang um 9 PM ab. Weil alle Gastronomiebetriebe nur Takeaway boten oder gleich ganz geschlossen hatten, blieb mir eigentlich nur, Tacos zu kaufen. Denn die Alternativen waren die Fastfood-Buden von Subway und Burger King. Außerdem ging ich im Truckstop duschen.


Dienstag, 30.06.2020

Der Wecker durfte sich heute Zeit lassen. Nach 7 AM meldete er sich erst zu Wort. Ich machte mich im Truckstop frisch und ging dann in meine Zugmaschine, um meine geliebten Mini Wheats zu frühstücken, leider ohne frisches Obst, da sich bisher noch keine Einkaufsmöglichkeit ergeben hatte und ich ja in der permanenten Angst, als erstes nach Kalifornien zu müssen, nie welches kaufte. Vielleicht sollte ich Brian mal vorschlagen, uns das schon am letzten Arbeitstag der Vorwoche mitzuteilen, sofern er schon wusste, was wir fahren sollten.
Von den 43 verbliebenen Minuten des Vortages baute ich 31 ab, als ich meine PTI um 8:33 beendete und losfuhr. Weit kam ich erst mal nicht, denn schon an der Sagemoor Weigh Station musste ich wieder raus. Und hier gab es auch gleich das große Programm mit Log auslesen und Kontrolle aller Papiere und der Ladung. 17 Minuten kostete mich der Spaß zum Glück nur, die Ladungskontrolle war eher eine kleine Stichprobe. Dann ging es in einem Zug durch bis zum Walmart in Spokane. Während ich an die Rampe rangierte, kam schon der Folgeauftrag. 

PICKUP: WASPK-XYZ
DESTIN: IDTWF-711
TRAILER: REF48
LOAD: SKIMMED MILK
WEIGHT: 37,651
REEFER: 39F
DISPATCH: ORMED-PCT-BRW

Ich nutzte die Gelegenheit und kaufte erst einmal im Neighborhood Market etwas Frischware ein. Das dürfte, weil am Freitag der Ausgleichsfeiertag für den aufs Wochenende fallenden 4. Juli war, wohl nicht mehr nach Kalifornien gehen.

Die neue Ladestelle war eine kleine, unabhängige Molkerei und natürlich bestand die Ladung aus einer ganzen Reihe Milchprodukte. Von der aufgeführten Magermilch war laut Papieren über Vollmilch, Schlagsahne, saure Sahne und Joghurt bis Käse einiges dabei.

Nachdem alles drauf war und der Papierkram erledigt war, fuhr ich wieder zur I-90 zurück und bog nach Osten ein. Einen geraden Weg gab es nicht, zumindest nicht auf Schnellstraßen. Ich hätte zwar gedacht, dass es über Kennewick und Ontario schneller gehen würde, aber das Navi meinte, die Route über Butte und Idaho Falls wäre schneller.

Der von einem in Kanada lebenden Deutschen erfundene Zug der Woche begann sich auch bei mir so langsam zum Running Gag zu entwickeln. Diese Woche kam er mir in Montana entgegen.

Bei Butte ging es auf die I-15 und auf einer Rest Area schon ein gutes Stück südlich der Stadt legte ich eine kurze Pause ein, ging auf die Toilette und wechselte, nachdem die Wasserflasche, eher schon ein kleiner Kanister, leer war, auf meinen liebsten Softdrink in der neongrünen Flasche für die verbleibenden fast zwei Stunden.

Die Sonne ging schon unter, bevor meine heutige Fahrzeit abgelaufen war. Immerhin war ich nicht nur gestern spät los gekommen sondern inzwischen auch noch ein gutes Stück dem Sonnenuntergang entgegen gefahren.

So rollte ich schon im Dunkeln auf die Rest Area bei Dubois (ID). Amerika hatte Sommer, also holte ich den Grill und ein ordentliches Steak hervor, das ich bei Walmart gekauft hatte. Dazu gab es dann den ebenfalls dort erworbenen Coleslaw.


Mittwoch, 01.07.2020

Weil es zwar früh hell war, aber ich spät los durfte, hatte ich mich abends schnell hingelegt. So war ich ausgeschlafen, als es dann heiß in der Kabine wurde, weil die Sonne aufgegangen war und gnadenlos herunter brannte, schnallte ich mir die Inliner unter. Weil Idaho einer der Staaten war, in denen die zweite Corona-Welle stärker war als die erste, zog ich mir das Motorradhalstuch über Mund und Nase, um der Vorschrift zu genügen, wann immer man draußen war, Gesichtsschutz zu tragen und lief zwei Runden um die Stadt, die lediglich aus einem 6 mal 6 Straßen großen Rechteckraster bestand. Eine Runde wäre keine 3 Meilen lang gewesen, so kam ich immerhin auf 4 Meilen. Anschließend gab es Kanisterwäsche und Mini-Wheat-Frühstück. Schließlich war es Zeit für die PTI.
Um 9:24 AM MDT fuhr ich los. Ich musste extra nachsehen, dass ich schon meine maximalen 66 mph Cruise Speed erreicht hatte, als ein Freightliner mit ohnehin nicht sonderlich fahrstabilem STAA-Double an mir vorbeifegte. Der musste, obwohl nur 70 erlaubt waren, über 75 mph drauf haben.

Richtig absetzen konnte er sich dann aber auch nicht und als er in seiner Abfahrt abbremste, war ich wieder an ihm vorbei. Das hatte sich ja sehr gelohnt. Fehlende Leistung bergauf wurde durch Wahnsinn bergab ausgeglichen.

Es waren keine 4 Stunden bis Twin Falls gewesen. Um 13:08 PM dockte ich an der Rampe des 7-Eleven an. Der neue Auftrag ging erwartungsgemäß nach Hause, aber ein Stück am Ziel vorbei bis an die Küste.

PICKUP: IDTWF-DOL-WH
DESTIN: ORNPO-TIB
TRAILER: REF48
LOAD: FRESH VEGETABLES
WEIGHT: 35,449
REEFER: 48F
DISPATCH: ORMED-PCT-BRW

Auf dem Weg zu Dole fuhr ich an der Tankstelle vorbei, denn Idaho war erstens knapp 20 Cent je Gallone günstiger als Oregon und zweitens würde ich sowieso nicht mehr weit kommen.

Das frische Gemüse war fast genau um 2 PM verladen und ich machte mich auf, ein bisschen frisches Obst aus den Körben für die Fahrer war auch dabei. Die Strecke über die I-84 nach Ontario (OR) und dann die gesamte Oregon Section der US-20 bis Newport war gut bekannt. So konnte ich mir ausrechnen, bis wohin ich mit der Fahrzeit kommen sollte und unterwegs immer mal nachkorrigieren wenn erforderlich.
Die Waage vor Burns war so eins dieser Erfordernisse. Allerdings war es nur das Wiegen, kostete also maximal 2 Minuten. Einige Meilen vor meinem angestrebten Ziel, der Brothers Oasis Rest Area, ging die Sonne unter.

Um 8:50 PM ging der Motor unter optimaler Ausnutzung der Tagesfahrzeit aus.


Donnerstag, 02.07.2020

Heute wurde ich nicht von der Sonne wach sondern vom Prasseln des Regens. Aber ich war dennoch ausgeschlafen. Meine Stunde Zeitverschiebung gegenüber dem Vortag hatte ich zurück. Entsprechend durfte ich nun auch Ortszeit um 8:28 los. Es wäre auch noch ein paar wenige Minuten früher gegangen.

Unspektakulär ging es durch Bend und an Albany vorbei. Auf dem kurvigeren Abschnitt durch die Berge lief ich auf einen Kollegen von CRST auf, der sein Tempo sehr vorsichtig gewählt hatte. Vielleicht war er ein Neuling oder mit der Strecke nicht vertraut. Mit dem Motorrad machte es hier sowieso mehr Spaß. Apropos, Danny hatte sich nicht gemeldet und war auch die ganze Woche über wieder offline. Entweder ich hatte ihn verloren oder er war immer noch über der harten Nuss am Grübeln, die Evan und ich ihm unabhängig voneinander zu knacken gegeben hatten.

Um 1:39 PM ging der Motor für eine späte Mittagspause am Bioladen in Newport aus. Ich ging um das Gebäude und kaufte mir einen Salat. Brian hatte nichts mehr gefunden.

LOCATION: ORNPO
ACTION: 65H RELEASE
DISPATCH: ORMED-PCT-BRW

Nett, dass er mir die Wahl ließ, ob ich nach Hause kommen wollte. Also machte ich mich leer auf den Heimweg. An der Waage bei Myrtle Creek musste ich raus, aber als sie am Gewicht merkten, dass ich sowieso leer war, ließen sie mich wieder ziehen.

Es waren fünfeinhalb Stunden Fahrt, bis ich auf den Hof gerollt war, den Trailer abgesattelt hatte und die Zugmaschine eingeparkt. Dann sah ich mein Handy, das mir anzeigte, dass ich eine Nachricht von Danny bekommen hatte. Ich zitterte so sehr, dass der Fingerabdrucksensor Probleme hatte, mich zu erkennen.Immerhin schaffte ich es doch noch, das Handy mit der Fingerspitze zu entsperren. Fast hatte ich damit gerechnet, dass es gleich nach der PIN fragen würde. „Hallo Brandon. Ich habe eben Evan gesagt, dass ich mit ihm zusammen sein will. Wie Ihr beide es wolltet, teile ich Dir das also hiermit sofort mit. Ich weiß, eigentlich soll man nicht per Textnachricht Schluss machen. Aber ich kann nicht anders. 5 Mal habe ich versucht, Dich anzurufen, aber es immer wieder abgebrochen. Jedes Mal habe ich überlegt, wie ich es am besten sagen kann, aber als ich Deinen Namen im Adressbuch aufgerufen hatte, waren alle wohlüberlegten Worte wieder weg. Bitte sei mir nicht böse und bitte frag mich nicht warum er und nicht Du, denn ich könnte es Dir nicht beantworten. Ich habe Euch beide geliebt. Ich liebe Euch immer noch beide, aber Ihr habt beide darauf bestanden, dass Ihr diese Entscheidung wolltet.“
Mir kamen die Tränen. Erst einmal saß ich nur am Steuer meines Silverado und heulte. Dann kamen die wirren Gedanken. Sowohl Evan als auch ich hatten die Forderung an Danny gestellt, sich zu entscheiden, um ihn alleine zu haben. Ich konnte dabei nur für mich sprechen, aber auch wenn es mir irgendwo im Hinterkopf klar gewesen war, dass es so ausgehen konnte, hatte ich mich darauf typisch amerikanisch nicht vorbereitet. „Failure is not an option!“
Deshalb kamen nun all die Fragen auf, die ich mir eigentlich nie stellen wollte. Hätte es doch im Dreieck klappen können? Wäre es so weiter wirklich Schrecken ohne Ende gewesen, wenn mich das Ende mit Schrecken gerade dermaßen runter zog? Hätte ich besser nicht ausschließen sollen, dass es in dem Moment aus ist, wo Danny seine Entscheidung getroffen hätte? Was war, wenn die beiden jetzt scheiterten? Hätten wir dann noch eine Chance?
Nach einer Ewigkeit weiteren Tränenvergießens nahm ich das Handy und rief Randy an. Er wusste bisher noch gar nichts davon, also gab es viel zu erzählen. Irgendwo mittendrin fiel er mir ins Wort: „Brandon! Das geht so nicht. Ich komme Dich besuchen.“ „Was? Wann?“ „Jetzt! Ich schnappe mir meinen Kulturbeutel und etwas Wäsche, mehr brauche ich ja nicht.“ „Guck mal auf die Uhr! Wann willst Du hier sein? Mitternacht durch? Bis dahin habe ich mich hoffentlich in den Schlaf geweint!“ „Da hast Du Recht.“ „Du aber auch. Am Telefon geht das nicht.“ „Sage ich doch. Ich fahre halt in der Nacht los. Morgen zum Frühstück bin ich bei Dir!“

Den Rest des Tages funktionierte ich. Ich fuhr einkaufen, ging nach Hause, der Hunger trieb irgendwas zu essen rein, auf das ich so gar keinen Appetit hatte und auch mit dem in den Schlaf weinen hatte ich richtig gelegen. Wenigstens klappte es auch vor Mitternacht.

Freitag, 03.07.2020

Ich kochte gerade Tee, als ich aus dem Fenster das Lexus Coupé in mein Grundstück einbiegen sah. Auf Randy war Verlass. Also frühstückten wir erst mal in Ruhe zusammen. Dann sah er sich ein Bisschen um, zuletzt war er ja beim Einzug hier gewesen. „So, wo setzten wir uns denn nun mal zusammen und reden?“ Mehr im Scherz sagte ich, weil es morgens noch recht frisch auf der von allen Seiten schattigen Terrasse wie auch auf der Wiese vorm Haus (Westseite) war: „Aufs Dach in die Sonne?“ Aber noch bevor ich betonen konnte, dass ich das nicht ernst gemeint hatte, hing Randy nach einem Armsprung an der Dachtraufe und schwang sich hoch, also reichte ich noch gerade zwei Flaschen Softdrinks rauf und sprang hinterher. Das war in Amerika der Vorteil an den Hausdächern. Die vollflächigen Holzkonstruktionen mit Bitumenplatten hielten das locker aus. In Europa würde man durch die auf Latten verlegten Tonziegeln durchkrachen. Marius hatte mir mal erzählt, dass das seine größte Sorge war, wenn er auf den Dächern der Altbauten von Kaunas oder Vilnius unterwegs war, mehr noch als abzurutschen und außen am Haus runter zu fallen.
Dort oben erzählte ich Randy erst einmal die ganze Geschichte. Mehr als zuhören, mich in den Arm nehmen und feststellen, dass ich in diesen Dingen scheinbar wenig Glück hatte, konnte er aber auch nicht.
Wo er mir allerdings eine Kopfwäsche verpasste, war bei TTC: „Ich glaube, Dir geht es zu gut! Sieh Dich hier doch mal an diesem Danny vorbei um! Du hast noch andere Freunde! Du hast den besten Chef, den man sich vorstellen kann! Du hast Deinen Traumtruck, der wohl viel besser ist, als das was Du da bekommen kannst, weil entweder die Kabine kleiner ist oder Du das Modell so gar nicht magst! Die Zeit wird diese Wunde schon heilen. Aber was erwartet Dich denn da? Fremdkörper in einem Unternehmen, das sonst nur aus Familie besteht. Eltern und zwei Söhne. Die werden sich immer einig sein. Und Du? Bist die Verfügungsmasse, wann immer was in die Hose geht. Und wenn die was über Dein zweites Ich erfahren und es ihnen nicht passt? Brian weiß das alles. Und selbst wenn Du Dich verletzen solltest, denke ich nicht, dass der Dich bei der Krankenversicherung in die Pfanne hauen wird und Du ohne Schutz selbst zahlen musst. Da solltest Du Dir gut überlegen, ob Du wegen einer Sache alle diese Vorteile aufgeben und weglaufen willst.“ Er sprach das Wort „Weglaufen“ ziemlich verächtlich aus. Und auch wenn die Arbeitsunfähigkeitsversicherung, die Brian freiwillig abgeschlossen hatte, außen vor war, glaubte ich auch nicht, dass er die zusätzliche, private Krankenversicherung, die ich ja selbst bei einer anderen Gesellschaft abgeschlossen hatte, informieren würde.

Über die Mittagshitze waren wir dann dankbar, dass durch die rund rum hohen Bäume auf meine Terrasse keine Sonne kam. Nachdem er heute Nacht um 2 AM losgefahren war, holte Randy auch am frühen Nachmittag ein Bisschen Schlaf nach.
Als die Sonne abends nicht mehr so brannte, machten wir etwas Freerunning im Vorgarten. Neben Luftsprüngen auf dem Rasen mit Salto oder anderen Formen der Rolle in der Luft ging auch ein Bisschen was mit den Mauern, die den Garten zur im Keller gelegenen Garage abstützten. Abends gab es Pizza, selbstgemacht natürlich.

Samstag, 04.07.2020

Den Unabhängigkeitstag verbrachten wir am Nachmittag bei Isaac. Er hatte schon morgens seinen Smoker angeworfen und ein gutes Stück Schweineschulter rein geschoben. Brian und Paul waren auch da. Casey feierte mit seiner Familie, wie Evan und Danny feierten, wollte ich erst gar nicht wissen, Alex hatte wohl seinen Cousin zu Besuch.
Der rief allerdings nachmittags trotzdem mal an: „Hallo Alex!“ „Hi Brandon. Was machst Du so?“ „Ich bin mit meinem Bruder bei Isaac. Warum?“ „Ach so. Dein Bruder ist da. Ich wollte fragen, ob Du Lust hast, morgen Motorrad zu fahren. Lyosha fliegt morgen schon früh ab, die späten Flüge waren weg.“ „Kommt drauf an wann. Randy muss ja 6 Stunden nach Hause fahren. Könnte also was gehen.“ Der schaute auf: „Wenn Du was vorhast, kann ich nach dem Frühstück fahren. Kein Thema. Triff Dich ruhig mit Freunden. Um die Zeit werde ich auch besser durchkommen als abends, wenn alle unterwegs zurück nach Hause sind.“ „Alex? Das würde gehen. Er will früh los, um den Verkehr am Nachmittag zu vermeiden.“ „Okay, wo treffen wir uns?“ „Chevron Station White City? Von da aus kann man Richtung Crater Lake, Klamath Falls oder über die Nebenstraße nach Myrtle Creek.“ „Okay. 10 Uhr!“ Ich legte auf und fragte Isaac, ob der auch mit wollte.
Am Abend gab es dann das butterweiche Pulled Pork mit selbstgemachter Barbecue- oder Chilisoße, Coleslaw und Potato Wedges. Isaac hatte Feuerwerk organisiert, das wir dann nach Einbruch der Dunkelheit wie so viele in den Himmel ballerten.

Sonntag, 05.07.2020

Randy machte sich nach dem Frühstück auf den Weg. „Mach’s gut. Und Kopf hoch! Du schaffst auch das.“ Ich zog mir danach meine Sachen an und setzte mich auf die Yamaha. Isaac kam mit seiner Buell gerade aus der East Vilas Road auf den Crater Lake Highway, als ich an der Ampel anhielt. Also wartete er hinter der Kreuzung auf meine Grünphase und die letzten anderthalb Meilen zum Treffpunkt fuhren wir zusammen.
Alex war schon da und guckte etwas überrascht, als Isaac mit mir auf das Gelände rollte: „Hallo Isaac. Was machst Du denn hier?“ „Mit Euch Motorrad fahren wollen. Und auf Brandon aufpassen.“ „Ich brauche keinen Babysitter.“ „Nach gescheiterten Liebschaften brauchst Du den ganz sicher.“ „Kannst gleich Deine eigene Runde fahren!“ Ich war genervt. Erstens dieser Offizierstonfall, der Aussagesätze zu Befehlen machen wollte, zweitens brauchte ich keine Erinnerung, dass Evan mir Danny weggeschnappt hatte und drittens musste das alles nicht auch noch vor Alex sein. „Hershey’s Chocolate Boiler Chimney, NSS Annapolis, Lewisburg Susquehanna Bridge! Jedes Mal warst Du danach dieses Scheiß Rooftopping! Und das mit der Brücke ist ja nur so ganz knapp gut ausgegangen.“ Da gab es leider nichts entgegenzusetzen. „Ja, ja! Ist gut.“ Und ich wusste genau, wie ein „Ja, ja!“ bei Militärs ankam.
Aber nachdem Isaac und ich getankt hatten, war Alex im Mittelpunkt des Interesses, als er aufsteigen wollte: „Hey, Alex. Du humpelst ja.“ „Bin gestern umgeknickt.“ „Und dann mit dem Fuß Motorrad fahren? Ihr braucht irgendwie beide Babysitter?“ „Brandon hat Recht! Lass uns einfach in Ruhe und zisch ab nach Hause!“ Junge, war der auf einmal giftig drauf!
Man konnte Isaac ansehen, wie er zusammenzuckte. Er war ja meistens echt nett. Aber wenn seine militärische Vergangenheit hochkam, dann äußerte sich das nicht nur in der Autorität, die er dann immer noch ohne Zweifel ausstrahlte. Er erwartete dann auch keinen Widerspruch sondern am liebsten ein „Sir! Ja, Sir!“ Und wenn das ausblieb und sogar Widerspruch kam, dann schlug er so wie jetzt bei Alex ziemlich hart wieder im Zivilleben auf. „Ist ja schon gut.“ Alex schwang sein rechtes, lädiertes Bein über die Maschine und wir waren abfahrbereit.

Um die meistens auch am Wochenende ziemlich ausgelastete OR-140 zu umgehen, fuhren wir ein Stück OR-62 und dann über Butte Falls. Nach 6 Meilen auf der besagten OR-140 nahmen wir wieder verträumte Nebenstraßen ohne Nummer, am Lake of the Woods entlang über die Dead Indian Road – befremdlicher Name. Die Clover Creek Road führte uns nach Keno und ab Worden nahmen wir ein Stück die US-97. Zum Mittag in Dorris holten wir uns was am El Tapatio Imbiss und weil es keine Sitzgelegenheiten gab, auch nicht draußen, durften wir die Motorräder zu Stehtischen umfunktionieren.
Anschließend ging es über die unterwegs einige Male den Namen wechselnde Straße nach Hornbrook. Über die I-5 verließen wir Kalifornien wieder und wechselten hinter der Grenze auf den Old Highway 99, OR-273 und OR-66. Von Ashland nahmen wir die OR-99. Keiner machte Anstalten, mal anzuhalten, weshalb wir plötzlich merkten, dass es Zeit für den Abschied war. Auf dem Parkplatz einer Autolackiererei hielten wir also noch mal kurz an, wechselten ein paar Worte und dann trennten sich die Wege. Alex blieb auf dem South Pacific Highway in Richtung seiner Bude in der Innenstadt, Isaac und ich bogen auf die Garfield Street ein. Dort nahm aber Isaac die I-5 für zwei Abfahrten, um sich nicht bis zu seinem Haus in Four Corners den Stadtverkehr reinzutun. Ich blieb nach East Main Street auf dem Straßenverlauf. So hieß auch die Neighborhood, in der ich wohnte, allerdings war schon auf der anderen Seite der Oregon Avenue, die an einer Seite meines Grundstücks vorbei führte, die Barnes Neighborhood. Außer dem Namen in stadtteilbezogenen Anschreiben von der Stadtverwaltung bekam ich von der östlichen Hauptstraße nichts zu Hause mit.

Ein Kommentar zu “Kapitel 49 – Woche der Entscheidungen

  1. Ich hatte gar nicht mehr auf dem Schirm, dass Brandon ebenfalls ein Barbecue am 4. Juli hatte. Genau wie Familie Murdock. Nur eben gut 300 Meilen weiter nördlich.

    Like

Hinterlasse einen Kommentar