Kapitel 12 – Die Obdachlosen

Die Anschlussfracht stand in Cardiff. Ich verließ mit den 9-Uhr-Nachrichten Swansea. Thema Nummer 1 war der Einsturz der berühmten Dawlish Sea Wall an der Südküste von England in der vergangenen Nacht.
Während dort der Wintersturm auch weiter wüten sollte, sagten sie für Südwales und meine Strecke über London an die Südostküste eine Verschnaufpause von einem Tag vorher. Die setzte auch auf der Autobahn noch vor Cardiff ein und der Regen hörte auf.

In Cardiff ärgerte ich mich mit zwei Reisebussen herum, die synchron beide Fahrspuren blockierten und pauschal 5 mph, also 8 km/h langsamer fuhren, als jeweils erlaubt war.

Aber schließlich kam ich bei Dachser an und kuppelte den Trailer mit 11 Tonnen Feuerwerk an. Inzwischen waren die Wolken bis weit an den Horizont abgezogen und das Millennium Stadium als eins der markantesten Bauwerke von Cardiff lag bei meiner Abfahrt in der Sonne.

Kaum war ich auf der Autobahn, klingelte mein Handy. Ich war ja lernfähig und so stand statt einer französischen Handynummer inzwischen „Julian Franke“ im Display meiner nachgerüsteten Freisprechanlage: „Hallo Julian.“
Im Hintergrund wurden ziemlich hitzige Debatten auf Französisch geführt, ich konnte auch Marlon dazwischen ausmachen. „Hallo Ricky. Es ist mir ja echt peinlich, aber immer wenn wir nicht weiter wissen, rufe ich bei Dir an.“ „Wieso? Was ist passiert? Hattet Ihr schon wieder einen Unfall?“
„Nein, mit uns und auch dem Truck ist alles so weit in Ordnung. Na gut, mit uns nur körperlich. Unsere Tante hatte einen Schlaganfall und ist am Wochenende gestorben, weshalb wir auch so eilig auf dem Weg nach Frankreich zurück waren. Gestern war die Beerdigung und heute setzt uns unser Onkel, also ihr Bruder, der hier das Haus erbt, die Pistole auf die Brust.“
„Das heißt?“ „Das heißt, wir sollen entweder das ganze Haus mit Garten zu einem viel zu hohen Preis mieten oder sofort ausziehen.“ „Was Familienbande.“ „Das ist mehr Bande als Familie! Unsere Mutter war eben das schwarze Schaf, das jede Familie irgendwo in ihren Reihen hat. Aber erst mal vielen Dank, dass Du mir bei unseren Sorgen zuhörst. Wo brummst Du eigentlich rum?“ „Von Cardiff nach Dover, morgen Mittag Köln und dann Wochenruhe zu Hause.“
Super, die haben keins mehr und ich schwärme von zu Hause rum. „Na Du hast wenigstens eins. Wir brauchen jedenfalls diesen Palast hier nicht, aber er weiß, dass wir keine Chance haben und mieten müssen. Schon alleine, weil wir unseren Pflichtteil in Möbeln bekommen sollen. Also mal wieder schuften für nichts. Und er hat einen Mieter, den er sonst auch nicht so schnell finden würde für das Ding.“
Ich konnte solche Zwangslagen nicht leiden, aber den Gedanken sprach ich dann doch schneller aus als gewollt: „Wollt Ihr denn in Frankreich bleiben?“ „Wenn es nach mir geht, dann nicht. Und ich glaube, Marlon will auch hier weg.“ „Mietet Euch billig einen Trailer, packt Euren Krempel rein und kommt nach Bochum. In meiner Halle ist eh noch nix vermietet, da können auch ein paar Wochen lang Möbel rum stehen.“ „Und eine billige Wohnung im Ruhrpott zu finden dürfte auch keine große Herausforderung werden. Die Idee hat ihren Charme, und wenn es nur das dumme Gesicht von Onkel Francois ist, dass die Bude plötzlich halbleer und von uns geräumt statt gemietet ist. Aber das können wir eigentlich nicht annehmen, dass Du uns schon wieder aus der Patsche hilfst. Wir werden ja langsam anstrengend.“
„Was ich anstrengend finde, entscheide ich noch selbst. Also, Hallenplatz ein paar Wochen für lau? Eure Betten könnt Ihr so lange auch ins freie Schlafzimmer stellen. Angebot steht.“ „Aber nur gegen Unkostenbeteiligung fürs Zimmer und Essen, okay? Ich bespreche das mit Marlon… Moment, der kann offenbar französisch streiten und deutsch belauschen gleichzeitig. Ich habe schon den Truckschlüssel in der Hand. Ciao, bis später.“ Bevor die Verbindung beendet wurde, hörte ich Julian noch was auf französisch in den Raum rufen.

Das nächste, was ich hörte, war ein Piepser von meinem Truck, die Reservewarnung meldete sich zu Wort. Jetzt musste ich auch noch hier tanken. Wenn es einen Grund gab, Großbritannien nicht zu mögen, dann waren es die Spritpreise. Ich tankte nur halbvoll, den Rest würde es irgendwo geben, wo es billiger war.


Ohne weitere Zwischenfälle kam ich nach Dover und fuhr in der Abendsonne auf die Fähre. Kaum zu glauben, dass einige hundert Kilometer westlich ein Sturm tobte, der Hochwasserschutzmauern einriss.

Der Sturm mit Regen tobte auch 30 Kilometer weiter südlich, also in Calais. Um morgen Zeit zu gewinnen, hatte ich widerwillig noch heute übergesetzt, war dann aber trotz Restfahrzeit auf dem umzäunten Hafengelände geblieben. Mit explosivem Gefahrgut war mir das lieber.
Bei prasselndem Regen auf dem Parkplatz überlegte ich mir, wie es in Bochum weiter gehen sollte, wenn Julian und Marlon da waren. Natürlich würden sie eine Wohnung in der Gegend bekommen. Aber ich kannte mich jetzt seit 34 Jahren, also ahnte ich auch schon, welcher Vorschlag da früher oder später auf dem Tisch landen würde.

Um kurz vor 4 nachts machte ich mich, statt irgendwelche berührungsempfindlichen Blätterteigwaren mit miesem Kaffee runterzuspülen, ein Snickers kauend auf den Weg.
Bis zum Sonnenaufgang war ich schon bei Lüttich. Auf dem Rastplatz Aachener Land war es Zeit für die Fahrpause und ein anständiges Frühstück. Irgendwer schien mit Blick auf den Parkplatz einen größeren Bedarf an Lüftungsanlagen zu haben. Meine Holzkisten fielen irgendwie aus dem Rahmen.

Gut gestärkt ging es zum Schlussspurt. Es war immer wieder ein hübscher Anblick, wenn man nach Köln kam. Die Skyline von Fernsehturm, Kölnturm und Dom gefiel mir bis heute besser als das Kraftwerk in Bochum. Aber trotz des Panoramas hatte ich mich mit meiner neuen Heimat ganz gut angefreundet.

Kurz danach rollte ich in Richtung Abladestellle im Deutzer Hafen.

Anschließend ging es nach Bochum und dann war die Arbeitswoche zu Ende. Julian rief am späten Nachmittag kurz an, sie waren in der Nähe von Metz und hatten jetzt große Pause.


Am nächsten Tag um die Mittagszeit rollte dann das französische Gespann auf den Hof. Der Renault war an der Front inzwischen mit Nahkampfwaffen reichlich aufgerüstet, wobei die heftigen Fanfaren eher zum Fernkampf zu rechnen waren.

Nach einem kurzen Mittagsimbiss machten wir uns zu dritt dran, den Trailer zu entladen. Schließlich standen die Möbel der beiden in der Halle und Marlon machte sich auf den Weg zu Fercam nach Essen, wo er den Trailer abgeben sollte. Ich schaffte in der Zeit mit Julian und dank der Deckenwinde neben dem Treppenhaus die Möbel, die sie in ihrem Zimmer haben wollten, schnell und unkompliziert nach oben.

Während wir gerade als letztes Möbel den Kleiderschrank zusammenbauten, kam Marlon wieder, in der Hand eine Platte Bienenstich.
„Ich koche mal Kaffee!“ „Für mich lieber Tee.“ „Tee? So was trinkt man doch nur, wenn man krank ist.“ So was trinke ich am liebsten jeden Tag um 5 Nachmittags.“ „Das ist ja auch krank…“ „Hast Du das Kaffeekochen von Eurem Vater oder Eurer Mutter geerbt?“ „Zum Glück von unserem Vater. Für französischen Kaffee bin ich zuständig.“ „Zwischenböden bekommste ja alleine rein? Ich mache mir dann mal lieber meinen not yet 5 o’clock tea, bevor Marlon am Ende noch einen französischen Tee zusammenbraut.“
Einmal kurz überlegen stand mir dann doch bevor. Breakfast Tea auf keinen Fall, es war ja kein Frühstück und die Mischung war so stark, dass ich ihr den Spitznamen „Startpilot“ gegeben hatte. Earl Grey fand ich für das seit knapp anderthalb Stunden ziemlich nasskalte Wetter draußen etwas zu sommerlich. Granatapfel, Schokolade oder Marzipanaroma? Ich entschied mich fürs Marzipan.
Marlon sah die fünf Teedosen: „Wie kann man nur so viele Sorten schwarzen Tee haben?“ „Das ist doch harmlos.“ „Okay, Julian hat erzählt, dass Du vier Jahre in Großbritannien gelebt hast. Aber hast Du dabei so viel Kultur mitgenommen?“ „Wenn Liebe nicht blind machen würde, wäre ich wohl noch drüben und hätte mir nach dem fünften Jahr einen britischen Pass geholt. So bleiben mir nur so Sachen wie die Teekultur und meine Satschüssel, die auch Astra 2 kriegt.“

Während wir uns durch den Kuchen futterten, erzählten sie, wie ihr Aufbruch gelaufen war und wie es weiter gehen sollte: „Für mich gab es, als ich mitbekam, dass Julian mit Dir telefonierte, ob wir bei Dir unsere Sachen zwischenlagern konnten, eigentlich nichts mehr zu überlegen. Aber natürlich habe ich den Streit aufrechterhalten. Wer weiß, was unserem Onkel sonst noch eingefallen wäre, wenn wir das Überraschungsmoment verloren. Als Julian dann an der Hupe zog, habe ich einfach den Beistelltisch neben mir gegriffen und den bösen Onkel stehen lassen. Frei nach einer Kreditkartenwerbung: Trailermiete für 3 Tage 400 Euro, eine halbe Tankfüllung 580 Euro, der dumme Blick von Onkel Francois unbezahlbar.“

„Die Fahrt selbst war unspektakulär. Eine neue Tour haben wir eh noch nicht, die stellen wir dann ab hier zusammen. Außerdem sind morgen in der Samstagszeitung ja die ganzen Wohnungen. Da telefonieren wir uns dann mal durch die interessanten Angebote und sehen uns Wohnungen an.“
„Ein Auto habt Ihr ja keins. Wollt Ihr meins ausleihen?“ „Dann bist Du ja nicht mehr mobil.“ „Doch, einerseits gibt’s ja noch die Bogestra. Und wenn es ganz hart kommt, dann mit dem Motorrad.“ „Du hast ein Motorrad? Was denn? Musst Du mir gleich mal zeigen.“ „Yamaha XT660Z. Zeigen kann ich es Dir sofort, zumindest als Hintergrundbild auf meinem Tablet. Dass ich die Maschine noch habe, ist wohl auch nur ein Glücksfall, weil sie gerade zur Inspektion war, als in die alte Halle eingebrochen wurde.“

„Ich hatte mal kurz eine Aprilia Pegaso mit dem XT-Motor. Musste ich aber leider verkaufen. Wenn ich mal wieder ein Bisschen Privatvermögen habe, würde ich aber gerne wieder so eine kaufen. Und Julian will dann sicherlich auch keinen Sozius mehr spielen und eine eigene?“
„Ja, vor allem eine vernünftige. Orange und aus Österreich!“ Die Diskussion, ob vernünftige Motorräder nun aus Österreich oder Italien kamen und in Italien auch noch von einheimischen Firmen oder von japanischen Konzernen da gebaut wurden, nahm dann noch etwas mehr Zeit in Anspruch.

Die Runde durch leer stehende Mietwohnungen war nicht sonderlich erfolgreich. Das Fazit am Samstagabend sah entsprechend aus: „Entweder die Buden sind baufällig, man muss für jeden Nachbarn eine andere Fremdsprache beherrschen, um sich verständigen zu können oder wir sind den Vermietern nicht gut genug.“ „Wie, nicht gut genug?“ „Fernfahrer freut sie immer erst einmal. Nie da und zahlen trotzdem Miete. Aber wenn sie dann nach Lohnbescheinigungen fragen und wir sagen, dass wir eine selbstständige Zweimannfirma sind, ist das Gespräch zu Ende. Dann befürchten sie wohl, dass wir bald pleite gehen und sie Mietausfall haben.“

Nun war es so weit, ich hatte es ja schon im Hafen von Calais kommen sehen: „Warum zieht Ihr nicht hier ein?“ „Wie, hier?“ „Zwei Versionen. Aktuell habe ich hier oben ein freies Zimmer und unter uns steht eine Etage leer bis auf ein Büro. Das hatte ich bisher so getrennt, damit das Büro nicht in der Wohnung liegt. Sonst sitze ich da an meinen an sich freien Tagen bis in alle Ewigkeit. Ganz unten habe ich ab nächster Woche an eine Computerfirma vermietet. Also muss ich jetzt eh entscheiden, ob ich die Mitte auch noch zu vermieten versuche und mein Büro hier hoch hole oder den Platz wie bisher verschwende. Ihr könntet also entweder hier oben das Zimmer haben und wir ziehen eine WG auf, dann ist unten für Euch auch noch je ein Büro frei und es bleibt immer noch ein leerer Raum in der Etage, von dem ich noch nicht weiß wohin damit. Ist eigentlich ein Besprechungsraum, den ich nie vermisst habe. Oder ich hole mein Büro hier rauf und Ihr habt unten eine Wohnung. Sie hat nur einen Raum mehr, dafür kleinere Zimmer. Das, was hier Wohnzimmer ist, ist noch mal geteilt. Und der größte Haken ist, dass es keine Dusche gibt. Da müsste dann die Damentoilette für rausgerissen werden. Ist halt als Bürofläche geplant worden.“
„Das kommt nicht in Frage.“
„Was?“ „Dass Du unseretwegen auch noch Umbauarbeiten anfängst. Aber dass wir hier dauerhaft in Dein Privatleben einbrechen eigentlich auch nicht.“ „Wenn ich es nicht wollte, hätte ich es nicht vorgeschlagen. Seid doch mal ehrlich. Wie oft ist unsereins denn überhaupt zu Hause? Wie oft überschneiden wir uns dann dabei auch noch? Und zumindest ich bin auch noch die ganze Zeit alleine, da habe ich auch nichts gegen gelegentliche Gesellschaft in Form von Mitbewohnern.“ „Also Du musst das nicht machen. Aber wenn Du es wirklich willst, würde ich es annehmen.“
„Julian! Wir stehen immer tiefer in seiner Schuld! Der Truck, die vorübergehende Unterkunft und dann auch noch eine dauerhafte?“
„Ihr steht bisher gar nicht in meiner Schuld. Für den Truck latzt Ihr jeden Monat eine Leasingrate, das ist also eine ganz normale, bezahlte Dienstleistung. Die vorübergehende Unterbringung ist kein Thema und wenn Ihr hier in welcher Art auch immer komplett einzieht, muss man sich auch noch mal über Geld unterhalten.“
Wir unterhielten uns übers Einziehen und das Geld und am Ende lief es auf die WG-Version raus. Nun würde ich also meine Wohnung mit den beiden teilen und unten waren nun die drei Büros belegt.


Der Besprechungsraum war noch leer, aber da beschloss ich, jetzt mal Möbel für zu kaufen. Und dieses Mal nicht die billige Schwedenware, sondern was aus einem renommierten Möbelhaus, das zum Glück auch gleich um die Ecke war. Immerhin würde dieser Raum, wenn wir denn mal Besprechungen mit Externen hatten, unser zukünftiges Aushängeschild sein. Marlon flog in den nächsten Tagen noch mal nach Südfrankreich um dort die Firma abzumelden.
Julian fing dafür an, schon mal in Deutschland die nötigen Unterlagen zusammenzusammeln, um aus der französischen Transinter Frs. Franke SNC die deutsche Transinter Gebr. Franke GbR zu machen. Da sie auch weiter vor allem Frankreich, Spanien und Nordafrika fahren wollten, blieben sie beim etablierten Namen und änderten nur die Firmierung, wobei die französische SNC eh ziemlich der deutschen GbR entsprach.
Ich ließ mir eine entsprechende Vertragsergänzung vom Anwalt zuschicken, damit auch beim Truckleasing alles seine Ordnung hatte.

Zwischendrin machte ich am Dienstag mit Benny die Schlüsselübergabe fürs Erdgeschoss. Ob nun bis zum 15. keiner rein kam oder ob sie schon mal am 11. die ersten Kartons rein stellten, war mir auch egal. Geld brachte an den vier Tagen keins von beidem ein. Und ich schraubte an den entsprechenden Plätzen schon mal auf Nummernschilder geprägte Schilder mit den drei hier demnächst residierenden Firmennamen an.

Hinterlasse einen Kommentar