Kapitel 26 – Partnertausch

Am Sonntagabend hatte sich Julian mit einem zwischen die Knie geklemmten Putzeimer auf dem Klo eingesperrt. Was auch immer in seinem Essen drin gewesen war, es hatte da nichts zu suchen und wollte nun in der einen wie anderen Richtung wieder raus.

Das Frühstück am nächsten Morgen ging wieder schief, offenbar waren bei ihm Magen und Darm erst einmal hinüber. Marlon war wenig begeistert, als er mit Judith ankam. Sie dagegen war froh, schien ein fehlender Beifahrer doch ein guter Grund zu sein, dass sich ihr Lebensgefährte (und nebenbei auch noch Chef…) nicht in Libyen den Hintern wegschießen lassen musste.

Weil heute was in Sachen neue Trucks passieren musste, begannen wir mal mit dem Streichkonzert. Mercedes und Scania waren nüchtern betrachtet gar nicht im Budget, wenn wir anständig motorisierte und ausgestattete Fahrzeuge haben wollten.
Wenn demnächst die meistens die Gewichtsgrenze ausschöpfenden Flüssigtransporte eine immer größere Rolle spielen sollten, brauchten wir 500 PS plusminus und im Idealfall eine Vorlaufachse hinten. Pflicht war sie gesetzlich nirgends, nachdem Großbritannien die EU-Regeln übernommen hatte, aber von der rechtlichen Lage wurden die zulässigen Achslasten mancher Brücken nicht besser, was die nun legalen 44 Tonnen mit 5 Zugachsen zu Umwegen nötigen konnte. Und in Südeuropa gab es diese Problemstellung teilweise auch.
MAN war zwar vom Budget zu schaffen, aber fiel gegenüber der weiteren Konkurrenz auch preislich hinten runter.
Also blieben DAF, Renault und Iveco, dank der derzeit laufenden Aktionen rund ums neue Modell auch Volvo. Aus der Klotür kam der Ruf: „Ihr könnt kaufen, was Ihr wollt! Hauptsache es ist ein Renault!“ Immerhin seinen Humor hatte er noch nicht ausgekotzt…

Auch DAF blieb irgendwann wegen dem Geld auf der Strecke. Zwar war das Angebot von Vinni nicht schlecht, aber es wollte doch einer mehr in der Kette Geld verdienen als bei einem Kauf direkt vom Händler. Und nun noch zu BTS fahren fehlte die Zeit. Die Marke war einfach zu spät auf dem Schirm aufgetaucht.
In der Summe war dann um einige Tausend Euro das beste Angebot, zwei Volvo FH mit 460er Maschine zu nehmen und das KfW-Fördergeld einzustreichen. Bei Renault war die Differenz zwischen den ersten zwei attraktiven Angeboten zu groß, das lohnte also nicht für zwei Fahrzeuge, zumal der billigere nur Euro 5 war und wir die Steuern berücksichtigen mussten. Und auch zwei Ivecos waren zu teuer. Einer und der Renault war nicht viel besser, weil der einzelne Iveco dann das teurer wurde, was der Renault billiger war.
„Das wird Julian nicht gefallen.“ „Wieso, ist doch fast wie ein Serie T.“ „Was…?“ Die sprechende Klotüre verlangte Aufklärung. „Ein Volvo New FH!“ „Wenn Ihr das macht, rede ich nicht mehr mit Euch!“ „Na endlich!“
Das war ein Bisschen gemein von Marlon, aber ich kannte das ja auch. Mit meiner Schwester hatte ich früher immer ähnliche Wortwechsel, auch wenn mal jemand krank war.

Wir packten unsere Sachen zusammen und wollten los, als das Telefon klingelte. Es war Mario: „Was wird denn nun aus Deinem alten Truck? Soll ich ihn meinem Aufkäufer anbieten oder reparieren?“ „Wir wollten sowieso gleich bei Dir vorbei kommen. Ich denke, wir lassen ihn in unsere Halle schleppen und in einigen Wochen ist genug Geld drin, um ihn instand zu setzen. Dein Ankaufpreis ist mir zu schlecht.“
„Bei mir vorbei? Wollt Ihr Trucks bei mir kaufen?“
Seine Freude war bis hier zu hören, es wurde Zeit für den Dämpfer: „Nein, nur auf der Durchreise. Das Geschäft macht Volvo, bei denen ist man schon zu zweit Flottenkunde.“ „Warte, warte, warte!“
Wenn er so hektisch wurde, dann kochte er was aus. „Du willst den Active demnächst reparieren lassen? Wo?“ „Wahrscheinlich bei Mahad, wenn er schon mal hier steht.“ „Nimmst Du auch einen gebrauchten Motor? Dann habe ich ein Angebot, das Du nicht ablehnen kannst.“ Wenn er noch schneller sprach, würde er vermutlich vom Deutschen ins Italienische wechseln, ohne es zu merken. Dass er sich gerade zum Mafiapaten gemacht hatte, war ihm wohl auch entgangen.
„Na dann mach mal Dein Angebot, Du Mafiosi!“ Er lachte, offenbar hatte er erst jetzt das Zitat erkannt. „Würdest Du, wenn ich Dich überzeuge, einen oder zwei Trucks kaufen?“ „Vermutlich einen. Oder Du tauchst so tief, dass Du einen Renault Magnum mit Auslaufmodell-Rabatt ausstichst.“ „Wenn Du den Hi-Way 500 wie gestern angeboten kaufst, behalte ich Deinen Active hier, bis ich einen gebrauchten Motor bekommen kann. Dann zahlst Du nur meinen Einkaufspreis plus ein paar Prozent und ich gebe Dir einen dicken Rabatt auf die Arbeit.“
Er ließ Zahlen sprechen, für einen oder für zwei neue Trucks bei ihm. Das war in der Tat ein Angebot, das ich nicht ablehnen konnte. Zumindest nicht sofort. „Da hattest Du aber in Deinem Angebot für den Truck noch gut was drin.“ „Klar. Ich hätte Dir ja auch gestern schon einen guten Rabatt geben können. Nur mit dem Dürfen wird es nichts. Bei großen Neuteilen wie Motoren und Getrieben ist es genauso. Aber Gebrauchtteile, Kleinteile und Arbeitszeit schauen sie in Ulm und Turin nicht nach, so lange ich eine Mindestmarge über Selbstkosten abrechne.“
„Aber einen vernünftigen Motorblock!“ „Klar, ich muss ja vom Gesetzgeber eh Gewährleistung drauf geben. Da wird das schon nichts Halbgares.“ „Wir kommen ja so oder so vorbei. Jetzt müssen wir noch mal den Rechenschieber anheizen.“

Wir konnten es drehen und wenden, wie wir wollten. Mit diesen Konditionen führte kein Weg mehr um Iveco und Renault herum. Das Plastikcockpit bekam man aus Italien mit allerlei Gimmicks versüßt, für die man bei Volvo mit unserem Budget nur sehnsüchtig die Aufpreisliste anschmachten konnte, bevor man auf sie verzichtete.
Für so gutes Geld würden wir den alten Stralis in 10 Jahren nicht mehr auf die Straße bekommen. Fraglich war nur, wie schnell wir es so hin bekamen, denn ein Spendermotor wollte ja auch erst einmal gefunden sein. Aber bis da hin stand er bei Mario in der Ecke und fraß kein Brot.
Einziger Grund für Volvo war nur noch, wenn Chris ein Veto einlegte. Also gab es noch einen Umweg übers Krankenhaus. Julian hatte sich inzwischen mal wagemutig auf den Weg zu unserem Hausarzt gemacht, aber der würde jubeln, wenn er seinen Magnum bekam.

Auf die Frage, ob er nach dem Erlebnis noch mal einen Iveco wollte, meinte Chris nur: „Das ist doch nicht Ivecos Problem, wenn wir nicht tanken können. Hauptsache der neue frisst jeden Diesel, den er kriegt.“
Also ging es nun anstatt nach Osnabrück doch erst nach Recklinghausen und dann von da nach Düsseldorf.

Wieder im Büro hatten wir noch einen Auftrag für Judith: „Könntest Du mal bitte eine Stellenanzeige formulieren? Wir brauchen ja dann einen Fahrer für den Premium.“ Wir stellten zusammen, was alles rein sollte. „Apropos Renault Premium, hier sind die Unterlagen für Eure dämliche Afrika-Tour morgen. Soll ich die mal so langsam absagen?“
Wir nahmen uns die Aufträge und blätterten sie durch. Ich griff zum Taschenrechner und fing an, die Konventionalstrafen aufzuaddieren. „Absagen wird nichts, dann hätten wir eben nicht einkaufen fahren dürfen. Das sind ja in Summe über 12000 Euro Strafzahlung.“
„Was ist eigentlich mit Julian?“ Die Frage war auch irgendwo berechtigt. „Der ist oben.“ Wir liefen also in die Wohnung und fanden ihn mit einer Packung Zwieback und einer Flasche isotonischem Sportgetränk auf dem Sofa.
„Wenn ich einfacher Angestellter wäre, hätte ich einen gelben Schein. Mit irgendwas habe ich mir den Magen kräftig verdorben gestern. Der Doc meint, dass ich in dem Zustand zumindest nicht nach Südeuropa, Osteuropa oder Afrika fahren soll.“ „Das ist schlecht. Die Strafen für Afrika fressen uns auf.“ „Dann fahrt Ihr zwei doch.“
„Entschuldigung, aber Chris kommt am Mittwoch nach Hause und wird meine Hilfe brauchen.“ „Es wäre mir auch lieber, ich könnte Dich ihn pflegen lassen und die Tour selber fahren.“
„Sehen wir den Tatsachen ins Auge, das scheint wirklich die einzige Lösung zu sein. Wenn Du einverstanden bist und mit mir fahren willst.“ „Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen. Dann auf nach Afrika. Unter anderen Umständen würde ich jedenfalls lieber eine Tour mit Dir fahren. Ich wäre halt gerne bei Chris, wenn er übermorgen hier ankommt.“
„Ich werde ihn schon nicht verhungern lassen.“ Das glaubte ich gerne. Julian und ich waren hier die Köche fürs Viergangmenü mit allen Raffinessen, Marlon bekam immerhin normales Essen hin und Chris würde ich irgendwann mal seine Küchenkönigskrone mit der Blechschere aus einer Raviolidose schneiden, denn die warm zu bekommen, ohne es anbrennen zu lassen, war schon der höchste Anspruch an seine Kochkünste. Im Hotel Mama lernte man halt wenig für den Haushalt.

Am Nachmittag war ich noch mal zu Chris gefahren. Er war merklich traurig, aber auch er musste einsehen, dass es keine andere Möglichkeit gab. Also wünschte er uns eine gute Fahrt. An Libyen wollte keiner von uns so wirklich denken, aber da führte nun einmal im wahrsten Sinne des Wortes kein Weg drum herum.
Damit wir am nächsten Morgen direkt durchstarten konnten, räumte ich nach unserer Rückkehr meinen Kram noch eben in den Truck.

Die erste Fracht stand erst um halb 10 in Gelsenkirchen bereit. Also durfte ich alleine frühstücken, Julian verzichtete noch dankend darauf und Marlon kam erst gegen 8 mit Judiths Nissan Micra auf den Hof gebrummt.
Kurz danach sah ich die Kabine des Premium das erste Mal im Tageslicht und als eigenen Arbeitsplatz. Marlon wollte als erster fahren, also kletterte ich auf die Beifahrerseite.
Die fehlenden 20 Zentimeter Breite merkte man deutlich. Wie eng die Schlafkoje wurde, konnte ich nachher raus finden. Allerdings war Julian nicht viel kleiner als ich, also musste es schon irgendwie gehen.
Das, was die Kabine hinten flacher war, war sie vorne allerdings höher. Und so passte in die Ablagefächer über der Frontscheibe ironischerweise mehr Krempel als in unserem Truck.
Der Motortunnel war heftig groß, verglichen mit der kleinen Stufe im Boden bei Iveco. Durch die niedrigere Kabine war das Aggregat auch dichter am Innenraum und dadurch lauter. Aber wenn man noch mit 80er-Jahre-Maschinen unterwegs gewesen war, galt das immer noch als Flüsterkabine.
Positiv überraschte mich die Rundumsicht. Beim Stralis konnte sich eine ganze Schulklasse hinter dem Fensterholm verstecken. Hier war er dünn und die ganze Kabine wirkte irgendwie viel luftiger, wie ein Wintergarten gegenüber einem Zimmer mit Standardfenstern.

In Gelsenkirchen nahmen wir unsere Ladung an den Haken. Immerhin mal ein Transport für einen guten Zweck, denn der Empfänger war ein Waisenhaus in Alexandria. Ein Vertreter vom Roten Kreuz verabschiedete uns noch bei dem Logistik-Dienstleister und mit einem Trailer voll Konserven, Babynahrung, Medikamenten, Spielsachen, Kleidung, Windeln und Decken waren wir kurze Zeit später auf dem Weg nach Süden.

Auf der Raststätte Limburg durfte ich dann das Steuer selbst übernehmen. Marlon guckte ein Bisschen komisch, als ich erst mit ihm zusammen auf der Beifahrerseite am Truck lang lief und dann auf der Fahrerseite noch mal nach hinten. Machten die zwei keine Prüfungen nach der Pause, ob sich jemand am Truck zu schaffen gemacht hatte?

„Schaltgetriebe kannst Du ja?“ „Ja.“ „Retarder ist verrückter Weise links der Hebel überm Blinker. Statt auf der Lenkradmitte kannst Du auch alternativ hupen, indem Du typisch französisch die Taste auf der Spitze vom Blinkerhebel drückst. Der Rest wirft eigentlich auch für Fahrer, die noch nie in einem Renault gesessen haben, keine Rätsel auf.“

Trotz des „nur“ 460 PS starken Motors ging es mit dem kleinen Franzosen erstaunlich gut voran. Das änderte sich wegen eines Unfalls erst kurz vor dem Rastplatz, wo meine Schicht zu Ende sein sollte. Aber von Iveco Stralis 310 bis Volvo 750 FH16 – im Stau waren wir nun mal alle gleich schnell.

Als wir vom Rasthaus zurückkamen und weiter fahren wollten und Marlon auf der Fahrerseite am Truck vorbei ging, nur kurz einen Blick auf die Front warf und einstieg, wurde es mir doch zu bunt: „Sag mal, kontrolliert Ihr nicht den Truck vor Abfahrt?“ „Doch, wieso?“ „Weil Du diese Seite nicht gesehen hast.“ „Da bist Du doch lang. Jeder seine Seite.“ „Na dann gut, dass wir drüber gesprochen haben. Bei uns macht der, der gleich fährt, eine komplette Runde. Bleib sitzen.“
Ich kletterte noch einmal runter, lief nach hinten, fand keine Auffälligkeiten und kam zurück: „Dann jetzt immer nach Eurem System.“
Ich machte mir eine Notiz im Hinterkopf, dass wir solche Dinge vielleicht für beide Teams verbindlich festlegen sollten und gelegentlich mal die Teams für eine Tour umstellten, damit sich keine Betriebsblindheit einschleichen konnte. So waren wir immer vorbereitet, sollten wir wie jetzt mal wegen Krankheit oder warum auch immer die Teams umstellen müssen.

In der Schweiz verschlechterte sich das Wetter und in dickem Nebel fuhren wir den Gotthard rauf. Auf der anderen Seite vom Tunnel erwartete uns aber schon wieder trockenes Wetter. Hinter der Grenze nach Italien beendete Marlon den Tag.

Die Nacht war besser als erwartet. Die Schlafkoje war bequem und lang genug. In der Breite fehlten ein paar Zentimeter, aber das war nicht so schlimm. Auf Dauer wollte ich nicht mit zwei Mann in dieser Kabine unterwegs sein, aber für einen Einzelfahrer oder mal eine einzelne Tour zu zweit war der Truck längst frisch für.

Ich übernahm am nächsten Morgen das Steuer und vor der ersten Mautstation wäre das fast schief gegangen: „Was machst Du denn? Weiße Spur!“ Erschrocken zog ich rüber. „Wir haben Telepass, da bin ich gar nicht mehr gewöhnt, in die Kreditkartenspur zu fahren.“
Auch das war ein Punkt, den wir jetzt mal angleichen konnten. Chris und ich hatten den italienischen Telepass, dafür hatten Marlon und Julian das französische Gegenstück Télépéage.

Ohne weitere Zwischenfälle ging es nach Ancona und da die Fähre inzwischen weg war, stand uns mal wieder eine Nacht im Hotel am Fährterminal bevor.
Ich telefonierte lange mit Chris, der aus dem Krankenhaus gekommen und wieder zu Hause war. Julian ging es auch langsam wieder besser, die beiden konnten sich nun also gemeinsam die Zeit vertreiben und wieder gesund werden. Arbeitsgerät hatten sie ohnehin derzeit keins.

Nach der Überfahrt ging es von Igoumenitsa nach Athen einmal quer durch Griechenland.

Die letzten Kilometer zogen sich noch ziemlich in die Länge. An den Bergen vor der Hauptstadt hatte der Premium noch mehr zu kämpfen als seinerzeit unser Stralis und in der Stadt selbst war das alltägliche Verkehrschaos ausgebrochen.

Da wir wieder den Fahrer für die Zwischentransfers im Hafen von Iraklio gebucht hatten, tickerte unsere Wochenruhe während der Fährüberfahrten runter.

In Alexandria machte Marlon einen langen Hals, als wir von der Fähre rollten. „Wonach suchst Du?“ „Nach dänischen Tiefladern mit Panzern drauf. Aber zum Glück ist keiner da.“ „Hä?“ „Wenn Du so einen vor Dir hast, kannst Du schon mal die Zeitplanung abschreiben. Ist Julian und mir letzten Sommer oft genug passiert, Viking Transport hat sich auf so was spezialisiert. Und wenn die damit anrücken, ist der Zollposten erst mal nicht unter 2 Stunden dicht.“
Von der Firma hatte ich auch schon mal gehört und den einen oder anderen ihrer MAN und Volvos gesehen. „Da sind die mit den Dingern so was wie Linie hier runter gefahren. Keine Fähre ohne einen davon drauf. Machen sich aber derzeit ein Bisschen rar, sieht man nur noch selten.“ „Vielleicht in Skandinavien unterwegs?“

Früher wäre das nicht passiert. Da hörte man noch die Flöhe husten. Auf jedem Rastplatz bekam man Veränderungen mit. Und wenn es bekannte Namen waren, dann war es auch egal, ob Selbstständig mit einem Truck oder Großunternehmen. Wie oft ich damals bei Mahler noch in den paar Monaten zwischen der Pleite und dem Abgang nach Wales gehört hatte, wie sie alle schon immer geahnt hatten, dass der Laden dabei war, den Bach runter zu gehen. Nur wenn einer der Rot-Silbernen auf dem Parkplatz stand und man selbst mal den Warnschuss hören könnte, war das Thema natürlich tabu gewesen.
Manchmal war es zwar auch nervig, wenn die Nachrichten sich schneller verbreiteten als man selbst fahren durfte, aber ich sehnte mir dennoch die Zeit zurück. Unser Geschäft war anonymer und so richtige Truckerfreundschaften selten geworden.
Mit Felix hätte ich früher, obwohl das mit den ersten Handys und sündhaften Roaminggebühren nicht so einfach war, bestimmt Kontakt gehalten. Nun war seine Handynummer ein weiterer Eintrag in meinem zum Platzen vollen Adressbuch auf dem Smartphone und würde bald schon im Nirvana verschwinden, bis ich mich irgendwann fragen würde, wer zum Teufel Felix war – auch wenn ich ihm bis ans Ende aller Tage dafür dankbar sein musste, was er für Chris getan hatte.
Ich bekam es ja nicht einmal hin, einen mehr als sporadischen Kontakt zu meinem alten Kumpel Keith zu halten.

Montagabend endlich waren wir in Alexandria und durch den Zoll. Marlon tankte zuerst einmal voll: „Dann müssen wir morgen nicht mehr hier runter. Fahr in Nordafrika immer mit mindestens 3/8 Tankfüllung.“ Dann fuhr er die letzten Kilometer durch die Stadt.

Zwar war es schon spät, als wir vor das Gittertor rollten, aber noch bevor wir erklärt hatten, wer wir waren, stürmten die ersten Kinder und Jugendlichen den Hof. Im Schritttempo rollte Marlon vor, während die Erzieherinnen und Lehrer, sowie die Leute vom Roten Halbmond alle Hände voll zu tun hatten, die Kinder vom LKW fernzuhalten, bis wir endlich im Innenhof standen und der Motor aus war.
Der Zollbeamte im Hafen hatte schon das Siegel entfernt und die Ladung geprüft. So konnten wir die als Diebstahlsicherung angebrachte, blanke Drahtplombe einfach mit einem Seitenschneider öffnen, zwei junge Männer vom Roten Halbmond kletterten auf die Ladefläche und öffneten die Pappkartons ganz hinten an der Ladetür.
Die Organisatoren kannten das Prozedere schon und so war der Truck entsprechend beladen. Kinderaugen leuchteten, als sie die Spielsachen vom Truck verteilten. Als die Kinder so alle versorgt und vom Hof verschwunden waren, startete einer von ihnen einen altersschwachen Gabelstapler und der andere öffnete die Seitenplanen, damit sie an die Paletten mit den eigentlichen Hilfsgütern kamen.

Marlon und ich bekamen inzwischen ein Abendessen angeboten, das wir nach dem Nachmittag in praller Sonne und ohne Verpflegung dankend annahmen. Danach waren wir hundemüde und wollten nur noch schlafen.
„Übernachtet Ihr im LKW? Wir haben leider kein Gästezimmer und keine freien Betreuerzimmer. In einem Schlafsaal wäre vielleicht noch was frei.“ Ein anständiges Bett war uns zwar lieber, aber wie es dort wohl um die Nachtruhe bestellt sein würde? Mamdouh, unser Ansprechpartner vom Roten Halbmond, schien zu ahnen, was wir dachten und beruhigte uns: „Keine Sorge, das ist ein Raum mit 12 Betten und die Jungs sind unsere ältesten, zwischen 15 und 18. Ihr solltet da eine ruhige Nacht haben.“

So war es auch und gut ausgeschlafen wachten wir am nächsten Morgen auf. Ausgeschlafen sollten wir auch sein, denn nun würde es mit einer Ladung Orangen einmal quer über den Kontinent bis Taza in Marokko gehen. 3900 Kilometer in maximal fünfeinhalb Tagen, bevor die Wochenzeit rum war und wir ein Problem auf dem Rückweg nach Europa bekamen. Auch ohne Tempolimits noch eine Herausforderung, besonders da uns die beiden Grenzübergänge Libyens trotz TIR eine Menge Zeit kosten würden.

Wir bekamen noch ein Frühstück angeboten, das wir gerne annahmen. Außerdem wäre es ein grober Verstoß gegen die Gastfreundschaft gewesen, wenn wir abgelehnt hätten.
Ich drehte danach den Sattelzug auf dem engen Hof und zu den fröhlichen Abschiedsrufen der Kinder und Jugendlichen rollten wir ins Ungewisse, auch wenn das erste Ziel mit DB Schenker eine vertraute Umgebung zum Trailertausch war.

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