Kapitel 30 – Timo, das Überraschungspaket

Heute…
…merkt Ricky, dass Meilen keine Kilometer sind…
…wird ein totes Schwein bemitleidet…
…und Timo vermisst ein kleines Haus im Grünen!

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Übers Wochenende war von Timo nicht viel zu sehen gewesen. Mal wie er über den Hof und in Richtung Bahnhof oder Straßenbahn lief und wieder zurückkam.

Noch griffen die Maßnahmen logischerweise nicht, da Judith schon disponiert hatte und somit für alle Fahrzeuge noch mal der Erholungs-Plan griff. Für alle? Nein, ein kleiner Renault Premium musste schon nachts um 4 Uhr los.
Aus mehreren Gründen setzte ich mich zuerst ans Steuer. Erstens war es in dieser Finsternis kein Vergnügen, rückwärts aus der Halle zu fahren und eine Hinterhofbeleuchtung hatte ich damals nicht für nötig gehalten, zweitens musste dann Timo in Calais auf den Euroshuttle fahren und drittens konnte er sich dann als Beifahrer in Folkstone an den Linksverkehr gewöhnen und musste nicht sofort ans Steuer.

Er war ziemlich ruhig, während wir durchs menschenleere Bochum bei Nacht rollten. Also sprach ich ihn an: „Hey, was ist los? Wir hatten am Freitag eine kleine Aussprache. Aber für mich ist das Thema damit auch erledigt, wenn nichts mehr nachkommt.“ „Okay?!“ „Wo bist Du mit Deinen Lektionen in der Realität eines Truckers angekommen?“ „Bei 27.“

„Dann ist Lektion 28, dass Du Dich nicht unterbuttern lassen sollst. Ich bin mal ehrlich, wenn der Brief mit der Anzeige nicht gekommen wäre, hättest Du eine flapsige Bemerkung für die Huperei kassiert und das war es. Denn im Prinzip war es sogar richtig, dass Du ihm Paroli geboten hast auf seine Aktion. Nur die Verhältnismäßigkeit der Mittel muss stimmen und es darf nicht der halbe Ruhrpott dabei aus dem Bett fallen, obwohl er mit der Sache nichts zu tun hat.“

Ich erzählte ihm kurz von meiner eigenen, saudämlichen Begegnung mit dem Racheengel. Das war eine Sache, die bis da hin nur Keith und Luke, aber noch nicht mal Chris kannten.
„Unser Job ist schon eine ziemliche Belastung. Wenn Du da allen Ärger in Dich rein frisst, wird es nicht besser. Eher im Gegenteil, es wird schon seinen Grund haben, warum viele Trucker aus allerlei Gründen nicht bis zur Rente durchhalten. Am besten reagierst Du Dich natürlich zum Feierabend beim Sport oder so ab. Aber wenn Du den anderen Truckern auf der Straße auch nur den Hauch von Schwäche zeigst, dann machen manche von denen Dich schneller fertig als Du bis 3 zählen kannst. Vor allem die, die sonst nichts zu melden haben. Wenn Dir gar nichts passendes einfällt, dann geh wenigstens stolz und als Teflon-Mann weg, von dem alles abperlt, bevor Du im Fahrerhaus hinter zugezogenen Blenden einen Nervenzusammenbruch bekommst. Firmenintern verhält sich das etwas anders. Wir wissen untereinander alle, dass wir nur Menschen sind.“

Mit dieser kleinen Lektion aus dem Leben waren wir auch schon in Dortmund. In genau einer Stunde von Bochum nach Dortmund, aufsatteln und den morgenmüden Leuten bei ND Papiere aus dem Kreuz leiern. Wenn man erst um 7 aufbrach, war man nach einer Stunde noch irgendwo im Stau.

Während Timo im Büro war, holte ich die kleine Überraschung hervor, wobei die gar nicht so klein war, 52 Zentimeter lang. Einerseits hatte ich mein eigenes Namensschild, das bei unserer aktuellen Truckwechselei sowieso in der Garage lag, eingepackt und außerdem noch eins für Timo prägen lassen. Also pappte ich beide in der Scheibe fest.
Als er zurückkam, bemerkte er es: „Hey, so eins wollte ich mir schon selber machen lassen. Danke.“ „Sieh es als noch einen Beweis dafür, dass wir immer noch an Dich glauben.“

Obwohl das Navi durchs nördliche Ruhrgebiet in Richtung Rotterdam wollte, fuhr ich zu Timos Überraschung auf die Autobahn Richtung Köln: „Lektion 29, das Navi hat nicht immer Recht. Englandfähren fahren nur zwischen Calais und Dover ständig, ansonsten nur 1 oder 2 mal am Tag. Wenn wir dem Navi nach Rotterdam folgen, verschenken wir einen halben Tag und sind erst morgen Mittag in Birmingham.“

Der kleine Premium hatte durch die großen Reifen deutlich gewonnen. Es war halt kein echtes Fernverkehrsfahrwerk, sondern kam aus dem Nahverkehr und war nachträglich auf Langstreckenkomfort getrimmt worden. Die nachgerüstete Achsverstärkung und Supersingle-Reifen auf der Vorderachse hatten das Fahrwerk bei Autobahntempo deutlich beruhigt, Alufelgen taten ihr übriges.
Durch die Morgendämmerung nahmen wir die Steigungen im Bergischen Land.

Auf dem Kölner Ring lächelte uns dann die aufgehende Sonne an und an der Grenze nach Belgien machten wir Fahrerwechsel. Timo kramte, weil das Radio bald nur noch französisch können würde, einen USB-Stick hervor: „Können wir den hören?“ „Was ist denn da drauf?“ „Punk und Metal. Blink 182, Billy Talent, Chumbawamba, Ensiferum, Sabaton, Blind Guardian und so.“ „Oha, teils harter Stoff.“ „Dachtest Du, bloß wegen meiner bankschaltertauglichen Frisur hör ich auch gleich Justin Bieber?“ Er wusste also logischerweise selbst, wie er aussah… „Nicht unbedingt, aber das kommt trotzdem unerwartet, bestimmt auch wegen Deinem braven Aussehen.“ „Haare wachsen leider nur anderthalb Zentimeter im Monat. Wird noch eine Weile dauern, bis das passt.“ „Oha, was wird das denn? Metalmähne bis zum Arsch?“ Er lachte bei der Vorstellung: „Nee, keine Sorge. Wollte sie so bis über die Ohren wachsen lassen, maximal schulterlang. Hatte ich mit 15 schon mal und das dauert auch fast ein Jahr bis dahin.“
„Okay, Kompromissvorschlag. Wir nehmen meinen Alleinfahrer-Stick. Da ist Metal drauf, mit dem man es eine Woche aushalten kann. Avantasia, Dragonforce, Nightwish, Rhapsody of Fire, Axxis, Hammerfall, auch ein Bisschen Sabaton und Blind Guardian. Nach einer Woche Ensiferum und Billy Talent bin ich vermutlich weich gekocht.“
„Warum Alleinfahrer-Stick?“
„Weil ich Chris damit auch nicht kommen muss. Der hört Pop, Softrock und die frühen Metal-Klassiker der 80er. Also hab ich einen für uns beide, seit er normalerweise bei mir auf dem Bock sitzt, und den hier wenn ich mal mit dem Auto unterwegs bin. Alleine im Truck ist ja inzwischen die Ausnahme.“ So waren wir uns einig und mein Stick wanderte in den Slot am Radio.

„Meine Nerven…“ Der Motor heulte kurz und gequält auf, als Timo das Getriebe unter Vollgas manuell in den 11. Gang zwang und nach ein paar Sekunden von der Automatik wieder in den 12. raufspringen ließ. „Dir ist schon klar, was Du gerade machst?“

„Mir ist vor allem klar, was ich gerade nicht mache. Ich fahre nicht zu schnell, ich hupe nicht und ich mache keine wilden Gesten.“ Timo überholte gerade ernsthaft einen Truck, der mit 70 über die Lütticher Stadtautobahn gondelte und hatte sich über ihn geärgert, bevor er zum Überholen ansetzte.
Aber seine Antwort auf meine Frage war von dem Menschenschlag, den wir als Fahrer haben wollten. Schlagfertig, witzig, aber nicht mit der Brechstange im Straßenverkehr unterwegs.

Wir kamen schließlich gegen Mittag am Shuttle-Terminal in Calais an. Ich nahm Timo mit, um ihm die Formalitäten zu zeigen und außerdem mussten wir sowieso persönlich durch den Zoll, weil das Vereinigte Königreich nicht zum Schengenraum gehörte. Außerdem hatte ich ihm bei der Gelegenheit erklärt, dass er nicht mit Gefahrgut durch den Tunnel durfte, unsere Haushaltswaren jetzt gingen aber natürlich.
Und natürlich folgte Lektion 30: „Werde nicht zum Busfahrer. Halte in Hafenstädten und vor dem Tunnelterminal möglichst nicht an, sondern versuch auch bei roten Ampeln so lange zu rollen wie möglich. Wenn Dir illegale Einwanderer ins Fahrgestell klettern, hast Du ein paar Stunden Zollverhör und jede Menge Schreibkram gewonnen. Auch Rastplätze auf den letzten 100 Kilometern vorm Tunnel sind gefährlich.“ Auch die Prüfung des Trailers mit Schraubenschlüssel im Anschlag hatten wir vor der Kontrollstelle natürlich geprobt.
Dann durfte Timo in Millimeterarbeit auf den Zug rangieren. Dank Chris Extrem-Rangierprogramm mit Nahverkehr in der ersten Woche konnte er aber müde lächeln und kam gut und schön mittig drauf.

„Wie schnell darf man hier eigentlich fahren?“ war seine Frage auf der anderen Kanalseite. „Weil Du einen Renault hast, schaltest Du hier einfach um auf Meilen und fährst 30 innerorts, 40 außerorts, 50 auf Schnellstraßen mit grünen Schildern und Mittelleitplanke, bis in den Begrenzer auf Autobahnen mit blauen Schildern. Theoretisch dürftest Du da 60.“ „Praktische Sache.“ „Solltest Du irgendwann mal mit einem anderen Truck hier rüber müssen und nur Kilometer anzeigen können, 48 innerorts, 64 außerorts, 80 auf Schnellstraße und 96 – die Du wegen des Begrenzers sowieso nicht erreichen kannst – auf Autobahnen.“
„Au weia, was eine Autobahnauffahrt.“
„Willkommen in der Realität eines Truckers, Lektion 31. An den Autobahnauffahrten und vor allem den Landstraßen, die uns aber erst mal erspart bleiben, merkst Du, warum das Land ENGland heißt…“

Auf der Themsebrücke blitzte es mal kurz hinter mir im Spiegel. „Arrrgh!“ „Was ist?“ „Ich bin natürlich nicht mehr dran gewöhnt, Meilentacho zu haben, weil ich die letzten 7 Jahre nur noch mit Mercedes und Iveco hier war. Und prompt werde ich mit 55 Meilen abgeschossen, weil hier nur 50 erlaubt sind.“
„Macht das was? Ist doch Ausland.“
„In der EU wird inzwischen international vollstreckt. Und die Schweiz bittet höflich drum, dass Du aus Deutschland zahlst, kann als nicht EU-Land aber nicht vollstrecken lassen. Die kassieren Dich dann bei der nächsten Einreise an der Grenze ab und wenn Du nicht zahlst, wanderst Du ein paar Tage in den Bau.“
„Wird das hier teuer?“
„Unter 100 Pfund, also 120 Euro läuft nichts. Den Fahrer muss man zum Glück international nicht angeben, dadurch spare ich mir die 3 Punkte. Bei 12 gibt’s Fahrverbot im Land.“ „Für 5 Meilen?“ „Ja, Deutschland ist das Land der lächerlichen Strafen, im Ausland bekommst Du so gut wie überall mehr. Allenfalls Belgien nicht…
Und damit willkommen in der Realität eines Truckers, Lektion 32. Strafzettel zahlst Du aus der privaten Kasse. Normalerweise fragt Judith den Übeltäter, ob sie es vom Firmenkonto überweisen und dem nächsten Gehalt abziehen soll.“


Bei Milton Keynes übernahm Timo und fuhr ohne weitere Vorkommnisse und Lektionen den Rest nach Birmingham. Im Abendrot lieferten wir ab und suchten uns dann einen Stellplatz.

Es gab hier auch immer ein gutes Frühstück. Bäckereien oder Imbisstheken am Eingang von Supermärkten boten warmes Frühstück an. Wobei das natürlich auch nicht jedermanns Sache war. Anstatt Full Traditional entschied ich mich mal für Eggs Benedict, den erfolgreichsten Frühstücks-Exportschlager Amerikas, in Großbritannien inzwischen die Nummer 2 unter den Cooked Breakfasts nach dem eigenen Full Traditional.
Timo suchte sich ein Omelett mit Pilzen aus und versuchte sich ansonsten, an so viel Erdbeermarmeladentoast wie möglich festzuhalten.

„Willkommen in der Realität eines Truckers, Lektion 33. Am zweitgefährlichsten ist der Morgen danach.“ „Hä?“ „Die zweitmeisten linksverkehrsbedingten Unfälle in Großbritannientouren passieren am Morgen nach der ersten Übernachtung. Du bist noch leicht verschlafen und anders als im Hafen oder am Bahnhof steht vor Deinem Hotel kein Schild, dass Du links fahren musst. Wenn Du auf Nummer sicher gehen willst, schreib Dir ein Post-It mit dem Wort Links und kleb es abends aufs Lenkrad, bevor Du schlafen gehst.“ „Und die meisten Unfälle?“ „Verrate ich Dir, wenn es so weit ist.“

Erst mal ging es durch den zum Glück gegen den Strom nicht so lange heftigen Berufsverkehr aus Birmingham bis nach Cardiff. Hier übernahm Timo und fuhr weiter nach Swansea. Dort hieß die neue Ladestelle Bosch. Beim rein fahren guckte er nur, dass die Spiegel dran blieben.
Dann sattelte er den Auflieger auf, der mit zwei weiteren Kameraden beladen war. Aus dem Bürofenster beobachtete ich Timo, wie er die Spanngurte einzeln prüfte und zwei von ihnen noch mal nachspannte. Braver Junge.
Aber wo man rein fährt, muss man auch wieder raus. Und das wurde Timo dann klar, als er sich anstrengen musste, weder vorne ein anderes Auto zu rasieren, noch hinten mit dem Trailer einen Stein aus dem Tor zu fegen. Ich stieg dann doch lieber aus, hielt den Querverkehr an und spielte Einweiser.

Nun ging es auf Landstraßen in Richtung Nordwales und dann hieß das Ziel für diese Tour Manchester. Aber der Weg dorthin war garniert mit merkwürdigen Straßenschildern: „Lanwasbitte?“ „Llanwrtyd Wells, ist doch ganz einfach.“ (Sprich: „Chlanurtid Wells“) „Und dass das richtig war, soll ich glauben?“ „Kannst Du ruhig. Ich habe vier Jahre hier gelebt.“ „Oookay…“ Seine weiteren Versuche, diesen Ort oder Abbeycwmhir, Caersws und Froncyssylte auszusprechen waren schon lustig.
Kurz nach letzterem folgte die Doppelkrönung. Nach Timos verzweifelten Fehlversuchen an Rhosllanerchrugog und einen Wegweiser später dem für uneingeweihte vollkommen vokalfreien Bwlchgwyn („Bulchgwin“) war Wales aber leider zu Ende und wir kamen wieder in das Land, wo ein sauberes TH schon die größte Herausforderung für die germanische Zunge war – und das beherrschte unser Diplomatensohn nach mir als Aushilfsbriten am besten in der Firma.

Wir tauschten in Manchester die Trailer gegen einen Tanktainer mit chemisch reinem Benzin und kamen noch bis hinter Carlisle, wo wir im „Premium-Hotel“ übernachteten, Zimmernummer BO-XF 47.

Am nächsten Morgen gab es im Rasthaus dann mein Full Traditional und für Timo die importiere Rettung aus Amerika, nämlich Pancakes. Ich fuhr nach Glasgow, lud ab, sattelte einen Trailer mit gewöhnlichem Motorbenzin auf und schon waren wir auf dem Weg durch den Rand der Highlands in die nördlichen Lowlands.
„Ah, ein Rastplatz? Fahrerwechsel?“ Ein Schild zog an uns vorbei. „Nein, den sehen wir von der Brücke, wir fahren vorher ab auf die Landstraße.“

Der digitale Fahrtenschreiber piepste immerhin schon doppelt, als endlich ein Kiesplatz an der Landstraße auftauchte. „Fahrerwechsel!“ Ich zog raus und Timo ein dummes Gesicht. „Ich muss aber mal auf Klo.“ „Willkommen in der Realität eines Truckers, Lektion 34. Nicht immer sind am Ende der Lenkzeit Sanitäranlagen vorhanden.“ „Dann werde ich mich mal auf die nicht vorhandene Schüssel setzen.“ Timo grabschte nach einem Päckchen Papiertaschentücher und kletterte mit süßsaurem Gesicht aus der Kabine. Zivilisationsschock für unseren Bonner aus vornehmen Kreisen?
„Tu uns den Gefallen und komm in Blue Jeans zurück! Ansonsten kommt demnächst so eine Art Truckstop, meine Fahrzeit reicht nur nicht mehr.“ „Meine Zeit reicht auch nicht mehr. Durch so eine schöne Blume hat mir ja noch keiner gesagt, dass er mich für zu blöd zum Scheißen hält! Aber keine Sorge, in Bolivien und Nicaragua hat auch nicht jeder Bolzplatz ein öffentliches WC neben dran.“

Während Timo nun erleichtert am Steuer saß, saß ich angespannt daneben, denn in Aberdeen war beizeiten Endstation der Planung gewesen und das hatte sich immer noch nicht geändert, wie ich eben von Judith erfahren hatte. Und so durften wir uns dann nach dem Abliefern bei Dachser einen Stellplatz suchen und wenn es nicht wieder angefangen hätte zu regnen, könnten wir sogar die Stadt angucken. So blieb uns nur das Aberdeen Maritime Museum.
Während wir dort waren, rief Judith an. Früh morgens sollten wir mit einer Fracht nach Edinburgh aufbrechen, von da ging es nach Dänemark, also würden wir Freitag erst nachts zurück sein.

Anschließend gingen wir in einem urigen Pub essen. So war auch die Speisekarte urig, ich entschied mich mal wieder für den eigentlich eher Yorkshire als Schottland zuzurechnenden Klassiker „Toad in the Hole“. Diese wörtlich übersetzte „Kröte im Loch“ waren zwei Bratwürste, die zur Hälfte aus einem Yorkshire Pudding schauten. Der wiederum ist, für die, die es nicht wissen, ein Gebäck aus Pastetenteig, das häufiger mal anstatt Kartoffeln, Nudeln oder Reis die Beilage der Wahl in der englischen Küche ist. Dazu gab es traditionell zusammen mit Äpfeln geschmorte Zwiebeln und Erbsen-Möhren-Gemüse. Seit Chris da war, wurde tendenziell selten britisch zu Hause gekocht, aber das könnte ihm auch schmecken. Julian liebte sie nicht so wie ich, aber hatte absolut kein Problem mit Inselküche.
Timo suchte sich Schweinebraten aus. So richtig zufrieden war er mit seiner Wahl aber nicht. „Was ist?“ „Es schmeckt nicht so wirklich.“ Nachgewürzt hatte er schon. Eins der größten Vorurteile über britische Küche war, dass sie fad schmeckte. Das lag aber alleine daran, dass in Deutschland der Koch schon auf das allgemein übliche Niveau würzt und nur manche Leute noch ein Wenig nachwürzen. In Großbritannien dagegen wird in der Küche nur schwach gewürzt und es ist üblich, sich sein Essen am Tisch nach persönlicher Vorliebe mit Salz, Pfeffer, HP- oder Worcestershire-Sauce zu würzen.
„Das ist ja Schmorbraten. Dazu dieses quietschgrüne Erbsenpüree und Wurzelgemüse. Das arme Schwein.“
„Immerhin nicht gekocht mit Pfefferminzsoße. Aber wie schon Asterix sagte, hat man sich in Britannien den britischen Gepflogenheiten anzupassen! Also spar Dir Deine Kommentare und iss!“
„Immerhin ist das Bier nicht lauwarm.“
„Ich kann es Dir lassen temperieren.“ Den Spruch von Asterix britischem Cousin mit betont englischem Akzent konnte ich mir nicht verkneifen. „Nee…“ Auch das war eine Urban Legend. Britisches Bier wird im Normalfall nicht mit einer Kühlanlage gekühlt sondern mit einer Hebepumpe aus einem Fass im Keller gezogen und somit „kellerkalt“ getrunken, wie auch belgisches Bier, dem aber trotzdem keiner nachsagt, es sei warm. Es sind gerade mal im Durchschnitt 3 bis 4 Grad mehr als in Deutschland und das ist mit 8 bis 12 also immer noch weit weg von Lauwarm. Der Geschmack ist sogar intensiver als in Deutschland, wo bei 5 bis 8 Grad aus dem Kühlschrank schon so langsam die Kältebetäubung der Geschmacksnerven einsetzt. Aber vielleicht schmeckte den Deutschen Bier auch einfach gar nicht und sie brauchten diese Betäubung…

Timo überlebte auch dieses Essen, ebenso wie das Frühstück am nächsten Morgen. Dieses Mal versuchte er es mit Schellfisch und pochierten Eiern auf Brot, ich hatte Kartoffelplätzchen mit Rührei und Lachs. Immer noch bei Regen fuhren wir schließlich am Vormittag nach Edinburgh. Wenigstens das Wetter besserte sich am Firth of Forth und so wechselten wir im Sonnenschein auf eine Ladung Tiefkühlkost nach Dänemark. „Welcher vernünftige Däne will denn britisches Tiefkühlessen?“ Ich sparte mir mal ausnahmsweise einen Kommentar. Die Antwort war eher, dass die Briten vor allem auf dem europäischen Festland beliebte Fische anlandeten und anders rum. Insofern fand über Nordsee und Ärmelkanal ein reger Austausch an Tiefkühlfisch statt.

Auch wenn das Fringe Festival seit dem Wochenende vorbei war, wälzten sich die Massen in Richtung Innenstadt. Der Kreisverkehr in Richtung Autobahn war fast komplett zu.

Als wir ganz vorne standen, aber immer noch nicht in den kaum schneller als Schritttempo endlos durch den Kreisel kriechenden Verkehr kamen, tastete sich Timo zentimeterweise über die Haltelinie hinaus vor, bis eine Frau, die Michael Mittermeier wohl als „Kommunikationswissenschaft-Studentin-Model“ bezeichnet hätte, Angst um ihren Mini bekam und schimpfend stehen blieb.
„Was war das denn?“ „Lektion 25. Wenn man weder Vorfahrt hat noch sie geschenkt bekommt, dann muss man sie sich nehmen.“ „So einen Scheiß kann Dir auch nur Julian beigebracht haben.“
Julian war unser Rekordhalter in Sachen Strafzettel. Zwar nichts wildes, aber immer wieder mal und EU-weit gesammelt nach Abzug aller Toleranzen 3 km/h hier und 5 km/h dort.
Ich fragte mich aber, was aus dem Timo geworden war, der vor nicht mal drei Wochen noch mit 70 über die Lütticher Stadtautobahn rollte und zusammenzuckte, wenn es neben ihm hupte. Zumal die Serientröten von DAF eher ein laues Lüftchen waren. Aber ich wusste nicht, ob der Dachser-Typ aufgerüstet hatte oder Timo damals nur nervös war.

Mal wieder musste ich bei Newcastle dem Navi widersprechen: „Nein, wir fahren weiter bis Hull. Da fährt täglich eine Fähre nach Esbjerg. Die von Tyne fährt nur zweimal wöchentlich, das nächste Mal Sonntag. Und das ist schon verdammt viel, sie sollte schon mal ganz eingestellt werden.“ (in der Realität war sie es zu der Zeit schon, nur in der TSM war sie noch drin und wurde von den anderen Autoren rege genutzt, weshalb ich sie nicht einfach so auslassen konnte)

Irgendwo mitten in Yorkshire blies Timo dann zur Attacke auf einen Honda Accord, der ihm mit 50 statt wenigstens 56 Meilen, die unser Begrenzer zuließ, auf der Autobahn „im Weg stand.“ Das letzte Stück zur Fähre musste ich fahren, weil Timo die Zeit ausging.

Und am nächsten Morgen folgte dann Lektion 35, „Gewohnheit ist lebensgefährlich.“ Denn statistisch ist der gefährlichste Moment von Großbritannientouren ausgerechnet die Rückkehr in den kontinentalen Rechtsverkehr.
Eine Woche lang hat man sich am Anfang mehr, am Ende weniger drauf konzentriert links zu fahren. Rechtsverkehr ist ja normal, da muss man sich nicht konzentrieren. Und schon jagt einen das nach der Woche bereits umgepolte Unterbewusstsein nach links.
Wenn man die Woche alleine auf der Insel unterwegs war und niemanden zum Deutsch sprechen dabei hatte, stellen sich viele ihr komplettes Leben dort auf Englisch um. Dann merkt man den gleichen Effekt auch daran, dass man sich oft noch einige Stunden in der Heimat dabei ertappt, Englisch zu denken.

Leicht schräg zirkelte Timo den Zug bei DB Schenker auf den Hof und fuhr solo rüber zu Fercam. Hier holten wir wieder eine Ladung Benzin ab und machten uns auf den Heimweg, wobei Timo den Tempomaten wieder brav auf die erlaubten 80 stellte und dabei alles überholte, was langsamer war als er.
Das Wetter hatten wir wohl von der Insel mitgebracht, denn in der Lüneburger Heide setzte Regen ein. Der hörte auch nicht mehr auf und so hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, in Wuppertal im Regen abzusatteln.

Die kommenden 2 Wochen würden Marlon und Timo dann mit dem Premium Marokko, Algerien und Tunesien unsicher machen. Julian fuhr alleine mit dem Magnum, musste entsprechend auch nach 2 Wochen wieder hier sein. Und für Chris und mich spielte nun als erstes Team unser Spezialgebiet ADR wieder die Hauptrolle und nicht, dass wir unbedingt zum Thema des Ausbildungsplans passende Touren fahren und am Wochenende für einen Wechsel von Timos Ausbilder unbedingt zu Hause sein mussten.
Um 22:26 Uhr rollten wir auf den Hof und hatten beschlossen, die Reinigung der Zugmaschine am Samstagmorgen nachzuholen. Julian und Chris spielten Empfangskomitee. Chris begrüßte mich überschwänglich mit Umarmung und Küsschen. Dabei hatte er wohl nicht an Timo gedacht, der nun mit offenem Mund und rotem Kopf in der Fahrzeughalle stand.
„Seid ihr zwei schwul und ein Paar?“ „Ja, was dagegen?“ Da war Chris wohl noch durch die schlechten Erfahrungen in der Familie leicht reizbar. Denn ich hielt die Frage erst mal für nicht verwerflich, auch wenn die Antwort offensichtlich war.
„Äh, nein. Nur überrascht.“
Timo zwang sich ein verlegenes Lächeln aufs Gesicht, bevor er sich in seinen Wohncontainer trollte.


Damals musste man gefühlt ein Markenzeichen haben. So entstanden bei manchen Autoren die grundsätzlich dreiteiligen Überschriften aus nicht zueinander passen wollenden Stichworten. Der nächste zitierte dauernd die Sendung „Asphaltcowboys“ aus dem Privatfernsehen. Bei mir gab es dafür eine Zeit lang an den Vorspann des damaligen BBC Top Gear angelehnte Zusammenfassungen des Kapitels als Einleitung, nach denen man auch nicht schlauer war als vorher.

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