Diese Woche…
…presst Timo eine Zitrone aus…
…Ricky findet die Gangschaltung nicht…
…und Ilarion ist nicht altmodisch!
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Samstag Mittag war ich in Bochum angekommen und hatte den Truck geputzt. Mein Blick an der Fassade hoch blieb an Timos Fenster mit geschlossenem Rollladen hängen.
Julian saß im Wohnzimmer, als ich hungrig rauf kam: „Ich koche heute Abend. Hau Dir am besten ein paar Eier in die Pfanne.“ Während ich noch Eier, und wo ich schon mal dabei war auch Speck, aus dem Kühlschrank holte, schlich Timo in die Küche.
Er gab ein schwer zu beschreibendes Bild ab. Seine Haare waren derzeit sowieso undankbar. Schon im Alltag waren sie zu lang zum Stylen und zu kurz, um als Langhaarschnitt durchzugehen. Diese Wolle stand nun wild in alle Richtungen ab. Dazu durfte er den Titel „Herr der Augenringe“ führen und die Augen selbst waren zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen.
Einzige Kleidungsstücke waren auf halb acht hängende Boxershorts und seine Hausschuhe. Das war mal ein originelles Outfit, um zur Mitte der Probezeit seinen Chefs um die Füße zu laufen. An diesem Wochenende war er wirklich schon drei Monate und ein paar Tage bei uns.
Aber da Arbeitnehmer normalerweise nicht mit ihren Chefs in einer WG lebten und Timo damit um diese Zeit mitten in seiner Wochenruhe ihnen eigentlich nicht begegnen würde, war es uns auch egal. Hauptsache er war Montagmorgen fit und fahrtauglich.
„Sag nichts und vor allem nicht laut…“ „Ich überlege noch, ob ich der Bitte nachkommen oder lieber den Radetzky-Marsch spielen soll.“ „Ha, ha, ha!“
Er machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. Während der Kaffee durchlief, versuchte er, mit Erfolg im fünften Anlauf, zwei Bismarckheringe aus dem Glas zu angeln, stibitzte mir die zwei Scheiben Toast aus dem Toaster und ich durfte mir neue machen.
Mit einigem Befremden sah ich ihm zu, wie er eine halbe Zitrone auspresste, den Saft in einen großen Becher kippte und mit dem Kaffee aufgoss. Alleine beim Gedanken an das Gebräu bekam ich die Kopfschmerzen, die er damit bekämpfen wollte.
Während ich mein Toast mit Speck und Spiegeleiern futterte, würgte Timo sein Katerfrühstück runter. Da es amüsant genug war, ihm dabei zuzusehen, hatte ich mich gegen den Wiener Triumphmarsch entschieden.
Danach trollte er sich mit einer Anderthalb-Liter-Flasche Wasser wieder in sein abgedunkeltes Zimmer. Abends, als Julian dann überbackene Putenschnitzel auftischte, war auch Timo wieder weitestgehend zurechnungsfähig.
„War eins von den 30 Bierchen gestern schlecht?“ So ganz konnte ich mir jetzt den dummen Kommentar nicht verkneifen. „So viele waren es nicht. Und ich habe eher einen von den Sliwowitz dazwischen im Verdacht.“ „Mit Osteuropäern trinkt man auch nicht um die Wette.“
Die Wahl der Waffen war zwar auf Wodka zum Bier gefallen, aber da konnte ich mich auch noch bruchstückhaft an die eine oder andere Halbstarken-Säuferschlacht mit zwei Verlieren gegen Ruslan erinnern. Timo war aber lernfähig: „Danke, das weiß ich jetzt auch.“
Nachdem Timo am Samstag reichlich geschlafen hatte, outete er sich am Sonntag immerhin als auch nicht ganz ungeschickt mit dem Pfannenwender. Außerdem schien er schon geahnt zu haben, dass er nach der schlechten Figur vom Samstag am nächsten Tag eine bessere machen könnte. Jedenfalls überraschte er uns mit einem lateinamerikanischen Frühstück.
Es war, wie er sagte, eher mexikanisch, weil die weiter südlichen Versionen kein solcher Hochgenuss waren. So trafen englisch-amerikanische und lateinamerikanische Zutaten aufeinander zu einem Sattmacher aus Kartoffelplätzchen, Speck, Spiegeleiern, Paprika und wahlweise Tomaten- oder Avocadocreme – oder beides übereinander.
Am sehr späten Sonntagabend, schon deutlich in der Nacht, schlug dann auch Chris wieder auf. Zu der Zeit war ich aber schon im Bett und so blieb es bei ein paar Höflichkeitsfloskeln vorm Einschlafen.
Als unser Wecker klingelte, waren Julian und Marlon schon mit dem Magnum auf und davon. Weil die Einzelfahrer eher von Tag zu Tag früher wurden, passten die inzwischen den Berufsverkehr in die andere Richtung ab und fuhren gegen 10 Uhr los. Ich musste mitten drin los und so drehte sich nun Chris noch mal im Bett rum, während ich das Haus verließ. Timo kam mir auf dem Flur entgegen.
Mit dem Zug fuhr ich nach Düsseldorf und nahm einen Flieger nach Rom. Vom Flughafen fuhr ich mit dem Taxi zu Shell. Hier sollte ich mich mit Thomas, dem Unglücksraben mit dem kaputten Fuß treffen.
Auch er kam mit dem Taxi, frisch aus dem Krankenhaus, wo man ihm am Wochenende die Knochen gerichtet und dann den Fuß und den halben Unterschenkel eingegipst hatte. Der Truck stand in einer Ecke am Zaun.
Das Monstrum hatte 600 PS und die Lackierung erinnerte mich ein Bisschen an Talke, auch wenn es eigentlich nur die britischen Farben sein sollten, wie sie viele Firmen benutzten. Es war quasi der gleiche Truck, wie ihn Keith damals hatte, aber laut Kennzeichen war dieses Exemplar in der ersten Jahreshälfte 2014 direkt in West Yorkshire zugelassen.

„Hi Thomas. Und wie kommst Du da jetzt rauf?“ „Sag einfach Tom. Mit Kraft in den Armen.“ „Soll ich Dir nicht lieber mit einer Räuberleiter helfen?“ „Das wäre gut.“
Ich zog mir die Arbeitshandschuhe über und half ihm dabei, den gesunden Fuß von einer Stufe zur nächsten zu bringen, während er den gebrochenen nur hinterher zog. Schließlich war Tom auf dem Beifahrersitz, der Trailer dran, die Bürokratie erledigt und es konnte los gehen.
Die interessanteste Frage war natürlich: „Warum fliegst Du eigentlich nicht nach Hause?“ „Krankenrücktransport mit unserer Krankenversicherung? Private habe ich leider nicht. Du kennst das doch wohl auch noch. Und einen bezahlbaren Direktflug auf eigene Rechnung bekomme ich frühestens am Donnerstag. Davor entweder auf Flughäfen, die außer dem Namen nichts mit der Stadt zu tun haben, bei der sie angeblich liegen oder mit 2 mal Umsteigen.“
In der Tat ließ einen die staatliche Krankenkasse in Großbritannien gerne mal im Stich. Wer auf der sicheren Seite sein wollte, schloss jede Menge private Zusatzversicherungen auf eigene Kosten ab. Und weil die wie jede Versicherung nach Risiko berechnet wurden, war es für Fernfahrer relativ teuer und mancher ging das Pokerspielchen ein, sich diese Kosten zu sparen.
Wie viele britische Trucks war auch dieser handgeschaltet. Ein Volk, das immer noch der Dampfmaschine nachweinte, war auch nur schwer von einem Automatikgetriebe zu überzeugen.
Trotz meiner Erfahrung mit Rechtslenkern fasste ich auf der Fahrt durch Rom ein paar mal zielsicher zum Türgriff, bevor sich auch zum letzten Reflex herumgesprochen hatte, dass die Schaltung links war. Tom machte sich ein Bisschen darüber lustig.
„Wie machst Du das eigentlich sonst an den Mautstationen?“ Jetzt war es einfach, weil Tom die Kreditkarte vom Beifahrersitz stecken konnte. „Aufstehen, rüber gehen, stecken, schnell wieder hinsetzen und durchfahren.“ In dem konstruktiv alten und somit vom Platzangebot nicht mehr zeitgemäßen Fahrerhaus eine sportliche Herausforderung.

Nachdem wir den Terror von Roms Straßen hinter uns gelassen hatten, begann ich damit, Tom ein Bisschen auszuhorchen. Dass er ein gebürtiger Cockney war, konnte man kaum überhören. Sein Dialekt klang nach London ganz hinten.
Er war 25 Jahre, wirkte aber 5 Jahre jünger, insbesondere dadurch, dass er ziemlich schmächtig war. Der Versuch, durch einen Bart älter zu wirken, sah mit den drei blonden Fusseln im Gesicht auch albern aus, selbst wenn ihm aus Höflichkeit das wohl noch keiner gesagt hatte und ich nicht vorhatte, damit anzufangen.
Trucks zu fahren hatte er bei seinem Onkel in der Landwirtschaft gelernt, als er 13 war. Er hatte sie auf den Feldern neben den Erntemaschinen her gesteuert und bis an die Grundstücksgrenze. Dort übernahm dann ein angestellter Fahrer. So sparte sein Onkel in den Herbstferien einen angestellten Erntehelfer ein.
Mit 18 hatte er dann den Schein gemacht und war aushilfsweise leichte LKW gefahren, zu der Zeit war er auch wegen einer seitdem längst zerbrochenen Beziehung nach Yorkshire gezogen.
Mit 21 kam der große Schein. Er war dann für eine große, aber nicht wirklich namhafte Spedition gefahren, wo die Fahrer getrieben wurden, gegen Lenkzeitregeln und Geschwindigkeitsbegrenzungen verstoßen mussten, die Pausenzeiten für Nebenarbeiten drauf gingen und auch Ladungssicherung nicht sinnvoll machbar war.
Anfang des Jahres hatte er die Nase voll. Als Keith einen dritten Fahrer gesucht hatte, versuchte er sein Glück mit einer Bewerbung und war genommen worden.
Bei 600 PS wenig überraschend zog der Truck den Apennin problemlos rauf. Unser auch nicht eben schwacher Iveco schaffte in km/h nur wenig mehr als ich jetzt in mph vor mir sah.
In der Poebene war dieser Tag zu Ende. Auf einem Rastplatz hatten wir Abendessen und blieben danach noch auf ein Feierabendbier im Rasthaus. Danach schafften wir es, uns in dem engen Fahrerhaus bettfertig umzuziehen und ich kletterte in das obere Bett. Die alte Volvo-Hütte war wirklich in allen Himmelsrichtungen zu klein für zwei.
Am nächsten Morgen kamen wir erst einmal nicht weit, weil zwei Italiener mit dem landestypischen Schwung ihre Autos ineinander gefahren hatten.

Auf dem Weg durch die Schweiz und das östliche Frankreich war nun ich an der Reihe, zu erzählen, wie ich mein Leben in den Trucks dieser Welt verbracht hatte. Schon während meiner Ausführungen zu Wales schien es Tom auf der Zunge gelegen zu haben, aber erst als ich die Gegenwart erreicht hatte, stellte er die indiskrete Frage: „Also wenn ich jetzt alle Puzzleteile zusammen habe, bist Du der Ex von Lucas?“
„Ja. Wobei ihn seine Freunde doch an sich Luke nennen dürfen.“ „Dann hat er außer Keith keine Freunde. Was mich auch nicht sonderlich wundert.“ Mich tat es das schon, denn an sich war er immer ziemlich extrovertiert gewesen. An Freunden hatte es ihm jedenfalls in Pembrokeshire nie gemangelt.
„Wie der schon rum läuft. Haare dunkel gefärbt, an der Seite gleich auf 3 Millimeter abrasiert, im Kleiderschrank herrscht die Palette mit 256 Graustufen, nie ein Lächeln, kriegt das Maul auch sonst nicht auf. Kein Wunder, wenn er alleine ist. Was hast Du denn an dem damals gefunden?“
„Eine andere Person. Ich kenne ihn mit blondierten Strähnchen, Fönfrisur, Klamotten farblich gerne mal eine Nummer zu gewagt. Frisurtechnisch habe ich seinen Iro um 2 oder 3 Jahre verpasst. Und immer noch mit natürlicher Haarfarbe und farbenfroh gekleidet habe ich ihn vor einem Jahr noch mal in Cardiff gesehen. Schweigsam war er früher nie und zu lachen gab es auch immer was.“
„Keith schätzt Lucas als Fahrer, er hat 11 Jahre Erfahrung in dem Job und man kann ihn überall hin schicken. Aber ich habe den Eindruck, menschlich ist er auch von ihm enttäuscht. War der früher echt so anders?“ Ich nickte und ergriff die Gelegenheit, das Thema aus aktuellem Anlass auf die bevorstehende Nachtruhe bei Straßburg zu lenken.
Am Mittwoch freute ich mich wieder daran, wie die 600 Pferde zogen und dass ich ihr Futter nicht zu bezahlen hatte. Tom sagte, ich sollte noch mal in Frankreich oder Belgien eine Tankstelle ansteuern und volltanken. Klar, hier war es viel billiger als auf der Insel.
In Calais kam uns mal wieder der Verkehr bis zum Stillstand in die Quere, also musste ich den Truck kontrollieren, fand aber nicht das obligatorische Werkzeug in der Tür. „Hast Du nichts, um Dich bei der Trailer-Kontrolle verteidigen zu können?“
Tom reichte mir eine Dose rüber. „Pfefferspray?“ „Guck mich schmales Hemd doch mal an. An einem ¾“ Schraubenschlüssel hebe ich mir beim Ausholen einen Bruch. Wie soll ich denn einen Kampf gewinnen?“
Immerhin war niemand drauf geklettert, also musste ich das Zeug auch nicht anwenden. Es dauerte nicht lange und wir standen auf der Fähre.

„This feels a bit special.“ Ich hatte es nur gedacht und musste mal wieder feststellen, dass ich anfing, komplett englisch zu denken, wenn ich mal für 3 Tage kein deutsches Wort gesprochen hatte. Es war mir eigentlich schon nach 3 Stunden so gegangen.
Nach fast 8 Jahren fuhr ich wieder mit einem Rechtslenker auf britischem Boden. Für den Rest des Tages, der uns im abflachenden Berufsverkehr noch bis um London bringen sollte, dachte ich nach.
Irgendwie schien der Kontinent was gegen mich zu haben. Auch wenn mir das viel zu spät klar wurde. Ausbildungsbetrieb abgebrannt, erster Arbeitgeber im Transportgewerbe pleite gegangen, bei einem eigentlich guten Arbeitgeber per Sozialplan rausgeschmissen, in der jetzigen, eigenen Firma Ärger mit meiner berüchtigten Regel Nummer 1.
Wie sollte es mit Chris und mir weiter gehen? In den letzten anderthalb Monaten hatten wir uns voneinander entfremdet. Die kleinen Zeichen hatte ich übersehen oder sie nicht sehen wollen. Aber irgendwie hatte ich inzwischen ein Deja Vu. Genauso hatte es sich mit Björn auch entwickelt. War die Beziehung zu Chris hinter den Kulissen auch schon beendet?
Während ich abends in der Schlafkoje darüber nachdachte, wie toll es doch gewesen war, in Großbritannien zu leben und arbeiten, reifte der Plan, mal ein paar Gedankenspiele zu treiben, welche Worst Case Szenarios sich wie lösen ließen.
Dazu machte ich am nächsten Morgen für den Freitag ein paar Termine aus, während Tom noch nicht wieder beim Truck war. Deutsch war neben Französisch eine beliebte Fremdsprache in britischen Schulen und so war ich mir nicht sicher, ob er vielleicht verstand, was ich telefonierte, wenn er da war.

Der Donnerstag brachte uns nach Liverpool und ich sprach mit Tom unterwegs über belanglose Dinge. Bei dicker Luft auf der Straße kämpften wir uns wieder aus der Stadt raus und mussten nun noch quer durch die Midlands nach Yorkshire.

Ich sah mir unterwegs mal die Anzeigen des Trucks durch und glaubte meinen Augen nicht. Der Verbrauch des Trucks hatte sich nach dem Ende des italienisch-französischen Maut-Terrors bei 9.6 mpg eingependelt. Das waren knapp unter 30 Litern je 100 Kilometer. War dieses Biest trotz 100 PS und 3 Litern Hubraum mehr tatsächlich nicht so nennenswert viel durstiger als unser Iveco?
Als wir in Sheffield auf den Hof rollten, stand schon ein neuer FH in der Halle. „Keith oder Lucas?“ fragte Tom mehr sich selbst. Es war der Chef des Hauses, der uns auch gleich empfing. Ich zog mir ein letztes Mal die Arbeitshandschuhe über, machte Tom die Räuberleiter aus dem Fahrerhaus und kurze Zeit später stieg er in ein freies Taxi, das Keith angehalten hatte.
Ich ging mit meinem alten Freund nach oben in die Wohnung. In unserem Gespräch über dieses und jenes bestätigte er mir auch noch mal, dass der heutige Luke nicht mehr unser Freund von vor 10 Jahren war.
Weil er gute Arbeit machte, hatte Keith ihn behalten, aber die beiden sahen sich nur noch im Rahmen der Arbeit auf dem Hof oder zu Personalgesprächen. Keith meinte, er hätte nach 8 Wochen einen viel engeren Kontakt zu Tom als nach 8 Monaten zu Luke.
Eins meiner Gedankenspiele verkaufte ich Keith als die Idee, eine Niederlassung in Großbritannien zu eröffnen. Das Marktpotenzial war da. Natürlich aber war bei diesem Volk immer der Schatten des Unionsaustritts ein Unsicherheitsfaktor, auch wenn die schottische Unabhängigkeitsabstimmung gezeigt hatte, dass solche Schritte am Ende nicht so heiß gegessen wie gekocht wurden.
Mit seinem augenzwinkerndem „Und den Geschäftsführer der Niederlassung machst Du, oder? Unser schönes Land will Dich einfach nicht los lassen!“ gab er mir auch zu erkennen, dass er zumindest den halben Plan durchschaut hatte.
Am Freitag fuhr Keith mich sehr früh nach Manchester zum Flughafen. Auch beim Auto herrschte der Flottenstandard vor, er fuhr einen Volvo V50.
Nach der Landung um 10 in Düsseldorf blieb mir genug Zeit, erst einmal zum britischen Konsulat zu fahren und mir dort einige Informationen zur Existenzgründung für Ausländer zu holen. Das schien eine überraschend realistische Option zu sein. Die Inseln waren nicht in dem Maße von den osteuropäischen Dumping-Transportfirmen betroffen. Und auch das Konsulat sah den EU-Austritt nicht so wahrscheinlich an wie die Medien auf beiden Seiten des Kanals.
Danach ging es zu einem mir bisher unbekannten Anwalt in Essen, ich konnte mir diese Rechtsberatung schlecht bei Donald einholen, wo meine Kollegen ein und aus gingen.
Für den Fall, dass es mit Chris und mir scheiterte, sah der Anwalt den einfachen Weg für mich darin, mich ausbezahlen zu lassen. Allerdings meinte er beim Blick auf die Unternehmensdaten auch, dass ich damit die Firma an den Rand ihrer Existenz bringen würde. Immerhin war ich der mit Abstand größte Anteilseigner. Um mich auszubezahlen, müssten die anderen drei entweder die Firma oder sich persönlich hoffnungslos verschulden. Das war eine Sache, die ich auch „im Falle eines Knalles“ Julian und Marlon nur widerwillig antun wollte.
Variante zwei war, dass Chris aus der Situation seine Konsequenzen zog. In dem Fall mussten wir nur ihm seinen im Vergleich eher kleinen Anteil ausbezahlen. Er besaß mehr als Marlon oder Julian als Einzelperson, aber weniger als beide zusammen. Das hieß für uns dann allenfalls den Gürtel enger zu schnallen und Expansionspläne ein paar Wochen oder Monate nach hinten zu verschieben.
Sollte Chris nicht gehen wollen, konnte ich mir auch mit Marlon und Julian einig werden und wir konnten ihn mit Stimmenmehrheit rauswerfen, die Folgen wären die gleichen wie wenn er von sich aus aussteigen wollte.
Voll gepumpt mit Anregungen und Auswegen machte ich mich schließlich auf den Weg nach Hause. Hier waren gerade Julian und Marlon damit fertig geworden, den Magnum abzukärchern. Der Stralis stand schon in der Halle, also war Chris da – oder auch mal wieder nicht. Motorradwetter war sowieso keins, Astra und C4 standen einträchtig zusammen in der Halle, also fehlte auch kein Fahrzeug.
In der Wohnung erwartete Chris mich schon, zu meiner Überraschung mit einem Begrüßungskuss: „Hallo Ricky.“ „Hallo Chris.“ Ich wirkte wohl ein Bisschen überrumpelt. „Tut mir leid, wenn ich in den letzten Wochen etwas daneben war.“ Erfreut über die Wandlung wollte ich darüber jetzt erst mal nicht weiter reden. „Ist schon gut.“ Mit einem weiteren Kuss brachte ich ihn zum Schweigen.
Um die sonstige Lage der Nation zu hören, gingen wir noch mal runter auf den Hof. Bei Marlon und Julian war alles Alltag, ließ Marlon mich beim Innenraum auswischen wissen, während sich Julian mit dem Staubsauger bewaffnete. Kurz danach kam als nächstes Ilarion auf den Hof und fuhr zum Waschplatz. Also begrüßten wir auch ihn. „Müsste ich eigentlich einen DAF XF106 von Dachser kennen?“ „Warum?“ „Hat mich am Montag gegrüßt. Konnte aber nix mit dem Fahrer anfangen.“ „Sachsen-Trans? Subunternehmer aus Leipzig?“ „Kann sein, Leipzig auf jeden Fall.“ „Das wird Patrick gewesen sein, ist ein Freund von uns, besonders von Timo.“ Chris grinste, als ich das sagte. „Muss ich ihn mal fragen. Bei Gelegenheit.“
„Hattest Du keinen Funk an?“ „Nein, habe ich auch so gut wie nie. Außer es ist vorher was abgesprochen.“ „Na okay. Denn ich kann mir denken, dass Patrick Dich da gerufen hat. Der ist noch ein Fahrer alter Schule wie Marlon, Julian und ich, wo immer der Truckerkanal mitläuft.“
Über das Wochenende unternahmen Chris und ich wieder ein paar Sachen zusammen. Am Samstag bummelten wir durch Bochum und machten uns auf die Suche nach Weihnachtsgeschenken für meine Familie. Noch war Zeit, aber die letzten Monate des Jahres gingen ja meistens überraschend schnell rum.
Der Sonntag war wettermäßig nicht der Brüller, also spielten wir mit Julian ein paar Karten- und Gesellschaftsspiele. Timo war mal wieder mit irgendwelchen Freunden unterwegs. Am Sonntagnachmittag hoffentlich ohne Pflaumenschnaps.
Sonntagabend wurden wir auch noch mal intim. Hier schien aber der Schatten der vergangenen Wochen noch nicht weg zu sein, denn ein Bisschen musste ich da doch an Bochums berühmtesten Sänger denken: „Streichelst mich mechanisch…“ Aber konnte man erwarten, dass nach drei Wochen Zoff wieder alles sofort harmonierte?
