Diese Woche…
…singen Julian und Timo ein Duett…
…ein Fernsehstar holt Getränke…
…und Ricky folgt verwischten Spuren einer besseren Vergangenheit!
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Am Sonntag ging es dann also zum Fußball. Timo lieh sich für seinen einmaligen Ausrutscher ins „falsche Stadion mit den richtigen Farben“ einen Fanschal bei Julian aus, für mich wollte Julian einen am Stadion kaufen, Widerstand zwecklos. Als „Zeitungsfan“ hatte ich noch keinen, beziehungsweise der, den ich als Schüler mal hatte, war bei einem Umzug unter die Räder gekommen oder so.
Auf der Fahrt zum Stadion dachte ich nach, wie oft Chris mit mir in Köln beim Eishockey gewesen war und dass wir wirklich nur das eine Mal zum Fußball in Düsseldorf gewesen waren. Auch meine Begeisterung für den Verein war schnell abgekühlt, vermutlich wollte ich nur Chris gefallen. Jedenfalls hatte in Sachen Fußball bei mir recht schnell wieder Everton mit einer Prise Cardiff City via Internet die Herrschaft übernommen. Hatte ich ihn also wirklich zu sehr dominiert?
Am Stadion bekam ich im Fanshop meinen Schal und wir gingen in den Block. Es war schweinekalt und die blau-weißen Zipfelmützen mit Vereins- und VW-Logo, die im Block von einem Autohändler als Werbegeschenke rum gingen, wurden meine Rettung vor dem Abfrieren der Ohren.
Das Stadion war verglichen mit der Arena in Düsseldorf ein hässlicher Betonklotz. Die Läden für Essen und Trinken wie auch die Toiletten waren dunkle Grotten im Betonkern, der auf Graffiti-Höhe einfach nur mit Fliesen verkleidet war, um die Wände schnell wieder sauber zu kriegen. Einen echten Außenumlauf wie in Düsseldorf oder all den geschlossenen Eishockeyarenen gab es nicht. Ein Gitterzaun trennte die paar Meter ums Stadion vom Bürgersteig ab.
Und doch passte das Stadion hier her, in diese Stadt, die eigentlich nirgends so richtig schön war und dadurch doch so ihren Reiz bekam, den sie in den letzten anderthalb Jahren auf mich ausgeübt hatte. Wenn man ehrlich war, war auch die Arena in Düsseldorf nur ein hässlicher Betonklotz, über den man aber eine Fassade aus Edelstahl gestülpt hatte.
Den letzten, logischen Schritt vom Stadion zur Stadt konnte ich nicht mehr zu Ende denken, denn die 12000 Zuschauer, die sich trotz des Wetters, vorweihnachtlicher Hektik und Anti-Zuschauermagnet-Gegner Erzgebirge Aue hier her verlaufen hatten, fingen an, die Hymne von Stadt und Verein zu singen.
Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt
ist es besser, viel besser als man glaubt.
Tief im Westen, tief im Westen.
Du bist keine Schönheit, vor Arbeit ganz grau.
Liebst Dich ohne Schminke, bist ’ne ehrliche Haut,
leider total verbaut, aber gerade das macht Dich aus.
Das waren genau die Gedanken, die ich eben noch vorm Stadion hatte. Bochum war ehrlich. Es war nicht so oberflächlich gut gelaunt wie Köln, nicht so aufgesetzt politisch korrekt wie Wales oder die ganze übrige Insel und nicht so konservativ um jeden Preis wie das Sauerland. Am Ende war es hier von allen Gegenden, wo ich bisher gewohnt hatte, irgendwie am besten gewesen. Wollte ich das aufgeben?
Bochum ich komm aus Dir,
Bochum ich häng an Dir!
Glück auf, Bochum!
Gebürtig kam ich nicht aus Bochum, aber inzwischen war ich stolz darauf gewesen, wo ich her kam, wann immer ich mit Kollegen zu tun hatte, die beim Kennzeichen BO die Nase rümpften und sich auf Kennzeichen wie B, HH, M, F oder S und die angeblich so tollen Städte dahinter was einbildeten oder von der Romantik des Landlebens in Kreisen schwärmten, die ich am Kennzeichen nicht mal erkannte und wo ich nicht tot überm Zaun hängen wollte.
Du bist keine Weltstadt,
auf Deiner Königsallee finden keine Modenschauen statt,
hier wo das Herz noch zählt, nicht das große Geld,
wer wohnt schon in Düsseldorf?
(Herbert Grönemeyer – Bochum)
Wollten Julian und Timo mir was bestimmtes sagen, als sie mir einer von links und einer von rechts diese vier Zeilen, besonders die beiden letzten, ins Ohr grölten?
Das Spiel lief, mit Rückstand in der ersten Halbzeit, ziemlich schrecklich vor sich hin. Als Bochum in der zweiten Halbzeit aufdrehte – den einen oder anderen zuvor besungenen Doppelpass inbegriffen – ging ich auch mit und peitschte „meinen“ VfL nach vorne.
Gegen Ende begann Aue, schmutzig zu spielen. Sobald ein Bochumer einen Auer mit der Fingerspitze berührte, brach der theatralisch zusammen und brauchte die Sanitäter auf dem Platz. Schade, dass die Uhr hier nicht angehalten wurde wie beim Eishockey. Das würde einem diese sterbenden Schwäne ersparen.
In der vorletzten Minute der regulären Spielzeit fiel endlich der Ausgleich, der Jubel war natürlich groß im gut gefüllten Ostteil vom Stadion. Und meine Freude war ehrlich. Ich wollte nicht jemandem gefallen, sondern mir gefiel, was da unten auf dem durchweichten Rasen passierte. Das war ein großer Unterschied zu meinem Besuch bei Fortuna Düsseldorf gewesen.
Mit einem merkwürdigen Gefühl aus Tatendrang in Richtung Großbritannien und plötzlich entdeckter Heimatverbundenheit zu Bochum machte ich mich mit Julian und Timo auf den Heimweg. Aber die Termine auf der Insel waren fest und hier stand mir immer noch Chris im Weg, so lange Marlon sich in verzweifelte Neutralität und einen Bogen um jeglichen Konflikt flüchtete und ihn nicht mit absägte.
Am Montag stand ich deshalb als einziger zu gewohnt früher Zeit auf. Mit der Bahn ging es zum Flughafen Köln-Bonn. In gewohnt mäßiger Transportqualität folgte der Billigflieger nach Gatwick. Deutlich besser, jedenfalls nach dem Umstieg vom Regional- auf den Schnellzug in Reading, war die Bahnverbindung nach Newport.
Am späten Mittag checkte ich in der kleinsten der drei großen Städte von Südwales in mein Hotel ein. Um Mantel, Hemd und Hose nach der Koffer-Tortour wieder faltenfrei zu bekommen, hängte ich sie ins Bad und ließ die knallheiße Dusche so lange laufen, bis man durch den Nebel nicht mehr von der Tür zum Rasierspiegel schauen konnte. Dieser alte Trick funktionierte immer noch gut, durch die Luftfeuchtigkeit hingen sich die Falten wieder aus.
Danach machte ich mich hungrig auf den Weg in die Stadt und genoss erst mal ein spätes Mittagessen. Bevor am nächsten Tag die Hektik mit den Maklerterminen losging, nutzte ich den Rest-Nachmittag zum Geschenk-Kauf. Immerhin wollten Eltern, Schwester, Schwager, Nichte und Neffe, wenn auch mit Verspätung, beschenkt werden. Und auch für einige Leute mehr brauchte es noch Geschenke in den kommenden Tagen.
Abends stand ein Pub-Besuch auf dem Programm. Ich holte am Tresen einen Cider und ein Spiced Beef Sandwich und ließ auf der Suche nach einem freien Stuhl meinen Blick durch die Menge schweifen, es gab kaum noch Plätze. Da entdeckte ich ein bekanntes Gesicht. Mochten die kleinen Trucker in Deutschland zu ihren Fernsehhelden Marten Nottelmann und Andreas Schubert aufschauen, meine Fernsehhelden hießen Mark Dixon oder Ashley Maddocks und kamen nicht auf DMAX, sondern auf Channel5.
Und letzterer saß gerade alleine mit einem Bier an einem Zweiertisch. Klar, er war ja auch aus Newport. Ich fragte ihn, ob ihm gegenüber noch frei wäre. Er nickte. Erst einmal sprachen wir nicht miteinander und ich aß mein Sandwich. Wäre ich einer der DMAX-Asphaltcowboys, wäre ich auch froh, wenn man mich trotzdem abends in einer Bochumer Kneipe in Ruhe sitzen ließe. Ich sah mich um.
An dem einen Nebentisch saßen zwei Männer um die 50 und diskutierten die aktuellen Rugby-Ergebnisse.
Am anderen war der eine wohl um die 50. Sein Gesprächspartner neben mir mit seinem Kapuzenpulli und aufgesetzter Kapuze war für mich quasi nur als Kleiderständer sichtbar, von der Person war nichts zu sehen. Er war ziemlich schweigsam. Wenn er was sagte, nuschelte er, als wäre er schon gut betankt. Dass er abwechselnd auf einer E-Zigarette herumnuckelte und seinen Schädel offenbar schon auf der Hand stützen musste, war der deutlichen Aussprache auch nicht gerade förderlich und doch war die durch entweder die halbe Hand vorm Mund oder den Nikotinverdampfer verzerrte Stimme irgendwie vertraut, auch wenn ich niemanden in Newport wirklich kannte.
Aus den Gesprächsfetzen, die ich von meinem Schräg-Gegenüber aufschnappte, wurde ich nicht ganz schlau. Aber er schien irgendjemanden, der dem Kapuzenträger irgendwie wichtig zu sein schien, aus dem australischen Knast frei geboxt zu haben. Jetzt sollte dieser Jemand wohl auf dem Weg nach hier sein. Wenn man Dinge erfahren wollte, die einen weder interessierten noch angingen, war eine Kneipe wohl weltweit ein guter Anlaufpunkt.
Schließlich sprach mich Ashley an, ein guter Moment, den Nebentisch Nebentisch sein zu lassen: „Wie heißt Du eigentlich und wo kommst Du her? Ich habe Dich hier noch nie gesehen“ „Ricky. Und ich komme aus Deutschland.“ „Ich bin Ashley. Für einen Deutschen sprichst Du sehr walisischen Akzent.“ „Ich kenne Dich als alter Channel5-Gucker natürlich. Ich bin nicht zum ersten Mal in Wales, habe 4 Jahre hier gelebt und für BP Trucks gefahren, als sie noch ihre eigene Raffinerie in Milford Haven hatten. Wir sind also Kollegen.“ Ich erzählte ihm, natürlich reduziert aufs rein berufliche, meinen Werdegang als Trucker.
„Und was führt Dich dann vor Weihnachten von Deinen Freunden und Deiner Familie wieder zurück in unser schönes Wales?“ Er war ziemlich patriotisch, das wusste ich natürlich auch aus Eddie Stobart Trucks & Trailers. Logisch, dass er nun auch noch walisisch mit mir sprach, nachdem ich mich geoutet hatte, das zu können.
Nun musste ich wohl doch privat werden: „Einer der anderen Firmeninhaber ist oder war auch mein Lebensgefährte. Aber in den letzten Wochen hatten wir nur noch Streit. Die anderen Inhaber wollen ihn nicht ausschließen und wir haben beide keinen Platz mehr in der Firma. Also steige ich aus und will mir wieder was in Großbritannien aufbauen. Das ist dann das Ende der Firma. Weil mir das meiste gehört, werden wohl zwei Trucks, ein Angestellter und ein Batzen Geld dabei abfallen, Ich schaue mir deshalb morgen und zwischen Weihnachten und Neujahr Grundstücke in Südwales, den English Midlands und den Scottish Lowlands an, wo ich anfangen könnte.“
„Keine Lust, wieder als Angestellter zu fahren? Wir suchen händeringend Fahrer, ich könnte Dich für Stobart werben.“ Das war sicherlich auch ein toller Arbeitgeber. Aber wenn man einmal den süßen Duft der Freiheit geschnuppert hatte und selbst Chef war, hatte ich mehr als berechtigte Bedenken, ob das klappen würde. „Nein, danke. Ich glaube, wenn man einmal selbstständig war, taugt man nicht mehr zum Angestellten.“ „Da magst Du Recht haben.“
Ashley holte ein Bier und einen Cider Nachschub und wir sprachen noch ein Bisschen weiter. Als ich die nächste Runde holen wollte, lehnte Ashley ab: „Danke, aber ich werde zu Hause erwartet. Und noch werde ich das nicht von einem fliegenden Nudelholz.“ Wir verabschiedeten uns und ich holte mir alleine mein letztes Pint Cider.
Der Nebentisch war in der Zeit leer geworden. Der Kapuzentyp kam von den Toiletten zurück und ging nun mit blank rasiertem Kopf an die Theke, unter der Kapuze, die er soeben absetzte, war nämlich nichts als blanke Schädeldecke gewesen. Er sprach mit dem Wirt, der daraufhin an der Musikanlage herum fummelte.
Nach ein paar Sekunden hatte ich das Lied erkannt: Mariah Careys „All I want for Christmas is you.“ Dazu flirtete der Typ quer durch den Raum in meine Richtung. Er begann, zu mir rüber zu kommen.
Chris war es definitiv nicht und alles, was ich zu Weihnachten wollte, war der – und bestimmt kein besoffener Südwaliser ohne Haare, der auf einen entlassenen Häftling aus Australien wartete. Auch wenn ich bis auf die nicht vorhandene Frisur sonst nichts von ihm auf fast 10 Meter Halbdunkel erkennen konnte, wollte ich von ihm erst gar nicht mehr sehen.
Ich machte eine abfällige und ablehnende Handbewegung, woraufhin er in seinem Vorwärtsdrang erstarrte und wütend zur Tür stapfte. Uiiiii – abgeblitzt! Ich ging mit 3 Pint Cider im Wanst und der nötigen Bettschwere zurück ins Hotel.
Am nächsten Morgen brauchte ich erst mal mein Auto, also auf zur Vermietung. Vor mir waren noch ein junger Mann und ein französisches Paar. Ich hörte die walisische Unterhaltung am Schalter mit, offenbar kannte man sich. Der Mitarbeiter hatte wohl Fahrzeugengpass.
„Ich habe nichts in der Klasse.“ „Draußen steht doch der Einser BMW.“ Stimmt, für mich. Ich hatte Compact Luxury gebucht. „Der ist reserviert.“ „Komm, wir sind doch Kumpels. Wie soll ich denn sonst Sarah imponieren? Mit einem Corsa?“ „Das geht nicht. Das ist ein Geschäftskunde.“ „Geschäftskunde? Jetzt? Das hat der doch nur gemacht, um sich Priorität auf den Wagen zu erschleichen. Wer hat denn Weihnachten Geschäftstermine? Oder ist der Kunde vom Nordpol und trägt einen roten Mantel?“ „Nein, aus Deutschland.“ Und mein Mantel war grau. „Der besucht bestimmt nur Freunde.“ „Was können wir froh sein, dass mein Chef noch kein Walisisch in der Schule lernen musste.“
Der besagte Chef debattierte am anderen Counter wohl über eine beschädigte Rückgabe. „Also gut, nimm den 1er. Die Vorreservierung ist ja unverbindlich. Dann muss der Pseudo-Geschäftsmann eben den Corsa nehmen. Spart er wenigstens Geld. Und die Oneway-Reservierung nach Glasgow uns auch, wenn das Auto billiger ist. Kriege ich sogar noch den Firmen-Verdienstorden.“ Na warte, Freundchen.
Die Franzosen bekamen ihr Auto, einen Ford Fiesta. Dann war ich an der Reihe. Ich grüßte mit meinem geschwollenen Oxford. Das lernte man in Deutschland ja so in der Schule. Dazu legte ich die Reservierung hin. Er war abgebrüht genug, sofort auf den Heuchler-Modus zu schalten: „Tut mir leid, aber in der Klasse habe ich kein Auto mehr.“ „Was ist die Alternative?“ „Ein Vauxhall… sorry, Opel Corsa.“ „Vauxhall kenne ich durchaus. Aber ich habe geschäftlich einen Kompaktwagen eines Premiumherstellers gebucht. Audi A3, 1er BMW, Volvo V40 oder so.“ „Ich habe aber leider kein passendes Modell mehr da.“
Erste Warnstufe: von Oxford auf walisisches Englisch schalten: „Ich bin auf Geschäftsreise. Da kann ich doch nicht mit einem Corsa herumfahren.“ Er schien vom Gesichtsausdruck her zu schließen den Akzentwechsel nicht mal gemerkt zu haben. Allerdings merkte ich am Zittern seiner Hände auf der Tastatur, dass er nervöser wurde. „Sie könnten ein Upgrade kaufen auf einen Intermediate.“ „Auf keinen Fall bezahle ich diese Farce. Draußen stand doch eben ein BMW.“ Inzwischen war mein walisischer Slang so ausgeprägt, dass der Bubi sich mal kurz am Tresen abstützen musste, weil er wohl gemerkt hatte, dass hier kein deutsches Schulenglisch mehr im Spiel war. „Wir hatten zwei reserviert, aber nur einen von der Zentrale überführt bekommen. Sie könnten außer dem Upgrade nur den Corsa im Crossover in Cardiff eintauschen. Da steht ein Audi A3, den ich Ihnen reservieren könnte.“ Klar, wenn er mich jetzt upgraden statt downgraden musste, warf ihn die Firma in den Kerker statt ihm einen Orden zu verleihen.
Ich hatte die Nase voll, also der Sprung aus dem angelsächsischen in den keltischen Sprachraum. In feinstem Cardigan-Walisisch nordete ich ihn ein: „Den BMW hast Du eben Deinem Kumpel mitgegeben, obwohl Du selbst gesagt hast, dass er eigentlich nur den Corsa kriegen kann, den Du mir jetzt andrehen willst. Ich muss in haargenau 16 Minuten bei einem Immobilienmakler in Coedkernew stehen, mit einem Auto, mit dem man aufkreuzen sollte, wenn man ein Gewerbegrundstück kaufen will. Dahin fährt man 10 Minuten und ich laufe 2 Minuten auf den Parkplatz da vorne. Ob Du Deinem Kumpel den 1er innerhalb der nächsten 4 Minuten unterm Arsch weggerissen bekommst oder mir hier ein vernünftiges Auto aus Deinem Pool gibst, ist mir relativ egal. Oder soll ich ihn fragen?“ Ich zeigte mit dem Daumen zum Chef.
„Nein, bloß nicht. Ich hätte eine Vauxhall Insignia Limousine als nächst größeres Upgrade da. Das Upgrade übernehmen natürlich wir.“ „Na geht doch. Die Firma dankt.“
Der Chef war nebenan fertig und sah meinen Personalausweis. „Ah, der 1er BMW für den deutschen Kunden? Ich hole schon mal den Schlüssel.“ „Nein, äh…ich musste ihn upgraden… der BMW ist weggegangen… er kriegt den Insignia Saloon als kostenloses Upgrade.“ „Was? Das musst Du mir gleich mal erklären.“ Zu mir gewandt: „Schwarze Vauxhall Insignia Limousine. Kennzeichen CD64 MXB“
Ich hatte den Papierkram durch, bekam den Schlüssel für den Wagen. Als ich mich umdrehte bekam ich noch mit: „Und jetzt erklär mir mal, wie sich ein reservierter BMW in 10 Minuten in Luft auflösen kann, wenn nur Du Autos ausgibst und in der Zwischenzeit gerade mal zwei Kunden…“
Kurz danach war ich in dem Gewerbepark. Es war ein leeres, aber günstiges Gelände. Hier musste dann also noch eine Halle drauf. Aber der Vorteil von Südwales war, dass hier alles billig zu machen war. Der Nachteil der Gegend war der Grund für die Preise: die Wirtschaft war hier ziemlich zusammengebrochen und es gab wenig zu transportieren. Gute Aussichten für mich brachte nur, dass ich, wenn ich schon Linkslenker für den Start mitbringen würde, auf den Kontinent fahren wollte, denn da gab es eine Marktlücke.
Es folgte noch eine ziemliche Bruchbude in Pontypridd, dafür das günstigste Gesamtpaket. Außerdem eine moderne Halle in Maesteg. Hier war wegen der nicht so verkehrsgünstigen Lage das Preis-Leistungs-Verhältnis für das Gesamtpaket dafür trotz der hervorragenden Substanz am schlechtesten.
Der Tag endete in Carmarthen in einem Bed & Breakfast. Mehr war in der Region vor Weihnachten nicht mehr zu erreichen.
Also nutzte ich Heilig Abend für eine Reise in die Vergangenheit und fuhr nach Milford Haven. Das Haus, in dem wir damals gewohnt hatten, war damals schon kein Palast gewesen. Inzwischen war es aber in einem extrem schlechten Zustand und stand leer. Es tat mir weh, die Stadt wieder zu sehen.
Gerade war ich mit dem Essen fertig. Unsere damalige Stammkneipe hatte einen neuen Wirt und war jetzt ein Gastropub, also ein vollwertiges Restaurant mit aufgesetztem, bei genauerem Hinschauen künstlichem Kneipenstil. Auf dem Weg raus klingelte mein Handy, es war Chris.
„Hallo Ricky. Ich bin noch nicht weiter gekommen mit meinem Problem, aber ich glaube, ich muss mal langsam was erklären.“ „Das glaube ich auch.“ Meine Stimme war so schneidend kalt wie der Wind, der von der See rein kam.
„Es tut mir leid, dass ich so voreilig war. Mir ging es mehr und mehr auf die Nerven, dass wir keines Trucks haben wie viele andere. Auch wenn unsere Firma nicht kleiner ist als so ein Schubert oder Nottelmann.“ Aha, ein Asphaltcowboys-Opfer. Aber ich wusste ja auch mehr über die geschätzten Kollegen, als ich zugab: „Schubert ist auch 21 Jahre im Geschäft, Nottelmann 26 Jahre in zweiter Generation.“ „Auch wieder wahr. Als ich mit Timo in Nürnberg war, habe ich jedenfalls als ich abends alleine unterwegs war den Chef einer Spezialtransportfirma kennen gelernt. Er hat mir einen Einstieg bei ihm nahe gelegt. In der Branche sind die Margen ja höher und damit die Trucks auch hochwertiger. Ich habe einen Vorvertrag unterschrieben. Und dann überraschst Du mich mit dem Volvo.“
„Reden soll helfen. Hast Du toll hingekriegt.“ Meine Laune war inzwischen deutlich unterm Gefrierpunkt angekommen. „Ich will nun sehen, dass ich aus dem Vorvertrag raus komme. Ich weiß, dass es ein Fehler war.“ „Ein Fehler mit unserem Firmenkapital, auch wenn Du theoretisch das Recht hast, Deinen Anteil jederzeit einfordern zu können, wenn Du willst.“ „Ich weiß. Und jetzt ist mir auch klar, was das für Euch alle bedeutet. Aber Du bist in Wales und willst doch auch raus. Julian hat mir 20 Minuten lang erzählt, was los ist.“ „Na woran das mal liegen mag.“
„Bitte, kannst Du mir noch einmal verzeihen? Ich fahre, wenn Du auch zurück fährst, sofort hier weg nach Bochum und bleibe auf jeden Fall bis Sonntag bei Dir, bevor ich wieder was in Nürnberg ausrichten kann.“ „Tut mir leid. Ich brauche Zeit und Abstand für die Entscheidung. Und ich fahre morgen nach Sheffield, wo mein alter Kumpel Keith mir die Ehre erweist, mich zu seinen Eltern zum Christmas Turkey Dinner mitzunehmen.“ „Ach so… Dann wünsche ich Dir fröhliche Weihnachten.“ „Danke, Dir auch. Wir telefonieren in den nächsten Tagen.“
Das meinte ich durchaus ehrlich, offenbar war er zur Besinnung gekommen, ob rechtzeitig oder nicht musste sich zeigen. In der jetzigen Situation wusste ich allerdings nicht, ob ein Aufeinandertreffen so eine gute Idee gewesen wäre. Daher wollte ich auf jeden Fall noch bis zum zweiten Feiertag warten, bevor ich das Abenteuer Britische Inseln möglicherweise vorzeitig abbrach.
Vom eher desolaten Zustand meiner alten Heimat enttäuscht fuhr ich zurück nach Carmarthen in das Bed & Breakfast. Die Betreiberin hatte keine Familie mehr oder wenigstens keinen Kontakt mehr zu ihr. Sie hatte die wenigen Gäste, die auch alleine im Haus und nicht bei ihren Familien in der Stadt waren, zu sich ins Wohnzimmer eingeladen. Es war eine merkwürdige Runde, die sich dort einfand.
Die Gastgeberin, Miss Rowntree, war eine Frau um die 70 Jahre. Dazu gesellte sich Azhar, ein 23-jähriger, pakistanischer Abbrucharbeiter, der es sich nicht leisten konnte, über den Weihnachtsurlaub nach Hause zu fahren und sich hier in der billigsten Unterkunft einquartierte, die er in akzeptabler Umgebung finden konnte, so lange die Firma ihm über den Weihnachtsurlaub kein Hotelzimmer in Port Talbot bezahlte. Dann war da Lilian, eine Frau um die 50, die Weihnachten auch niemanden sonst hatte und jedes Jahr hier her fuhr, um die Gräber ihrer Eltern zu besuchen und die alte Heimat zu sehen, bevor sie rechtzeitig für den Jahreswechsel wieder zurück nach Portsmouth fuhr. Und schließlich ich, 35 Jahre alter Trucker, der nicht wusste, wie es in den kommenden Tagen und Wochen weiter gehen sollte und der hier eine neue Heimat für sich und seine Firma suchte.
Wir bekamen, extra für Azhar, nur mit Rinderhack und Gemüse, aber ohne Schweinespeck gefüllte Pies serviert und hinterher kleine Geschenke von unserer Gastgeberin. Ich hatte ihr auch heute noch schnell etwas gekauft. Sogar Azhar hatte es geschafft, etwas aufzutreiben, was seinen Rahmen nicht sprengte.
Wie wir so um den Kamin saßen, mit dem Weihnachtsbaum in der Ecke und ohne unsere Lieben um uns herum, hatte es ein Bisschen was vom Stall in Bethlehem, wie Lilian meinte. Azhar brach dann endgültig das Eis, als er unschuldig fragte: „Und ich bin der Weise aus dem Morgenland oder so ähnlich?“
Nach diesem überraschend schönen Heilig Abend hieß es für mich dann am ersten Weihnachtstag nach dem Frühstück auszuchecken. Nun ritt mich der Teufel und er führte mich nach Cardigan. Ich parkte mein Auto 10 Meter die Straße runter, mit Blick auf das Elternhaus meines Ex Luke.
Auch hier machte ich einen kleinen Spaziergang durch die Stadt. Es war irgendwie alles wie früher, hier hatte sich in 8 Jahren seit meinem letzten Weihnachtsbesuch nicht sehr viel verändert. Der Wind war schneidend kalt, ein Vorbote des Schnees, der morgen kommen sollte und das öffentliche Leben in weiten Teilen des Landes wohl mal wieder lahm legen würde. Entsprechend bis zur Unkenntlichkeit in Mantel, Mütze und Schal eingehüllt stapfte ich wieder zu meinem Auto. Auf der anderen Seite und ähnlich gut verpackt, war Luke unterwegs und führte den Hund aus.
Ich hatte ihn nur an der Kombination verschiedener Dinge erkannt. Erstens weil er seinen Cardiff City Schal trug, der die Anzahl der Kandidaten hier ziemlich einschränkte. Zweitens weil er einen Berner Sennenhund ausführte, ein in Großbritannien recht seltener Hund und die Leidenschaft seiner Mutter mit einer Linie Schweizer Vorfahren. Und drittens weil ich ihn hier erwartete. Da er mich hier nicht erwartete, war ich für ihn nur ein zur Unkenntlichkeit verhüllter Mensch, der durch die Kälte zu irgendeinem Ziel ging.
Uns trennten 8 Jahre seit dem Ende unserer Beziehung, in diesem Moment 5 Meter Wohnstraße und inzwischen Welten. Das war es, was ich mit diesem Abstecher ausprobieren wollte. Es würde ein Wort von mir genügen, ihn auf mich aufmerksam zu machen, aber ich verspürte nicht den Drang, es zu tun. Mein Ziel wurde also der Vauxhall Insignia, der dort so unschuldig am Straßenrand parkte.
Luke ging weiter bis zum Haus seiner Eltern. Ich zog mir den Mantel aus und legte ihn auf den Rücksitz, behielt aber noch die Mütze auf und den Schal um, bis ich im Auto saß.
Als ich gerade los fahren wollte, tauchte ein Taxi aus der anderen Richtung auf. Luke hielt auf dem Weg von der Straße zur Haustür an und drehte sich um. Er lächelte. Aus dem Taxi stieg ein Offizier der britischen Handelsmarine in seiner Uniform. Er war wohl einige Jahre jünger als wir. Luke stürmte auf ihn zu und umarmte ihn.
Und das war der Moment, in dem das eben noch erfolgreich abgeschlossen geglaubte Experiment fehlschlug. Er war also glücklich mit jemandem zusammen und ich nicht. Verärgert startete ich den Motor und fuhr los. War es Eifersucht oder war ich doch noch nicht über ihn und meinen schändlichen Abgang aus Wales hinweg, wie ich noch vor ein paar Minuten gedacht hatte?
Mit 30 statt der erlaubten 20 Meilen bretterte ich an dem Taxi und dem glücklichen Paar vorbei. Luke ließ, vom ungewöhnlichen Geräusch eines aufheulenden Motors aufgeschreckt, von seinem Freund ab. Ob er mich erkannt hatte, war mir egal und ihm konnte es das schließlich auch sein.
Am Nachmittag gegen 4 fuhr ich in Sheffield bei Keith auf den Hof. Es blieb nur noch ein Bisschen Zeit, um mich frisch zu machen. Dann fuhren wir zu seinen Eltern. Auch für die und ihn hatte ich natürlich Geschenke dabei und bekam auch von ihnen etwas.
Das traditionelle Abendessen war Truthahn mit Pflaumenfüllung, Gemüse und Yorkshire Pudding. Hinterher gab es den berühmten Christmas Pudding, nur echt mit Weinbrand flambiert.
Ich hatte keine Ahnung, wie sehr Keith seine Eltern vorher geimpft hatte, aber der Abend verging recht schnell mit kurzweiligem, aber unverfänglichem Smalltalk. Die Vergangenheit von vor 10 Jahren wurde ebenso vermieden wie meine derzeitige Situation.
Wir fuhren spät wieder mit dem Taxi zu Keith nach Hause und schliefen am nächsten Morgen erst einmal aus. Der zweite Feiertag war hier ein traditioneller Einkaufs-Feiertag. Die Läden waren offen, aber bis auf den Einzelhandel und die üblichen Verdächtigen wie im öffentlichen Nahverkehr und so hatten alle anderen frei. Auch Keith wollte einkaufen und fragte, ob ich mit wollte. Da ich nichts Besseres zu tun hatte, stimmte ich zu.
„Musst Du nicht auf dem Weg runter mal im Büro schauen?“ „Nein, die Geschäfte laufen so gut, wir sind bis Ende Januar disponiert. Im Festnetz ist der Anrufbeantworter drin und das Diensthandy liegt auch unten. Ich rücke am 3. Januar im Inlandsverkehr als erster Fahrer wieder aus und fahre erst in meiner zweiten Woche Kontinent. Da höre ich das Ding deshalb auch erst am 2. Januar ab. Sollte mir sehr langweilig werden vielleicht schon am Montag oder Dienstag.“
Also war die Lage im britischen Transportgewerbe auf den Kontinent doch so gut, dass man es sich erlauben konnte, über die Feiertage komplett auf Tauchstation zu gehen. Beeindruckend…
Der Wetterbericht für Samstag wurde immer schlimmer, es sollte schneien. Ich hatte Termine in Manchester, man durfte gespannt sein, wie die sich unter den Umständen abwickeln lassen würden.
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Quellenangabe:
„Bochum“, Musik und Text Herbert Grönemeyer, EMI, 1984
