Diese Woche…
…bringen zwei Fotoapparate Unruhe in Rickys Finanzen…
…er hat eine unruhige Pause in Katowice…
…und ein Brief hat einen beunruhigenden Absender!
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Wie „seine“ Halle war auch Felix Wohnung gemietet. Es war eine Zweizimmerwohnung mit Blick auf die „wundervolle“ Bahnstrecke. Hoffentlich hielt sich der Geräuschpegel in Grenzen, wenn hier nachts die Güterzüge durchdonnerten.
Während Felix aus Mangel an Tee dann leider doch Kaffee kochte, saß ich schon auf dem Sofa und bekam plötzlich eine Nachricht auf mein Handy. Sie war von Timo: „Zwar war es gestern Nachmittag nur der Warteplatz in Dover, aber bin ich jetzt trotzdem der Held?“ Danach folgte ein Selfie von ihm und einem Trucker mit Backenbart, Karomütze und Fleecejacke der Spedition Vögel. Timo gab sich alle Mühe, in seinem T-Shirt mit dem MAN-Spruch nicht so auszusehen, als würde er frieren. Die beiden standen nebeneinander vor Timos Renault Premium.
Natürlich wusste ich, an wen er da geraten war, nämlich an Asphaltcowboy Florian Steinhäuser. Da Felix Kaffee noch nicht durchgelaufen war, surfte ich mal auf Florians Facebook-Seite vorbei. Zwar hatte ich keinen Account, aber seiner war öffentlich für jeden. Auch dort gab es das Bild.
Der Kommentar lautete: „Habe diesen Fahrer in Dover getroffen – lustiger Kerl. Ist Quereinsteiger und rumpelt mit seinem kleinen Renault tapfer von England bis Italien und Marokko bis Polen durch die Gegend. Man merkt, dass ihm der Job trotzdem Spaß macht. Solche Fahrer braucht das Land! Hoffentlich belohnt ihn sein Chef bald mit einem schönen TGX.“
Keine Angst, Steini – ist in Arbeit! Ich schrieb Timo zurück: „Du bist ja so ein Held. Auf jeden Fall ’ne coole Socke, mal so einfach einen Fernsehpromi der Truckerwelt für ein Selfie fragen.“
„Was war denn eben so lustig?“ Ich erklärte Felix kurz die Geschichte. „Ja, der Florian ist ein netter Kerl, den habe ich auch schon getroffen.“ Wir plauderten ein Bisschen aus dem Nähkästchen. Natürlich kam ich auch nicht umhin, kurz zu erzählen, wie es mit Chris in die Brüche gegangen war.
Wien hatte genug Sehenswürdigkeiten und so verging das Wochenende kurzweilig. Auch die Nächte waren ruhig, dank Doppelverglasung. Nur im Sommer wollte ich nicht hier schlafen müssen, ohne ein Fenster öffnen zu können.
Am Montag ging es dann um halb sieben los. Felix musste laden und ich fuhr an Wien vorbei in Richtung Ungarn. Kurz vor Budapest blitzte es dann einmal kurz. War die 70, die ich aus dem Augenwinkel gesehen hatte, am Ende doch eine 50 gewesen?
In Budapest wechselte ich den Trailer und war dann mit Elektronikteilen unterwegs nach Banska Bystrica.
Derzeit waren irgendwie keine vernünftigen Frachten in dieser Gegend für unseren Gefahrgutbereich zu bekommen.
Diese elenden Normalfrachten konnten einem das Leben zur Hölle machen. Bei Gefahrgut waren die Schnitte etwas lockerer gerechnet, aber bei Stückgut und Lebensmitteln schienen Tempoverstöße und Lenkzeitüberschreitungen in die Fahrzeiten einkalkuliert zu sein. Ich war immer an allen Grenzen unterwegs – Lenkzeit, Höchstgeschwindigkeit, Lauftempo übern Hof zur Dispo.
Eigentlich wollte ich das nicht einreißen lassen, aber ich regelte den Tempomat dann doch 5 km/h übers Limit und schon erwischte mich der nächste Blitz auf dem Weg in die Innenstadt von Banska. Das würde eine teure Woche, wenn ich so weiter machte.
Nun folgte eine längere Leerfahrt, denn der nächste Hüpfer ging von einem Sägewerk weit außerhalb der Stadt nach Krakow. Da ich heute nicht weiter fahren durfte und morgen schon früh abliefern musste, holte ich den Trailer ab und parkte auf der Zufahrt vor dem Sägewerk für die große Pause.
Immerhin konnte ich noch vor Schichtende die Dusche im Sägewerk benutzen.

Zu für andere Leute unchristlicher Stunde meldete sich dann einige Zeit nach der Abfahrt mein Handy. Es war ein alter Bekannter: „Guten Morgen Patrick. Oder soll ich für Dich guten Abend sagen?“ „Moin! Ich rolle seit ’ner guten Stunde. Hab ich dich geweckt?“ „Nee, muss sowieso bis 7 abliefern und habe Zeitdruck.“ „Zu zweit und Zeitdruck?“ „Nein, alleine. Zu zweit ist seit Dezember aus.“
„Oh, schade. Na ja, ich habe auch die Scheiße bis zum Hals stehen Seit ich NE auf ‚m Kennzeichen habe.“ „Was treibst du denn bei den ‚Nur Eseln‘?“ „Arbeiten für Dachser Neuss. Der Osten hätte mich fast Insolvent gemacht.“ Na mit seinem Kapital erschien mir das schon als mittleres Kunststück oder miesestes Management. „Ui, wie das?“ „Naja, Routen die man sich schön redet und die Billiglöhner in näherer Umgebung. Und dann die Trucks. Das gebe ich zu, es war mein Fehler.“ Wäre Chris nur hier und würde das hören.
„Ich könnte dir einen guten und günstigen Händler in Recklinghausen empfehlen. Aber die Marke ist ja nicht dein Ding. Die Kollegen in Düsseldorf kommen leider nicht mit Euro 6 übern Berg. Was hast du jetzt?“ „MAN TGX 18.480 als Leasingfahrzeug, die Mappe vom Benz für den neuen ist aber schon auf dem Tisch.“ „Die können doch auch dauernd nicht liefern und MAN auch nicht. Aber Benz ist dafür nicht meins. Schon in der Fahrschule gehasst und der MP3 hat es nicht verbessert.“
„Joa naja. Im Moment ist eh alles Scheiße.“ Im Hintergrund düdelt mal wieder sein Handy. „Ach leck mich du Fotze, ich hab zu tun!“ Oha, das klang nicht besser als Chris und ich Anfang Dezember. „Szenen einer Ehe? Klingt ja auch nicht gut.“ „Rausgeflogen, seit Freitagmorgen hause ich im LKW.“
Na da hatte er ja richtig in den Mist gegriffen. Dass unser Job eine Beziehungsbelastung war, wusste ich ja selber. Aber bei mir war der Vorteil, dass weder geborene noch ungeborene Kinder zwischen die Fronten geraten konnten. „Auha. Allgemeine Winterdepression? Du fliegst raus, ich werde sitzen gelassen – nicht mal für einen anderen Mann, sondern für einen schöneren LKW.“
„Das ist heftig. Bei mir war es die Staatsanwaltschaft München.“ „Was hat die denn mit deiner Ehe zu schaffen?“ „Naja, die Strafanzeige wegen Beamtenbeleidigung hat sie in den falschen Hals bekommen. Statt Zuspruch von ihr bekam ich das Messer in den Rücken, und sie fast meinen Wohnungsschlüssel in die Fresse nach der freundlichen Aufforderung mit der Reisetasche.“ „Wie, Beamtenbeleidigung?“
„Pausenclown und Flitzpiepe hat den beiden vom BAG nicht so gefallen. Genauso wenig die Feststellung, dass ich von den beiden Brechreiz bekomme und nur noch Dilettanten für den deutschen Staat arbeiten.“ „Irgendwie verständlich.“
Mich hatten sie schon länger nicht mehr raus gezogen. Und egal wie sehr ich mich in dem Moment geärgert hatte, war das oberste Gebot, korrekt zu bleiben. Mit Widerworten oder sogar Unverschämtheiten saß man erfahrungsgemäß nur noch tiefer in der Tinte, wenn es sowieso schon was zu beanstanden gab. Letzten Endes machten die ihren Job und ich meinen. Wenn ich meinen richtig machte, dann konnten die mir gar nichts.
„Als ob ich wortlos 600€ Strafe hinnehme, ich glaub es geht los.“ „Na ja. Für nichts werden die auch nicht verhängt. da muss man schon was anstellen. Aber ich lege da vielleicht andere Maßstäbe an, weil das BAG bei uns ADR-Kutschern zu recht auch andere Maßstäbe anlegt. Wenn die uns dran kriegen, dann ja immer gleich gründlich.“ Ob es ein Vorteil oder ein Nachteil war, war ich mir nicht sicher. Aber bei ADR verstanden die Jungs keinen Spaß. Wir mussten richtig bluten, wenn wir mal was anstellten. Aber dadurch wurde der Markt weniger attraktiv für die Billigfahrer und wir hatten weniger Druck. Wie es im Kühler- und Stückgutgeschäft ablief, hatte ich in den letzten Tagen ja ganz gut gemerkt.
„Meins sind Lappalien. Nur weil ich dreimal 15 Minuten länger gemacht habe um zu Hause zu schlafen und weil ich 200 Meter vorm Ende des Überholverbots raus bin. Aber dann sind die gründlich geworden. 20 mal Tempoverstöße auf deutschen Autobahnen. Mir wäre da fast der Arsch geplatzt.“
Na super, er macht Fehler und die anderen sind schuld. In der Tat, da kam bei uns erst gar keiner in die Versuchung bei den Extrastrafen. „Tja. Tut mir leid, wenn sich mein Mitleid in Grenzen hält. Aber die Einstellung habe ich mir in 11 Jahren Gefahrgut für drei Firmen in zwei Ländern abgewöhnt. Bei den ersten Sklaventreibern hätte ich die Pappscheiben auch besser verbrannt als ausgehändigt. Aber damals waren die Kontrollen noch lasch. War ja Arbeit, die Dinger von Hand auszuwerten.“
„Früher war das besser.“ „Früher war alles besser. Sogar die Zukunft.“ 3 Euro ins Phrasenschwein. „Genau, so sieht es aus.“ „Aber ich bin zur Zeit auch wieder in so einer Stimmung, als wäre ich 2007 besser in Wales geblieben. Vor Weihnachten war ich kurz davor, in Bochum in den Sack zu hauen und wieder rüber zu gehen.“
„Oha, war das wohl auch so viel Stress? Und wo wir bei Stress sind, wenn du möchtest komm am Wochenende aufn Kaffee vorbei. Ich muss kurz schlafen. Bin froh wenn ich die Nächte über mal 4 Stunden am Stück schlafe. Und so fahre ich LKW. Ach Scheiße hier!“
„Erst mal sehen, wo ich am Wochenende bin. In 30 Minuten bin ich in Krakau und habe keine Anschlussfracht. Wenn ich Pech habe, gibt es das zweite Wochenende draußen.“ „Das klingt nicht gut. Melde dich am besten Freitag noch mal, reicht auch WhatsApp. So, ich muss runter bevor ich hier noch ’nen PKW abschieße.“
„Okay. Und ich komme langsam in Berufsverkehr. Halt die Ohren steif.“ „Jo pass auch du auf dich auf, wir hören voneinander.“ „Bis dann. Ciao.“ „Ciao.“
Na das waren Neuigkeiten. Patrick mit Ehekrise, im Rheinland und fast pleite gewesen. Erstaunlich, wie schnell das alles heute ging. Wie hatten die alten Hasen das damals gemacht? Familie und ewig unterwegs. Oder waren es damals einfach andere Menschen in einer anderen Geschäftswelt? Mit geduldigeren Partnern zu Hause und weniger Konkurrenz auf der Straße? Während dem Gespräch war es eine abenteuerliche Serpentinenstrecke runter gegangen.

Ich wurde den Trailer in Krakau los, aber noch nichts von Judith. Also rief ich mal im Büro an. Sie klang ziemlich gestresst: „Hallo Ricky! Ich suche ja schon!“ „Hallo Judith. Das bezweifele ich nicht. Aber irgendwas muss es doch geben.“ „Ich habe aber nichts Brauchbares. Entweder schaffst Du es nicht mehr bis zum Wochenende und hinterher ist es zu spät, die Bezahlung so schlecht, dass es eine Nullnummer wird oder es soll mal wieder nach Libyen gehen.“ „Muss ja auch nicht sein. Ich sehe mir mal Krakau an. Übers Handy jederzeit erreichbar, aber denk bitte dran, dass meine 13 Stunden heute Abend um 20 vor 5 rum sind.“ „Okay bis später.“ „Ciao.“
Ich versuchte mir ein Bisschen die Zeit zu vertreiben und um die Mittagszeit rief Judith an: „Zwar auch nicht das gelbe vom Ei, aber eine Ladung Getränke nach Wien. Kannst Du bei DB Schenker abholen.“
Gut dass mein Truck noch bei denen um die Ecke auf einem Seitenstreifen stand. Ich fuhr mit der Straßenbahn wieder raus und holte die Ladung ab.
Jetzt gab es ironischerweise auch Osteuropa auf den Touren. Und ich hätte Chris und seine Sprachkenntnisse gebraucht, denn je näher ich an Katowice heran fuhr, umso weiter sank das Tempo. Es ging noch flüssig, aber nicht mehr mit 80, sondern 50 bis 60. Auf dem Seitenstreifen standen Polizeifahrzeuge, die einen Lauftext zeigten, in dem irgendwas stand und ich nur „Katowice“ und „Ostrava“ lesen konnte.
Östlich von Katowice wurde der Verkehr schließlich von der Autobahn abgeleitet. Dadurch ging es nun nur noch im Schritttempo voran. An der Ausfahrt stand ein Polizist. Ich ließ das Fenster runter: „English? Deutsch?“ „Deutsch.“ „Was ist passiert?“ „In Autobahnkreuz nach Wroclaw und Ostrava ist schwerer Unfall. 4 Stunden gesperrt, mindestens! Umleitung hier. Aber voll.“ „Ich muss in 30 Minuten schlafen!“ „Kannst Du vergessen auf Umleitung. Schaffst nicht bis Parkplatz. Fährst Du nach Katowice und suchst Parkplatz in Stadt!“
Als ich im Gewerbegebiet bei Dachser vorbei fuhr, dachte ich kurz, wie gut es Patrick jetzt hätte. Als lizenzierter Sub würde der da jetzt einfach drauf fahren, bekam mit ein Bisschen Glück Zugang zu einer Dusche.
Mir blieb nur ein ziemlich verlotterter Platz. Graffiti auf einem verrammelten Häuschen machte wenig Mut auf einen sicheren Platz, aber in den nächsten 4 Minuten hatte ich wenig Hoffnung auf besseres. Und wo man in 5 bis 7 Minuten endete, hatte Patrick beim BAG ausprobiert.

Ich fuhr mit dem Bus in die Stadt und suchte mir ein Restaurant für ein Abendessen. Als ich wieder zu meinem Truck kam, sah die Welt noch friedlich aus. Ich kletterte in die Kabine, zog die Vorhänge zu und das Rollo in der Frontscheibe runter und fing an, zu lesen.
Dann wollte ich schlafen, aber gerade, als ich wegdämmerte, klopfte es an der Fahrertür. Verwünschungen murmelnd schälte ich mich aus der Koje. Neben dem Truck stand im Halbdunkel ein Wesen, das sicherlich nicht mal jeden Hetero begeistert hätte.
Grelle Schminke wurde von auftoupierten Haaren eingerahmt, die so leuchtend rotbraun waren, dass der Farbe bestimmt künstlich nachgeholfen worden war. Das bauchfreie Top war weder passend zum derzeitigen Wetter, noch zu den paar überzähligen Pfunden. Das gleiche konnte man über den Minirock sagen. Netzstrümpfe schnürten die Beine vom Format Brauereigaul rautenförmig ein und die Absätze der High Heels dürften an der Grenze ihrer Belastungsfähigkeit sein.
„Du einsam? Wir Spaß haben.“ Die eindeutige Aufforderung in schlechtem Deutsch lehnte ich genauso eindeutig ab und zog den Vorhang wieder zu.
Es dauerte knapp 20 Minuten und einen Halbschlaf, bevor es wieder klopfte. Offensichtlich hatte die Dame angenommen, meine Zielgruppe wäre eine andere und eine Kollegin geschickt. Jedenfalls stand nun ein komplett schwarz gekleidetes und geschminktes Wesen dort. Ich schickte auch diese farblich wohl treffender als Bordstein-Amsel zu bezeichnende Gothic-Nutte weg und hoffte, dass sie es nun verstanden hatten.
Ein ziemlich entmutigender Blick über den Platz ließ mich zweifeln, denn inzwischen waren die Damen hier im Dutzend anwesend. Die ersten Handlungsreisenden, die mit ihren Kombis oder Reiselimousinen auf der Suche nach dem Abenteuer fern der Heimat aufkreuzten, suchend im Kreis rollten und dann eine der Damen ansprachen, zeigten mir, dass ich auf dem Straßenstrich geparkt hatte. Und das würde sich auch nicht vor 3 Uhr heute Nacht ändern, denn bei jeder Bewegung vorher war die Pause im Eimer. Und der Versuch, die Situation dem BAG bei einer Kontrolle zu erklären, war so was von zum Scheitern verurteilt.
Natürlich hatte sie auch nicht verstanden, der nächste Versuch, mich als Neukunden zu gewinnen, war blond und verdammt jung aussehend. Hier musste eine eindeutigere Lösung her und die hatte ich irgendwo noch rum fliegen, ganz weit unten in irgendeiner Ablage.
Ich wurde fündig, feuchtete den Saugnapf an und pappte das Regenbogen-Wimpel in die Scheibe. So, liebe Damen. Ich könnt mich alle mal… in Ruhe lassen.
Wieder war ich gerade eingenickt, als es erneut klopfte. Kannten die Damen des horizontalen Gewerbes nicht die Bedeutung von diesem sechsfarbigen Teil in der Scheibe oder waren sie so dreist?
„Das gibt’s doch nicht! Hat dieser blöde Straßenstrich auf alles eine Antwort?“ Ich schimpfte zu mir selbst über den Anblick vor dem Fenster. Dort stand ein Stricherjunge in Stoffschuhen und einer krachend engen Jeans. Ein stramm anliegendes Shirt zeichnete das Sixpack darunter nach. Über dem Gürtel guckte der Gummizug einer Calvin-Klein Unterhose raus. Das Ding war vermutlich genauso ein unechtes Teil aus China wie die Abercrombie and Fitch Jacke in kräftigem Orange.
Das Fenster war nun einen Spalt unten: „Könnt Ihr einen nicht mal in Ruhe lassen?“ „English?“ Dass er mit den Händen in der Tasche versuchte, die Jacke nur gerade so aufreizend genug offen zu halten, verriet genauso, dass er fror, wie seine zitterige Aussprache.
Ich übersetzte nicht meine Ablehnung. Vermutlich kam ich nur aus der Geschichte raus und bekam meine Ruhe, wenn ich zum „Kunden“ wurde. Nicht, dass ich wirklich die Absicht hatte, aber mit dem frierenden Jungen konnte ich vielleicht einen Deal schließen.
Ich ließ die Scheibe weiter runter, damit ich mich raus lehnen und leise reden konnte. „No business. But you look like you could have a nice, hot tea?“ „I will loose customers for that time.“ „How many do you and the other boys have anyways?“ Ich sah noch einige andere junge Männer zwischen den Damen. „Not enough.“ Das war mir Beweis genug, dass die anderen hier alle hoffnungsvoll Schlange stehen würden, wenn ich ihn weg schickte. „Hot tea, a heated cab and a soft seat for 30 minutes?“ „Okay.“
Ich entriegelte die Beifahrertür und ließ ihn da rein. Dann kochte ich Tee und kramte zwei Becher hervor, während ich den Sinn dieser Aktion erklärte. Sein Englisch (für Euch mal auf Deutsch weiter) war gut genug für eine Unterhaltung. „Ich bin Ricky. Wie heißt Du?“ „Sergej.“ „Und wie alt bist Du?“ „28.“ „Oh.“ „Ich weiß, ich sehe jünger aus. Das ist in dem Job wichtig, sonst bist Du raus.“
Er saß auf dem Beifahrersitz, ich auf dem Fahrersitz. Er fragte mich, wo ich schon alles gewesen war, wie viel PS der Truck hatte und so.
Als ich genug banalen Kram und ein paar Abenteuer von den Touren erzählt hatte, fing er auf einmal an, von sich selbst zu erzählen, wie ein Wasserfall. Er war halb Russe, halb Weißrusse, aufgewachsen in Mahiljou und mit 15 zu Hause ausgerissen. Er hatte auf der Straße gelebt, mit 17 dann in einem Steinbruch gearbeitet und sich mit drei anderen Hilfsarbeitern eine Wohnung geteilt. Das hatte er eine Zeit lang gemacht, am Ende war er, weil er nie einen Führerschein für mehr als sein 125 Kubik Motorrad besessen hatte, im Steinbruch mit LKW gefahren. Irgendwelche alten ZIL und Ural Kipper, immer vom Bagger rauf zum Steinbrecher oder vom Brecher zu den Silos.
Dann war er Schleusern auf den Leim gegangen, weil ja angeblich alles in der EU sowieso besser war, hatte alles zu Geld gemacht, was er hatte und war illegal nach Polen eingereist. Hier stand er dann, durfte gar nicht hier sein und konnte somit auch weder arbeiten noch wohnen.
Zurück ging es auch nicht, denn es war doch sehr unüblich, illegal aus Polen nach Weißrussland reisen zu wollen. Daher gab es auch keine Schleuser in der Richtung. In den zwei Jahren seit seiner Flucht hatte es ihn dann von Lublin allmählich nach Katowice verschlagen und hier verdiente er sich nun sein Geld mit Schwarzarbeit und auf dem Strich. Einen Großteil verschlang sein Miethai, der dafür nicht nach einer Aufenthaltsgenehmigung fragte.
„Wenigstens bin ich sauber geblieben. Nie ungeschützt und nur gegen Geld. Die anderen Jungs da draußen sind fast alle drogenabhängig und lassen sich manchmal mit Rauschgift bezahlen. Meistens fängt es aber anders rum an. Jemand bietet Rauschgift als Bezahlung. Dann wollen sie immer wieder. Einige sind bestimmt auch HIV-Zeitbomben.“ Man mochte über seinen derzeitigen „Beruf“ denken, was man wollte, aber das machte ihn bewundernswert. Auch am Tiefpunkt der Gesellschaft hatte er noch Prinzipien und sich nicht aufgegeben.
Nachdem er sein Leben erzählt hatte, war ich dran, mal mehr als ein paar spannende Truckergeschichten zu erzählen. Und so ausführlich hatte ich das bisher nie getan. Gleich würde er die Stufen wieder runter klettern und ich würde ihn nie wieder sehen. Das unterschied ihn wesentlich von Julian, Felix oder Keith, zu denen ein regelmäßiger Kontakt bestand. Es hatte schon seinen Grund, warum Sorgentelefone und ähnliche Einrichtungen anonym waren.
Am Ende guckte er mich überrascht an: „Und Du bist Dir sicher, dass er nicht wegen einem anderen Kerl weg ist?“ Ich schüttete uns Tee nach. „Da habe ich nie drüber nachgedacht. Aber was spielt das für eine Rolle? Am Ende war er weg, wegen was auch immer.“ „Das kommt mir nur so vorgeschoben vor.“
Hatte ich die Lage nicht genug hinterfragt? Um genau zu sein hatte ich sie noch gar nicht hinterfragt. Tief in meinem innersten Herzen hoffte ich wohl noch, dass alles nur ein böser Traum war – oder dass wenigstens Chris aufwachte und wieder reumütig vor der Türe stand.
„Ich habe zwar irgendwie etwas mit ihm abgeschlossen, aber andererseits vermisse ich ihn und will ihn zurück. Jedes mal, wenn ich an der Stadt vorbei fahre, wo er jetzt wohnt, tut es weh. Ich will das nicht glauben. Er hat sein Geld wirklich in die andere Firma eingezahlt, das habe ich geprüft. Man investiert doch nicht schnell mal in eine Firma, um eine Ausrede zu bestätigen, dass man in Wahrheit fremdgegangen ist.“ „Außer man geht mit dem bisherigen Inhaber fremd.“ Das war auch mal wieder richtig, aber nicht wirklich wahrscheinlich. „Der ist aber laut Website 48, hat Frau und zwei Kinder. Glaube ich also nicht.“
„Du musst Dich entscheiden. Wenn Du ihn willst, kämpf um ihn, egal für wen oder was er gegangen ist. Und wenn Du nicht willst, lass ihn los. Oder willst Du noch Jahre einem längst ausgeträumten Traum nachlaufen und Dich in Wut und Verzweiflung eingraben? Wenn Du meinen Rat hören willst, lass ihn los. Er hatte Dich nicht verdient, wenn er wegen einem anderen Mann weg ist. Und noch viel weniger, wenn er wegen einer Maschine weg ist.“ Ich überhörte das angedeutete Kompliment, von einem Stricherjungen brauchte ich keins.
Nach einer kurzen Pause und noch mal Tee nachgießen drehte ich den Spieß um: „Und was ist mit Dir? Willst Du Dich ewig in der EU verstecken? Oder zurück nach Weißrussland?“ Er zuckte mit den Schultern.
„Machst Du das hier nur für das Geld von den Männern und gegen Deine Orientierung oder bist Du wirklich schwul?“ „Ja. Bin ich. Deshalb bin ich unter anderem in die EU.“
„Hast Du an einen Asylantrag gedacht? Der könnte, wenn die Medien über die Unterdrückung in Weißrussland Recht haben, Aussicht auf Erfolg haben.“ „Nein. Ich habe immer nur an zu Hause gedacht. Aber ob ich mich da wirklich wieder wohl fühle?“
„Auch Du musst Dich entscheiden. Wenn Du nach Hause willst, finde einen Weg und schlag Dich über die Grenze durch. Und wenn Du nicht willst, versuch legal hier zu leben und Polen oder wo auch immer zu deinem neuen zu Hause zu machen. Oder wie geht es weiter, wenn Du irgendwann mal nicht mehr aussiehst wie Anfang 20? SM passiv?“ Er guckte erschrocken, das schien ein Volltreffer mit der in diesem Fetisch gängigen vielschwänzigen Peitsche gewesen zu sein. Ich wusste zwar nicht, warum ich ihm Ratschläge gab, aber wahrscheinlich tat er mir leid. „Wenn Du meinen Rat hören willst, melde Dich bei den Behörden und beantrage Asyl, weil Du wegen Deiner Sexualität in Deiner Heimat bedroht wirst.“ Er war mit seinen eigenen Waffen geschlagen.
Sein Blick fiel auf die Uhr und er verabschiedete sich schnell. Aus der halben Stunde waren nicht ganz zwei geworden. Ich hatte aber den Eindruck, als hätte er jetzt genauso viel zum Nachdenken wie ich.
Ich steckte ihm 40 Euro zu: „Ein Bisschen Entschädigung für den Verdienstausfall. Und Schweigegeld. Erzähl bloß nicht, dass hier nichts passiert ist.“ „Danke. Ich will doch nicht ausgelacht werden. Und Du bist ja nach einer so langen Nummer so erschöpft, dass die anderen es nicht mehr versuchen brauchen. Ich wünsche Dir eine ruhige Nacht.“ Mit einem Zwinkern verschwand er den Einstieg runter und machte die Tür zu. Ich sicherte sie wieder mit dem dicken Überfallbolzen.
Der Plan ging auf, ich war jetzt als Freier abgehakt und niemand klopfte mehr an, bis sich um 3 Uhr der Wecker meldete. Die Nacht war aber trotzdem unruhig und nicht wirklich entspannend gewesen, weil natürlich dauernd „Anbahnungsverkehrslärm“ (auf ein Wort wie „Anbahnungsverkehr“ konnten auch nur deutsche Kommunalpolitiker kommen) gestört hatte, wenn die Freier vor fuhren.
Auf diesem fragwürdigen Parkplatz machte ich lieber einen gründlichen Gang um den Zug. Nicht dass ich am Ende einen illegal eingereisten Weißrussen als heimlichen Beifahrer hatte. Es war jetzt ruhig geworden. Nur noch die ganz unglücklichen, die bisher nicht genug Geld zusammen bekommen hatten, waren hier. Natürlich auch Sergej, der Stricherjunge mit der philosophischen Ader.
Ich kletterte in die Kabine zurück und passte auf, dass mir keiner aufsprang. Weil nicht mehr viel los war, wendete ich ziemlich schnittig und fuhr raus auf die Straße.

Ich war noch nicht aus Katowice raus, als Schneeregen einsetzte.
Das Wetter blieb auch mit einer kurzen Schneepause bis Wien so. Ich stellte meinen Trailer bei Hofer ab und hatte nun noch knapp 2 Stunden Zeit, bis ich bei Dachser aufschlagen musste. Die vertrieb ich mir mit einem kleinen Spaziergang und mal wieder einer Bosner, Österreichs Antwort auf die Currywurst.
Mit dem traditionell schlechtbezahltesten Gefahrgut ging es nun weiter, mit Kohle nach Frankreich. Hatte auf den ersten Blick auch was von Eulen nach Athen, aber machte am Ende doch Sinn.
Ich hatte mir als Eisenbahnfan mal erklären lassen, dass Dampfmaschinen echte Feinschmecker waren. Teilweise funktionierten sie nur mit ganz bestimmten Sorten Kohle so richtig, wo die Zusammensetzung stimmte. Und weil die ursprüngliche Mine oft stillgelegt war, mussten Museen für Dampfloks oder andere Dampfmaschinen heute oft kleinere Mengen spezieller Kohle von weit weg kaufen.
Auf einer ereignislosen Fahrt durch Österreich dachte ich über das Gespräch von letzter Nacht nach, und natürlich über Chris. Erst das Piepen des Fahrtenschreibers machte mich drauf aufmerksam, wie viel Zeit schon vergangen war. Ich verzichtete auf die zehnte Stunde und fuhr direkt hinter Passau auf einen Rastplatz. Obwohl noch Nachmittag war, schlief ich sofort weg. Nach der letzten Nacht kein Wunder.
Der Wecker meldete sich um 2 Uhr. Ich verstand inzwischen, warum Patrick so gerne nachts fuhr. Es war nichts los und wenn man alleine unterwegs war, hatte man sowieso wenig Gelegenheit, sich für die Landschaft zu interessieren. Also verpasste man nichts, wenn es dunkel war.
Irgendwo vor Würzburg musste ich lachen. Noch vor anderthalb Wochen hatte ich diesen Stich ins Herz gefühlt, als ich an Nürnberg vorbei war. Heute hatte ich die A9 und die Frankenmetropole schon hinter mir gelassen und es nicht mal gemerkt. Nürnberg war ein Autobahnkreuz gewesen wie jedes andere. Danke Sergej, wo auch immer Du gerade warst.
Bei Frankfurt hatte ich mich so langsam dran gewöhnt, dass einem seit dem Bau der neuen Landebahn aus manchen Perspektiven die Flugzeuge direkt entgegen kamen, als wären sie gerade von der Autobahn gestartet oder wollten auf ihr landen.
Wieder war es ein ereignisloser Tag. Der Alltagstrott des Einzelfahrers hatte mich wieder. Es war gerade mal Mittag, als ich bei Aachen auf einen Rastplatz fuhr. Vor 3 Uhr nachts brauchte ich nicht weiter, sonst war ich vor den ersten Angestellten am Ziel.
Über Nacht hatte der Schnee zugeschlagen, oder er war jedenfalls gerade dabei. So wurden aus drei Stunden zumindest mal dreieinhalb, als es kurz vor Lille winterlich wurde. Die Schneefront war schon weg, aber das weiße Zeug lag herum und hinderte die ganzen Flachländler um mich herum, angemessen zu fahren. Auch ich reduzierte mein Tempo bei Schnee natürlich. Aber bei mir gab es zwischen „Vollgas auf Asphalt“ und „Schrittgeschwindigkeit auf Schnee“ einiges an Zwischenstufen.
Je weiter ich mit meiner Ladung Mehl auf dem Weg in Richtung Deutschland nach Belgien rein fuhr, umso mehr fiel ich auch hinter die kalkulierte Fahrzeit zurück. Das würde nicht reichen, ich rief Judith an: „Heute komme ich nicht mehr durch. Meine Fahrzeit ist, auch mit einer Stunde mehr, irgendwo an der holländischen Grenze vorbei.“
„Soll ich Julian entgegen schicken?“ „Wieso kannst Du den denn schon schicken?“ „Eine Fracht konnte nicht rechtzeitig bereitgestellt werden. Die sind mit einer gestern kurzfristig gestrickten Ersatztour nach Essen unterwegs und sollten gegen 10 rein kommen.“ „Okay.“

Um viertel nach 12 war meine Fahrzeit rum und ich stand in der Nähe einer Autobahnauffahrt bei Venlo und wartete auf Julian. Schließlich kam er mit dem Opel Astra. Wir tauschten die Schlüssel und waren kurz darauf wieder unterwegs.
Als ich zu Hause ankam, waren Timo und Ilarion gerade dabei, in der Waschkabine gemeinsam Timos Truck zu putzen. Ilarion reinigte mit der Hochdrucklanze vor, Timo schrubbte mit der Schaumbürste den Dreck ganz runter. Ilarions Magnum stand noch dreckig auf dem Hof.
Im Büro schäkerten Judith und Marlon mehr miteinander als dass sie sich mit den Zahlen beschäftigten. Ein Bisschen ertappt hüpfte Marlon von Judiths Schreibtisch, wo er lässig drauf gesessen hatte. Ich grüßte nur kurz und verschwand mit einem „Könnt weitermachen!“ in meinem Büro.
Es lag ein Bisschen Post herum, aber das meiste war nichts Besonderes. Dann allerdings nahm ich das Iveco-Kundenmagazin weg und da drunter lag noch ein Brief im DIN A4 Format. Schon bei der Briefmarke und dem Städtenamen auf dem Poststempel wurde ich nervös. Dann fiel mein Blick auf den Absender. Ich legte den Brief mit zitternden Händen ungeöffnet wieder weg.
