Kapitel 48 – 35-Stunden-Woche

Diese Woche…
…treiben wir es bunt…
…Ricky legt sich mit einem großen Konzern an…
…und Timo wird 18!

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Das unumstößliche hatten wir auf Samstag gelegt. Dass Timo als Belohnung endlich einen MAN TGX bekommen sollte, war nämlich davon unabhängig, ob wir nun den Vertrag mit Talke unterschrieben und wie unsere Trucks dann aussehen sollten.

Weil Julian sich bei Verhandlungen, egal ob Einkauf oder Verkauf, nicht so wohl fühlte, überließ er das Feld Marlon und mir. Er rechnete dafür mit Judith, die auch eine Samstagsschicht einlegte, mal ein paar Modelle durch, wie es von der Auslastung und den Einnahmen mit und ohne Talke aussah. Marlon und ich fuhren in Dortmund bei der MAN-Niederlassung vor, dieses Mal wieder mit meinem Citroen C4.

Nico Seibt machte keinen glücklichen Eindruck an seinem neuen Arbeitsplatz. Wir hatten unser Gespräch heute natürlich bei Niederlassungsleiter Ackermann persönlich. Es ging ihm klar mehr um die persönliche Schiene. Den unserem Anforderungsprofil entsprechenden Truck hatte er schon aufgerufen und auf dem Bildschirm.
Über den Preis wurden wir uns mit ihm schnell handelseinig. Wenn das Fahrzeug, das nicht weit weg bei Bielefeld stand, hier war, wollte er es noch als kleine Entschädigung zu uns überführen. Wir vereinbarten, dass er den Truck zu den Lahrmanns fahren ließ, damit Vinni ihn gleich folieren konnte.

Das Fazit auf der Rückfahrt war, dass man mit MAN auf jeden Fall in der Zukunft auch zusammen arbeiten könnte. Zwar war es wirklich noch nicht einfach, mit vernünftigen Lieferzeiten an Neufahrzeuge mit Euro-6 zu kommen, aber Rüdiger Ackermann wollte da in Zukunft versuchen, ob auch das ging.
Jetzt ging es nicht, weil wir den einen Truck kurzfristig wollten. Alternativ stellte er uns auch für weitere Käufe gute Preise für EEV-Motoren in Aussicht. Gerade die auf Halde gebauten Dreiachser waren wohl noch eine Weile zu kriegen, weil die nur schwer zu verkaufen waren. Großbritannien wollte natürlich zu 95% Rechtslenker und die Skandinavier schworen auf Scania und Volvo. Der Rest von Europa hatte nur einen geringen Bedarf an dieser Achsfolge.

Danach schoben wir noch ein Bisschen zusammen mit Julian und Judith Zahlen hin und her. Außerdem versuchten wir uns mal als Laien am Vertragstext. Das, was wir verstanden, war jedenfalls in Ordnung.

Nun folgte das eher kurze Wochenende von Samstagmittag über den ganzen Sonntag. Am Samstag trieb ich mich ein Bisschen in Bochums Innenstadt herum und bummelte durch diverse Läden, ohne was zu kaufen. Am Sonntag fuhr ich ins Bergische Land, um ein Bisschen bei einer Wanderung über meine Beziehungsprobleme nachzudenken.
Von Chris hatte ich inzwischen doch genug Abstand und von Luke hatte ich mehr als lange genug Abstand gehabt.

Das Problem mit Luke und der Routine an unseren gemeinsamen Wochenenden hatte ich daher längst erkannt. Das Abenteuer auf der Suche nach Abwechslung war in der Situation unvermeidlich und ich hatte nur lange nicht den Mumm gehabt, das mir und dann noch mal im nächsten Schritt ihm einzugestehen.
Es war wohl mein schlechtes Gewissen, wegen dem ich ihn gemieden hatte. Dass er mir Jahre hinterher getrauert hatte und mich am liebsten wieder zurück gewonnen hätte, aber dann am Ende ausgerechnet 14 Tage bevor das passiert wäre, wieder eine Beziehung hatte, war Schicksal. Wie schon ein osteuropäischer Politiker zum anderen gesagt hatte: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“

Mit Björn, für den ich Luke verlassen hatte, konnte es auf die Dauer nicht gut gehen. Als wir uns kennen lernten, war ich 28 geworden und er gerade mal 18. Dafür hatten wir verdammt lange durchgehalten. Aber irgendwann musste ich der „alte Sack“ sein, noch keine 34, aber die 3 vorne stand und wenn Mann in dem Alter viel im Sitzen arbeitet und keinen Ausgleich sucht, wird der Körperbau auch nicht unbedingt attraktiver. Hier sah ich den Fehler aber mehr im Anfang als im Ende der Beziehung.

Dann kam Chris. Da waren zwar auch wieder 8 Jahre Altersunterschied im Spiel gewesen, aber die hatten meine Schwester und mein Schwager auch fast, waren jetzt seit 10 Jahren verheiratet und hatten zwei Kinder. Also vielleicht ein Grund, aber kein Hindernis. Insbesondere, wenn beide mit Mitte 30 und Ende 20 schon ein bisschen reifer waren.
Er wollte einen besseren Truck und war deshalb gegangen. Wie vorgeschoben das war, wusste ich nicht – aber es musste einen anderen Grund geben. Da er, als es den geben sollte, wieder zu mir zurück wollte, sah es so aus, dass kein anderer Mann im Spiel war. Aber entweder war das doch der Fall oder Chris hatte ein Problem mit den Prioritäten in seinem Leben.

Einfach mal rechtzeitig miteinander reden anstatt am Ende übereinander schimpfen hätte viel gebracht und vielleicht die Beziehung zu Chris gerettet. Und auch bei Luke wäre es mit Reden vermutlich weiter gegangen. Das Problem war nicht zu viel oder zu wenig Zeit miteinander gewesen, es war in beiden Fällen zu wenig Reden. Aber was half das jetzt? Nichts. Mal sehen, ob und wann die Erkenntnis jemals wieder nützlich sein würde.

Am Montag machte sich erst einmal Ilarion mit seiner Plaudertasche auf den Weg nach Düsseldorf. Wenn die Karre jetzt echt alle 90 Sekunden „Achtung! Druckluftsystem! Bitte Hinterachse überprüfen!“ sagte, dann war er in Düsseldorf nach mindestens 30, im Berufsverkehr eher 50 „Achtung!“ reif für die geschlossene Abteilung.

Als nächstes empfingen wir unseren immer wieder gerne in Anspruch genommenen Anwalt für Wirtschaftsrecht. Donald ging den Vertrag mit uns durch. Wir riskierten nicht wirklich viel, konnten aber viel daraus machen. Also folgten wir seinem Rat und den Ergebnissen unserer Rechnungen und unterschrieben beide Exemplare.
Nun würde es noch dauern, bis das von Talke unterzeichnete Exemplar zurück kam und wir den Zugang zum System hatten. Bis da hin mussten wir noch Frachten auf dem freien Markt abstauben. Die Zeitvorgaben aus dem Standardfracht- und Food-Sektor waren aber etwas, von dem wir froh waren, dass es jetzt vorbei war.

Zwischendurch hörte ich mal, wie es Ilarion ergangen war. Wie erwartet, konnte man sagen: „Ich war froh, als ich das Ding los war. Das geht einem ja so was von auf den Sack! Wusste gar nicht, wie lang die Strecke nach Düsseldorf sein kann.“ „Was hast Du jetzt?“ „Einen T430 mit Hochdachkabine auf dem niedrigen Rahmen.“ „Julian würde Dich beneiden.“
„Wenn er den DTI 11 näher kennen gelernt hat, nicht mehr ganz. Die Kabine ist super. Aber mit dem Motor muss man die Berge schon ziemlich mit Köpfchen angehen. Da lobe ich mir den 13 Liter aus dem Magnum. Der alte dXi 11 aus dem Premium schlägt sich da sogar besser.“
Aber er war unterwegs, mit einem Truck, der die Klappe hielt.

Nächste Station war Vinnis Klebefolienparadies. Den Firmennamen in das Hauptdekor einzubinden fand er schon mal eine gute Idee. Bisher hatten wir aus Kostengründen nur einen kleinen Sticker mit der Adresse in der obersten freiliegenden Treppenstufe gehabt, der über die Standardfolien geklebt wurde.
Als es an die Farben ging, wollte er uns erst einmal die ganze Farbenpalette öffnen: „Ich kenne die Richtlinien. Aber Ihr müsst nicht auf Talke-Farben gehen.“ „Schon klar. Aber ich kenne die Firma, bin ja selber lange da gefahren. Also erwarte ich, dass wir gut zusammen arbeiten werden. Und da kann man seine Verbundenheit zum wichtigsten Kunden auch in der Farbe ausdrücken.“
Der Folienhersteller war wohl wirklich auf die größeren Transportunternehmen vorbereitet, denn Vinni konnte mit einem Mausklick auf „Alfred Talke“ die Farben aus einer Reihe von Logos großer Speditionen in die Palette laden.
Es herrschte schnell Einigkeit, dass wir bei dem Dekor „Vision“ bleiben wollten, um für die anderen Kunden eine Konstante zu behalten. Die beiden Zacken sollten Weiß und wenn es passte unser bisheriges Gelborange werden. Der Firmenname kam nach Richtlinie weiß aufs Frontblech und war aus künstlerischer Freiheit auch noch mal gelb hinterlegt. Die gelbe Farbe passte überraschend gut zum Rot.

Jetzt hatten wir ein Dekor, das einerseits klar zeigte: „Hier kommt jemand im Auftrag von Alfred Talke“, aber andererseits auch noch seine persönlichen Freiheiten aufwies. Das Rot zog sich auf die Kabinenbleche hoch und blieb nicht nur bei Stoßfänger, Treppe und Radkasten. Dazu die recht auffallenden Zacken und der gelbe Schatten unter der Schrift.
Als wir dann sagten, dass ein MAN TGX dazu kommt, verdrehte Vinni die Augen. „Was ist?“ „Die Adresse. Bei MAN gibt es auf der ganzen Karre nur eine ebene Fläche und das ist der halbe Staufachdeckel und ein Stück da drüber. Da sind aber die Zacken und der Wechsel von Blau auf Rot. Da muss ich irgendwo über die Knicke und Rundungen in der Tür schreiben.“ Wieder was gelernt, bisher hatten wir uns wenig für die Form der Seitenbleche an unseren Trucks interessiert.
„Leider wird die Adresse munter hin und her springen. Die muss ich bei jedem Eurer Trucks wo anders platzieren, wo gerade genug Platz, einfarbiger Hintergrund und flaches Blech ist. Wenn der neue Truck bis Mittwoch Abend kommt und Ihr Expressfertigung für die Folien und Express Plus Paketdienst bis 8 Uhr morgens bezahlt, kann ich Mahad Donnerstag und Freitag sowohl Geselle als auch Azubi wegnehmen und den Truck Freitag Nachmittag fertig haben.“

Der MAN sollte also den Anfang machen. Dann würden unsere übrigen Trucks der Reihe nach folgen. Also musste immer mal jemand den Premium fahren, der ja durch Timos Wechsel frei wurde. Bei mir passte es mit dem geplanten Urlaub zusammen.
Außerdem beschlossen wir noch spontan, mal bei der Zulassungsstelle den Nummernblock von BO-IT 500 bis BO-IT 530 für uns zu blocken. Zwei davon hatten wir ohnehin schon und das mit den PS-Zahlen, was wir zuerst vorhatten, würde sich sowieso irgendwann überschneiden, wenn wir mehr Trucks hatten. Mit den Nummern sollten wir dann eine Weile auskommen.

Judith bekam die Bitte, am Freitag die ganze Bande nach Bochum zu disponieren und den Besprechungsraum für alle herzurichten. Es war Zeit für eine offizielle Betriebsversammlung.

Um 15:31 Uhr fuhr ich endlich raus. Es ging solo ins Sauerland bis zu ADM in Neuenrade. Hier wartete ein Trailer mit Phosphatdünger darauf, nach Genua gebracht zu werden. Erst nach 18 Uhr ritt der Asphaltcowboy mit einem kompletten Sattelzug in den Sonnenuntergang oder so ähnlich.

Nach 21 Uhr erst gab es in der 45er Pause bei Darmstadt Abendessen. Nun folgte noch eine Nachtfahrt, bis 01:10 Uhr schließlich auf dem letzten Rastplatz vor der schweizerischen Grenze zwangsweise Pause war. Erstens war die Zeit um und zweitens in der Schweiz Nachtfahrverbot.
Natürlich hätte ich früher dran denken müssen, dass um die Zeit der Rastplatz komplett voll sein würde. Also stellte ich mich in zweiter Reihe neben einem anderen Lastzug hin.
Dank meiner späten Ankunft durfte ich auch frühestens um 10 nach 12 weiter. Ein Zeitpunkt, zu dem die anderen Trucks längst wieder unterwegs waren. Das bedeutete, dass mein Truck mutterseelenallein mitten auf dem Platz stand und so tat als wären die Parkplatzmarkierungen nur Dekoration.

Bei schönem Wetter und in einer leicht eingeschneiten Landschaft nahm ich die Alpen in Angriff. Es war schon schöner mit dem Stralis und seiner am Berg deutlich bissigeren Maschine. Aber Timo würde mit einer 2,50 Meter breiten, durch den flacheren Motortunnel auch noch höheren Kabine und 20 zusätzlichen PS aus 2 Litern mehr Hubraum einen deutlichen Fortschritt machen. Außerdem war es seine Lieblingsmarke – ein guter Grund, warum der MAN in meiner Gunst auch nie meinen Favoriten Iveco besiegen würde. Denn meine Lieblingsmarke war nun mal aus Italien.

Im Tessin lag dann kein Schnee mehr. So kam ich gut nach Genua zu ND, lieferte den Trailer dort ab, der mit einer Nahverkehrsmaschine auf die Fähre gebracht wurde, alleine das Mittelmeer überquerte und dann in Libyen mit einem einheimischen Fahrer ans Ziel kam.
Mich wunderte nur, dass Hoyer dafür einen Edelstahltank der neuesten Generation vorgesehen hatte. Ich würde für so ein Himmelfahrtskommando die älteste Rostlaube nehmen, die ich im Fahrzeugbestand nur finden konnte.

Die Anschlussfracht waren 17 Tonnen Spanplatten von Rettenmeier mit Ziel Wuppertal. Zeitlich knapp kalkuliert.
Ich schaffte es noch bis Como an der Grenze zur Schweiz, wo die Weiterfahrt sowieso verboten war. Die Rastanlage kannte ich inzwischen sehr gut und war auch immer zufrieden. Nach einem leckeren Abendessen ging ich in die Koje.

Am nächsten Morgen hatte Schneeregen eingesetzt. Die Ladung hatte kein Carnet TIR, also kostete die Einfahrt in die Schweiz ordentlich Zeit, noch bevor ich überhaupt richtig in Fahrt gekommen war.

Bei miesem Wetter kämpfte ich mich durchs Tessin auf den Gotthard zu. Auch nach 10 Uhr herrschte noch gefühlte Morgendämmerung.

Die Hoffnung, dass das Wetter auf der Nordseite besser wäre, erfüllte sich nicht sofort. Erst auf dem weiteren Abstieg ins Tal brach die Sonne durch. Die Schweiz hatte genau die richtige Größe, um ohne Pause einmal durch zu fahren. Also war meine 45er Pause genau am Grenzübergang fällig, wo ich sowieso wieder anhalten musste, damit die Zöllner nachzählen konnten, dass in der Schweiz keine Spanplatte runter gefallen war.

Am Nachmittag fuhr ich durch den leicht eingeschneiten Vogesen in Richtung Straßburg, die A5 war mal wieder dicht.

Unterwegs war noch ein Tankstopp fällig. Noch bis in den Westerwald auf die restliche Tankfüllung zu fahren war mir zu heiß. In Deutschland lag dann auch kein Schnee mehr. Wie erwartet war im Westerwald Schluss.

Am nächsten Morgen ging es weiter in Richtung Wuppertal. Bei Köln bremste mich ein ziemlich untermotorisierter Kipper ein. Auch rund um Wuppertal selbst kam ich dank dickem Verkehr nicht so richtig voran.

Das Ende vom Lied war, dass ich mit Verspätung ankam. Das würde mal wieder finanzielle Abzüge in der B-Note geben. Auch ohne Verkehrsprobleme war das allerdings ein Auftrag gewesen, der eigentlich nicht zu schaffen war. Gut, dass das Thema sich jetzt erledigt hatte und wir wieder von diesen Frachten runter kamen, wo die Zeit nie reichte.

Ab jetzt erwartete mich für den Rest des Tages Nahverkehr. Erst einmal ging es mit der neuen Ladung bis zur nächsten Imbissbude, wo ich die kleine Pause abfeierte. Danach stand Recklinghausen auf der Agenda. Hier bei Dachser durfte ich direkt umsatteln mit einer Ladung nach Essen.

Da ging es von Fercam gleich wieder durch den Stadtverkehr zurück nach Dachser in Recklinghausen. Danach durfte ich leer nach Hause fahren. Auf den letzten Metern setzte auch noch Regen ein.
Ich war der erste gewesen. Marlon und Julian würden wohl am späten Abend rein kommen, Ilarion müsste für die Nacht nach meinen Berechnungen irgendwo rund um Lüttich stehen und Timo war laut GPS bei Bremen.

Der Freitag war für zwei Dinge vorgesehen. Personalgespräche und eine Betriebsversammlung. Vorher kam die Post und die brachte uns ein Einschreiben. Es war der gegengezeichnete Vertrag von Talke. Damit waren wir nun offiziell Subunternehmer. Ein weiterer Brief enthielt die Zugangsdaten zu deren System.

Weil unsere beiden Fahrer noch unterwegs waren, fingen Julian und ich mal den Reigen der Einzelgespräche in meinem Büro mit Judith an.
Hier gab es von unserer Seite wenig zu sagen. Sie machte einen hervorragenden Job, insbesondere wenn man sich überlegte, wie aktiv wir inzwischen waren. Darauf angesprochen sagte sie uns dann auch, dass dort was passieren musste: „Mein erster Eindruck von dem Talke-System war eben, dass es ziemlich einfach zu handhaben ist. Aber wenn der nächste Fahrer dazu kommt, brauche ich irgendwann Entlastung. Vier gehen noch, aber Disposition und Buchhaltung für fünf Trucks ist dann nicht mehr alleine zu schaffen.“ „Dann sollten wir wohl mal zusammen mit dem nächsten Fahrer jemanden für die Buchhaltung einstellen.“ Wir teilten ihr noch das neue Gehalt nach Inflationsausgleich mit und waren durch.

Der nächste Kandidat war Timo, der inzwischen eingetroffen war. Als ich ins Büro gehen wollte zu Julian und ihm, griff mich Judith noch kurz ab: „Ich habe eben den Zahlungslauf aus dem System gezogen. Dachser hat uns eine Rechnung wegen Verspätung deutlich gekürzt. Das ist ein Auftrag, den Timo im Januar gefahren hat.“ „Such mir mal bitte eben die Papiere raus, dann spreche ich ihn mal drauf an.“

Ich warf einen flüchtigen Blick auf die Papiere. 3 Stunden zu spät. Zu der Zeit wäre er noch haarscharf in der Probezeit gewesen. Wenn er uns da was verheimlicht hatte, um durch die Probezeit zu kommen, wäre das ein starkes Stück. Dass das erst danach raus kommen musste, konnte er sich mit einer kaufmännischen Lehre ohne großes Nachdenken ausrechnen.

Den Frachtzettel steckte ich unter die anderen Papiere in meine Besprechungsmappe. Julian und ich fingen erst einmal an, unsere formlosen Gespräche der letzten Wochen zusammenzufassen. Wir waren, bis auf den zu klärenden Fall mit der verspäteten Ablieferung, den derzeit nur ich von den anwesenden Leuten kannte, zufrieden. Auch er hatte Spaß am Job und war sich sicher, dass er das richtige gemacht hatte.
Dann musste ich aber doch anfangen: „Eine Sache, gab es Ende Januar vielleicht eine nicht so ganz planmäßige Tour?“ „Was meinst Du?“ „Ich meine eine Fahrt für Dachser von Neuss nach Langenhagen. Wir haben die Rechnung so weit eingekürzt bekommen, dass wir drauf zahlen!“ Ich zog das Papier raus, Timo sah es sich an und wurde nervös.
„Wo kommt das denn her? Das kann ich mir nicht erklären.“
Julian griff auch zu dem Papier und fand das, was ich in der Hektik und Timo in der Aufregung übersehen hatten: „Das geht doch vorne und hinten nicht. Der Lagerfritze in Neuss hat um 14:42 abgestempelt und späteste Zeit in Langenhagen war 16 Uhr! Mit 19:05 Uhr hat Timo da an sich einen guten Job gemacht.“
Auch Timos Gedächtnis bekam wieder genug Blut, um sich zu erinnern: „Der Disponent in Langenhagen hatte gesagt, das geht in Ordnung bei der späten Abfahrtzeit. Ich musste in Neuss über 3 Stunden warten!“ „Na dann wollen wir doch mal nachhören.“ Ich griff zum Telefon, wählte gleich auf Lautsprecher die Nummer von Dachser Neuss an und ließ mich in die Buchhaltung durchstellen.
Nachdem ich kurz erklärt hatte, warum ich anrief, bekam ich die Antwort, dass die Disposition in Neuss auf den Papieren vor der Freigabe an die Buchhaltung vermerkt hatte, dass die Rechnung wegen verspäteter Anlieferung gekürzt werden sollte. Also ließ ich mich gleich mal zu der Sachbearbeiterin in der Dispo durchstellen.

„Dachser Neuss, Zimmermann!“ Aha, Grußformeln waren wohl aus der Mode. „Guten Tag Frau Zimmermann. Eric Kaiser, Geschäftsführer der Firma KFL Intertrans. Ich rufe wegen einem Auftrag an, den wir für Sie gefahren haben.“ Ich gab ihr die Referenznummer. „Sie haben laut Ihrer Buchhaltung veranlasst, dass die Rechnung gekürzt wird?“ „Ja. Der Fahrer war zu spät am Ziel.“ „Würde ich nicht so sehen.“ Über 4 Jahre Großbritannien hatten bis heute abgefärbt. Solche Gespräche führte ich normalerweise betont ruhig und für deutsche Verhältnisse im Grundton fast schon übertrieben höflich, aber mit spitzem Dolch für ein paar sarkastische Pointen. Den einen oder anderen deutschen Gesprächspartner hatte ich so schon an den Rand des Wahnsinns getrieben. Zurückhaltung als Angriffstaktik in der Auseinandersetzung.
„16 Uhr war Termin, 19:05 Uhr war Ihr Fahrer da. Wir hatten wegen Ihrer Niete von Fahrer für alle Frachten nach Skandinavien einen Tag Verzögerung!“
„Das Telefon ist auf Lautsprecher. Die Niete sitzt mir gegenüber und hört mit.“ „Kann ruhig hören, dass er unfähig ist. Setzen Sie den besser nie wieder für uns ein!“ Timo starrte das Telefon fassungslos an. Man konnte sehen, dass er innerlich kochte.
Ich hatte mir inzwischen Timos GPS-Daten von dem Tag auf den PC geholt
„11:18 Uhr war der Fahrer in Neuss bei Ihnen auf dem Hof, 14:42 ist er los. Rechtzeitige Bereitstellung der Ladung sieht anders aus.“ „Dann muss er sehen, wie er das aufgeholt kriegt.“ „Vielleicht wäre ein Helikopter eine Lösung, könnte aber dann teurer werden.“ „Das ist nicht mein Problem!“
„Dann machen wir doch ein Problem Ihres Abteilungsleiters daraus. Ich möchte Ihren Vorgesetzten sprechen.“ „Der ist beschäftigt.“ „Dann geben Sie mir bitte seine Durchwahl.“ „Die dürfen wir in der Abteilung nicht herausgeben.“ „Dann eben seinen Namen und ich lasse mich über die Zentrale durchstellen, wenn er wieder zu sprechen ist.“ „Nein, das geht auch nicht.“
„Ich kann mich ja auch ohne seinen Namen zum Abteilungsleiter der Disposition durchstellen lassen. Das führt so ja zu nichts mit Ihnen. Ich werde meine Buchhaltung anweisen, Ihnen eine Mahnung zu schicken, fällig am 20.03. Bis da hin ist der Betrag vollständig auf unserem Konto eingegangen. Fehlt Glockenschlag Mitternacht zum 21. auch nur ein einziger Cent vom Rechnungsbetrag, hole ich mir einen Mahnbescheid beim Amtsgericht und bewerte Sie in der Frachtbörse als säumigen Zahler und mit um 3 Stunden verspäteter Bereitstellung der Ladung!“
„Wie können Sie es wagen, mir und der Firma Dachser zu drohen? Wir sind eins der größten Logistikunternehmen der Welt! Sie wollen doch wohl weiter für uns arbeiten!“
Vor allem „ihr und der Firma“. „Darf ich kurz so tun, als würde ich überlegen, bevor ich nein sage?“ „Na wenn Sie für Großkunden nicht fahren wollen, wird es mit Ihrem Laden wohl nicht mehr lange gut gehen.“ „Zerbrechen Sie sich nicht meinen Kopf. Wir fahren ab sofort für einen Marktführer in der Chemielogistik und sind in Zukunft nicht mehr auf Sie als Lückenfüller angewiesen. 20. März den vollständigen Betrag, sonst steht der Gerichtsvollzieher in Ihrem ehrenwerten Haus. Und wer Ihr Chef ist, finde ich auch noch raus – mit Durchwahl. Ich bin mit einem Subunternehmer der Dachser-Gruppe befreundet, der ab und zu auch Ihren Stützpunkt anfährt. Schönes Wochenende. Auf Wiederhören!“
Ich drückte mit einem Kopfschütteln die Trennen-Taste. Julian war sichtlich amüsiert, Timo stand der Mund offen. „So eine Frechheit.“ „Frechheit siegt viel zu oft, aber nicht bei mir. Wenn Du in Zukunft so einen Fall hast, dann trag eine Bemerkung ins System ein. Auch wenn die Papiere sauber zu sein scheinen. Du hast ja gemerkt, wie schnell Judith, ich und Du selbst alle drei später übersehen können, was Sache ist. Und auch große Namen schützen nicht vor durchgeknallten Sachbearbeitern.“

Timo war noch kein ganzes Jahr dabei, also keine Änderungen beim Geld. Damit war auch er fertig und es fehlte nur noch Ilarion. Vorher gab ich Judith den Frachtzettel zurück mit der Bitte, die Mahnung zu schreiben.

Bei Ilarion war es ein Gespräch etwas nach der halben Probezeit. Es ging schnell und unkompliziert, weil wir uns auch bei ihm einig waren, dass er gute Arbeit leistete und er mit uns als Arbeitgeber auch zufrieden war.

Danach versammelte sich die ganze Truppe im Besprechungsraum. Ich organisierte mal wieder eine heimliche Anlieferung von unseren Freunden für verschenkte Trucks.

Marlon war schon mit der Einleitung durch und kam zum Punkt: „Wie Ihr vielleicht gemerkt habt, sind unsere Touren seit Jahreswechsel nicht immer schön gewesen. Wir hatten viel Terminfracht, auch viel enge Terminfracht und viel Food und Standard-Ladungen. Leider hat sich die Firma ENI entschlossen, mehr auf vertraglich gebundene Subunternehmer zu setzen, deshalb haben wir nicht mehr genug Chemiefracht bekommen.
Es gab für uns nur zwei Möglichkeiten. Entweder wir registrieren uns als Transportdienstleister bei alle Chemiefirmen einzeln und hier rennen das ganze Jahr über irgendwelche Leute rum und machen Audits. Oder wir werden Subunternehmer und binden uns vertraglich an irgendwen, damit wir sicher genug Aufträge haben.“

„Dazu gab es auch wieder zwei Möglichkeiten. Entweder wir fahren als direkter Industrie-Subunternehmer für die Firma Linde, unseren bisher größten Kunden. Oder wir fahren als Subunternehmer einer großen Chemielogistikfirma. Wir haben uns für das zweite entschieden.
Viel ändert sich nicht für Euch. Judith hat ein zweites Softwaresystem, aber Julian hat schon mit Benny gesprochen. Unser bestehendes System kann man verbinden. Dann kannst Du die Daten zwischen beiden Systemen mit einem Mausklick hin und her schieben.
Timo, Julian und Marlon müssen sich an eine neue Farbe gewöhnen, wenn sie ihren Truck suchen. Ilarion, Dir geht es wie mir, wir kennen das schon – unten rot und oben blau. Wir fahren demnächst die meisten Aufträge für Alfred Talke Logistic Services. Aber es werden sich auch immer noch einige Aufträge vom freien Markt dazu mischen. Auch wenn die alten noch nicht viel getragen sind, gibt es auch neue Polohemden, Pullover, Jacken und Basecaps.“


„Wir müssen jetzt noch mehr drauf achten, dass unsere Trucks in einwandfreiem Zustand sind. Deshalb werden wir einen Kalender im System einrichten und freiwillig am Samstag Schraubertage ansetzen. Wenn also jemand Lust hat, was an den Trucks zu machen – Reparaturen, mal ein Teil anbauen, putzen – kann er sich da eintragen. Wer keine Lust hat, trägt nichts ein und kommt halt nicht.
Für größere Bastel-Aktionen sollte dann aber Ricky da sein, weil der mal Landmaschinenschlosser gelernt hat. Und wenn wir fertig sind, können wir nach Laune den Bierkeller plündern, den Grill anwerfen oder Pizza kommen lassen.“


„Habt Ihr Fragen?“ Schweigen. „Dann würde ich vorschlagen, wir gehen mal runter und schauen uns die neuen Farben an.“ „Wie das denn? Hast Du einen Truck verzaubert in die neuen Farben?“ „Wenn ich zaubere, wird der Grün-Silber.“
Zu meiner Überraschung konnte Ilarion die Anspielung sofort zuordnen. Ich war zwar schon vergleichsweise alt, als das erste Buch raus kam, aber war trotzdem bis heute ein Fan der Bücher und Filme geblieben. „Bist Du auch Harry-Potter-Fan?“ „Ja.“ „Aber Slytherin? Du?“ „Ja, drei Viertel aller Sprechenden Hüte im Internet können wohl nicht irren. Ich sage mal „Dafür wirst Du hier noch echte Freunde finden!“ Was bist Du?“ Er lächelte, als er merkte, dass er einen Mitstreiter in Sachen Fantasy gefunden hatte: „Ein Ravenclaw.“

„Lasst Euch überraschen, wie wir Euch die Farben zeigen.“ Die Karawane dackelte die Treppe runter. Timo blieb wie angenagelt stehen: „Was ist das?“ „Gerade bei Dir hatte ich gedacht, dass Du es erkennst.“

„Schon klar. Ein MAN TGX mit EEV-Motor aus der Chromium Edition, also einer der letzten produzierten vorm Facelift. Aber wie kommt der hier her und warum?“ „Er kommt vom Händler und wir denken, dass sich hier jemand einen neuen Truck mehr als verdient hat. Sag Deiner Sardinendose auf Wiedersehen, Timo. Der ist für Dich!“ „Echt? Yeah!“

Aufgeregt kletterte er ins Fahrerhaus. Anders als wir ihn eingestellt hatten und er, typisch seriöser Banker, in jeder Hinsicht zurückhaltend war, hatte er inzwischen gelernt, auch mal seine Emotionen raus zu lassen. Und zu sehen, wie er sich freute, war auch für uns als Chefs ein gutes Gefühl.
Es war ein riskanter Versuch gewesen, ihn einzustellen, aber wir hatten damals trotz aller Zweifel wohl alles richtig gemacht. Und wenn er jetzt mit seinem Lieblingstruck unterwegs war, würde das wohl auch so bleiben.

„Dann bist Du heute wohl noch mal 18 geworden. Was machst Du denn jetzt mit Deinem T-Shirt?“ „Trotzdem weiter anziehen, wenn ich Bock drauf habe.“

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