Warum sollte ich auch einfach mit Luke zurück nach Großbritannien fahren dürfen? Wir saßen am 10. Oktober noch bei meinen Eltern, als mein Handy klingelte. Es war Shawn – und Angestellte, die ihren Chef im Urlaub anriefen, waren selten der Grund für Freudentänze. „Hallo Shawn.“ „Ricky, der LKW hat gebrannt!“ Der berühmte Stromschlag-Anruf. Erst eine kleine Herzrhythmusstörung und dann hellwach. „Bist Du okay?“ „Ja. Ich habe es zusammen mit einem polnischen Kollegen löschen können. Und dem neuen Trailer und der Fracht ist auch nichts passiert.“ „Schön wenn nichts damit ist, aber das wichtigste ist, dass mit Dir nichts ist.“ Der zweitneuste der von Duncan übernommenen DAF, der London Sights 106er. Es war ein Montagsauto, das wusste ich. Hatte er sich jetzt selbst erledigt? „Nein, mir geht es gut. Ich habe nur nichts mehr als meine Klamotten, die ich heute Morgen angezogen habe.“
„Okay. Wo stehst Du?“ „Sogar da ist das Universum gegen mich! Auf der A40 Richtung Osten, ein paar hundert Yards hinter der Ausfahrt Nejuki…, Newkirken-Flynn – vergiss es! Nummer 7!“ Ich sah mal eben auf Lukes Smartphone in Google Maps nach. Ausfahrt 7 war, wie nach dem sprachlichen Unfall vermutet, Neukirchen-Vluyn. Das war für einen Briten natürlich der schlimmste Ort, um auf der A40 eine Standortangabe machen zu müssen.
„Kannst und willst Du mit einem Ersatzwagen weiter fahren?“ „Habe ich eine Alternative?“ „Na klar. Bei mir fährt keiner, der dazu gerade nicht in der Lage ist. Vor 2 Jahren hatte ich einen kapitalen Motorschaden und mein Beifahrer war bei der Absicherung der Unfallstelle schwer verletzt worden. Ich bin sofort in den Ersatzwagen gestiegen und hätte nach 500 Metern an der ersten Ampel fast ein Auto pulverisiert, weil ich nicht bei der Sache war. Wenn Du sagst, Du kannst mit dem Schreck nicht fahren, dann setzt Du Dich in den nächsten Flieger nach Hause und nimmst ein paar Tage Auszeit.“ „Besser wäre es vielleicht.“
„Ich schicke einen Abschleppwagen für den DAF. Kann aber was dauern, der kommt von Bochum. Ich gebe dem Abschlepper Deine Telefonnummer, weil die Feuerwehr Dich von ihrem Abschlepper bestimmt nur zur nächsten Werkstatt schleppen lassen wird. Lass diese Werkstatt nichts machen.“ Imperial Commercials Deeside, der offizielle DAF-Service zu Hause, hatte mir nach jedem Zipperlein erklärt, dass es doch trotz allem ein tolles Fahrzeug war. Bevor mir das jetzt auch noch BTS als lokaler DAF-Vertragspartner erzählte, obwohl sie einen Brandschaden vor der Nase hatten, wollte ich die Fehlersuche mal lieber den Lahrmann-Brüdern überlassen.
Mahad wollte sich gleich mit dem Bergungsfahrzeug auf den Weg machen, sein Azubi mit dem Axor den Trailer einsammeln. Luke sollte mich auf der Durchreise in Bochum absetzen und alleine weiterfahren. Ich musste sehen, wie es weiter ging. Wenn Shawn mit den Nerven runter war und nicht fahren konnte, musste ich auf jeden Fall einspringen. Die Frage war nur, für wie lange.
In Bochum angekommen, war der DAF schon da und stand in der Halle. Den Trailer hatte Mahads Azubi bei der GmbH in der Coloniastraße abgestellt. Da sollte auch die Ersatzmaschine hinkommen. Shawn saß in der Reparaturannahme mit einem Kaffee. Die Rückseite vom LKW war okay, aber die Fahrerseite zeigte deutliche Brandspuren und die Front war frei von allen Plastikteilen. Auch der Dachaufsatz war vorne weg geschmolzen. Zwei große Feuerlöscher hatten sie in den Motorraum, auf den rechten Vorderreifen, die Plastik-Frontverkleidung und nachdem das Feuer über Lenksäule, Cockpit und Schaltkulisse durchgeschlagen war, auch in die Kabine gejagt. Deshalb war von Shawns Habseligkeiten quasi nichts mehr zu gebrauchen, weil alles weiß gepudert war, was nicht verbrannt war.
Lukes oder Jeremys XF105 waren zum Glück noch nicht verkauft, einer von beiden sollte an sich weg. Die für Shawn vielleicht ein paar Wochen oder Monate unschöne Lösung bestand darin, dass er einen dieser Oldtimer weiter fuhr. Er war sowieso der nächste Fahrer für eine neue Maschine.
Mit der Suche nach der Ursache für den Brand hatte sich Vinni beschäftigt: „War schnell zu finden. Es sieht so weit nach einem Kabelbrand aus. An einer Stelle ist der Kabelbaum regelrecht zu einem Klumpen zusammengeschweißt. Da müssen Funken übergeschlagen sein, die das Kupfer geschmolzen haben und dabei den Wagen angezündet.“
„Okay, das Ding ist ja nun hin. Was würdest Du mir dafür noch geben?“ „Einen Verschrottungsbeleg. Nur die Hinterachsen und einiges an Kleinteilen sind noch okay, aber sonst ist kaum was davon übrig, was wir als Gebrauchtware zu Geld machen könnten. Mit dem, was uns der Schrotti gibt, decken wir die Bergung und gut. Eigentlich schade, dass alles ruiniert ist. Mahads Freunde in Kenia würden uns den sonst vom Hof holen, bevor wir gucken könnten. Rechtslenker sind die besonders scharf drauf, aber wir kriegen hier ja keine.“ Das sollte ich mir merken. In Großbritannien gab es logischerweise so viele Rechtslenker, dass die Preise versaut waren. Zumal der Exportmarkt auch kleiner war als für Linkslenker.
Shawn und ich liefen gerade die paar hundert Meter zur Firma rauf, wo der Trailer auf dem Hof stand. Vom Ersatzwagen war noch nichts zu sehen. Wir gingen ins Büro und begrüßten André. Judith telefonierte auf Englisch, es schien um eine offene Zahlung zu gehen. Sie legte entnervt auf. „Hallo Ricky.“ Dann wendete sie sich meinem Mitarbeiter zu: „Hallo, ich bin Judith und die Büroleiterin hier.“ „Shawn. Der abgebrannte Fahrer. Hallo.“
Judith delegierte noch schnell ihre abgebrochene Arbeit: „André. Diese Firma Rydzewski aus Krakow regt mich auf. Zahlung ist überfällig und wenn man da anruft, spricht plötzlich niemand Deutsch oder Englisch. Bei der Auftragsvergabe konnten sie es noch fließend.“ „Zumindest das mit der Sprache kriege ich schnell geregelt.“ André grinste gehässig, nahm sich den Vorgang und wählte. „KFL Intertrans, Bochum, Niemcy. Nazywam się André Marszałek. Dzień dobry.“
Judith versorgte uns, nachdem sie das Sprachproblem mit dem Kunden auf elegante Weise gelöst hatte, mit Getränken und suchte dann für Shawn einen passenden Flug nach Manchester am Nachmittag. Ich kaperte Julians Schreibtisch und kümmerte mich um die Bürokratie. Ich musste die Versicherung in Großbritannien informieren, dass das Fahrzeug abgebrannt war. Den Verschrottungsbeleg brachte der Lahrmannsche Azubi nach der Mittagspause rein. Den musste ich dann noch aus Deeside mit dem entsprechenden Abschnitt der Fahrzeugpapiere an das Straßenverkehrsamt schicken und die Nummer war durch, Amtsgebühr wurde mit dem Ausgleich der Fahrzeugsteuer verrechnet und fertig. Nicht wie in Deutschland persönlich hinfahren, stundenlang warten, Papiere abgeben, Kennzeichen entstempeln, noch mal kurz warten, die entstempelten Blechdinger vorzeigen, an der Kasse wieder warten und bar zahlen.
Außerdem setzte ich mich mit André zusammen, die Stückgutfrachten umdisponieren. Er hatte nach meinem ersten Anruf heute Morgen schon mit Scandinavia Express in Paderborn telefoniert. Die hatten Maxi alles auf die Wechselbrücken geschmissen, was nicht bei 3 auf den Bäumen war und Richtung Insel sollte, um Shawns, jetzt meinen Trailer auszulasten. Alles, was Shawn auf dem Rückweg hätte mitnehmen sollen und noch nicht bereit war, musste jetzt auf die Trucks von Alex und Merwyn umdisponiert werden, die zur Wochenmitte hier durch kamen.
Zwischendurch nahm ich mal den Ersatzwagen entgegen, den Vinni organisiert hatte. Vermieter war eine kleine Firma in Gelsenkirchen, die kein One-Way anbot. Weil man bei denen, die es anbieten konnten, One Way zumindest auf die Insel aber sowieso nicht bezahlen wollte, sollte den LKW jemand in der zweiten Wochenhälfte mit Talke-Aufträgen als Sub von Bochum wieder nach Deutschland bringen und zurück fliegen.
Es war ein MAN TGX XLX mit 440 PS und „nackend gepudert“. Keine Sonnenblende, flatterige Gardinen statt schwerer Vorhänge oder lichtdichter Rollos, das gegen Aufpreis dazu gebuchte Navigationssystem war kein Festeinbau, sondern pappte mit einem Saugnapfhalter an der Frontscheibe. Ich kletterte mal kurz rein, um den Kilometerstand mit den Unterlagen abzugleichen.

Schon nach 2 Uhr machte ich mich dann auf den Weg, fuhr in Essen noch eine Ladestelle an und dann weiter zu Scandinavia Express nach Neuss. Kurz vor 5 bog ich die Straße Am Hochofen ein und rollte an Dachser vorbei zu Scandinavia Express, vormals Transport Schütz.

„Sieh da, ein Maxi!“ Nebenan dockte der Wechselbrückenzug an. „Hallo Ricky. Auch auf MAN unterwegs?“ „Ja, unfreiwillig. Weiß nicht, ob Du es schon mitbekommen hast. Einem unserer Fahrer ist der LKW abgebrannt und ich habe ihn auf den Schreck ein paar Tage freigestellt. Jetzt fahre ich mit diesem Mietgerät ohne alles und nicht scharf zurück auf die Insel.“ „Ja, so was in die Richtung habe ich gehört. Aber so lasch ist der MAN nicht.“ Er hatte ja auch einen 440er.
„Keine Ahnung, hatte bisher noch nicht den Spaß mit Bergen. Bin von Bochum über Essen rein gekommen. Gleich sind 19 Tonnen Ladung an Bord, dann sehen wir morgen in den Midlands mal weiter. Ich hatte mal einen 430er TGA. Der war damals vielleicht Mittelklasse, aber im heutigen Verkehr wäre das ein lahmes Teil. Vor allem wenn man mehr als 3 Berge auf seiner Tour hatte. Dass man bei den Briten 44 Tonnen fahren darf, machte es nicht besser.“ „Wirst schon sehen. Kannst Dich ja mal melden. Oder schreib einfach Timo mal, wie der TGX ist. Der sagt es mir dann schon. Timo hat ja vor lauter Actros 2558 vergessen, dass er eigentlich MAN-Fan ist. Wobei der Actros ja auch ein scharfes Teil ist.“
„Julian ist eh kein MAN- Fan. Was vor allem an den Lieferzeiten liegt. Mercedes wäre an sich noch schlimmer, aber da hat uns damals ein Verkäufer unbedingt als Kunden kriegen wollen und steht auch jetzt noch zu seinen Zusagen. Deshalb hat Bochum inzwischen 2 Actros.“ Maxi verabschiedete sich, stellte seinen LKW ab und fuhr in den Feierabend. Er schaffte es sogar, seinen gentechnisch veränderten BMW ohne durchdrehende Reifen und mit manierlichen Drehzahlen auf die Heerdterbuschstraße und dieselbe entlang zu bewegen. Was man mit dem richtigen Chef so alles erreichen konnte.
Nach fast genau einer Stunde abladen und neu beladen durfte ich wieder los. Die Sonne stand entsprechend schon ziemlich tief. In der Zwischenzeit hatte ich die Tagfähre nach Harwich gebucht.

Ich legte noch eine Pause bei Breda ein, weil ich verkehrsbedingt zu lange gebraucht hatte, aus Neuss an Mönchengladbach und Venlo vorbei zu kommen, um es in 4,5 Stunden zu schaffen. Gegen halb 1 kam ich in Hoek van Holland an und stellte mein Gespann neben einen Scania mit Holz. Da dieses Ungetüm bestimmt keine gedämmte Kabine hatte, war ich mit einem Holzlaster rechts zumindest das Risiko von Thermo King in Stereo schon mal los.

Bis morgens das allgemeine Treiben auf dem Parkplatz einsetzte, hatte ich wenigstens lange genug geschlafen. Ich ging duschen und frühstücken, dann hieß es immer noch warten. Die Fähre legte um 14:15 Uhr ab. Kurz vor 20 Uhr empfing mich dann britisches Wetter nach allen Klischees in Harwich.

Nachts gegen 3 war ich dann in Deeside an der Firma. Natürlich hatte ich kein Auto hier und musste mir zu nachtschlafender Zeit ein Taxi bestellen.Ich machte mich fertig fürs Bett und kam Luke quasi in der Schlafzimmertüre entgegen. Wir begrüßten uns nur mit einem flüchtigen Kuss. Ich war unvorbereitet in zwei Nachtschichten gestolpert und entsprechend platt fühlte ich mich.
Nachdem ich bis gegen 10 geschlafen hatte, machte ich mich bürofertig und fuhr mit ihm in die Firma.
Als erstes rief ich mal den Unglücksfahrer an: „Guten Morgen, Shawn. Wie geht es Dir?“ „Wieder gut. Du kannst mich einplanen.“ „Das meinte ich so nicht.“ „Aber ich. Am Montag gingen mir wirklich die Knie. Aber ich hatte gestern einen Tag frei, heute auch noch. Ich habe mich entspannt und will auch wieder fahren. Nicht zu lange warten.“
„Also gut. Wenn Du das sagst. Kannst Du Linkslenker?“ „Bisher nur mit einem Seat Ibiza im Spanienurlaub ausprobiert.“ „Ein MAN TGX wäre da ein Bisschen mehr Auto.“ „Ja, kriege ich hin. Hat man Dich damals noch mal in die Fahrschule für einen Rechtslenker geschickt bei BP?“ Okay, Angestellter 1, Chef 0. „Morgen früh los. Kleiner Umweg über Paris und Mannheim nach Bochum. Samstag mit dem Flieger zurück nach Manchester und nächste Woche wieder Plan.“
„Womit dann nächste Woche?“ „Mit dem XF 105.510, den Luke bisher hatte. Du bist als nächster für einen neuen Truck vorgemerkt. Merwyn will den DAF bis zum Ende behalten, Du warst mit dem DAF 106 theoretisch gut versorgt, deshalb hatte ich Luke vorgezogen und wollte eigentlich erst mal einen der beiden 600.000-Meilen-Trucks raus werfen und dann Alex einen neuen LKW geben. Wenn Du an der Reihe gewesen wärst, hättest Du von Kollegen hoffentlich schon mal Meinungen über die ganzen Marken gehört oder in dem einen oder anderen sogar mal auf einem Parkplatz drin gesessen.“
Der Rest der Woche verbrachte ich mit Büroarbeit. Weil es am Wochenende schlechtes Wetter gab, verschanzten Luke und ich uns mit einem dicken Kochbuch im Haus. Gemeinsam Kochen machte uns immer wieder Spaß.
Der Rest vom Oktober enthielt auch nicht viele Besonderheiten. Zweimal war Davey im Freudentaumel, als er am 18.10. den Führerschein C und am 28.10 auch noch CE bestanden hatte. Jetzt brauchte das Amt noch ein Bisschen Zeit, um die Fahrerkarte zu erstellen und dann sollte er Mitte November wie geplant Jeremy ersetzen. Bis dahin fuhr er bei Alex oder Shawn mit.
In der Woche ab dem 31.10. wurde ich dann unruhig. Das lag daran, dass wir vom 4. bis zum 7. November unsere Junggesellenabschiede feiern wollten. Und das war in der angelsächsischen Tradition eine sehr anrüchige Sache. Organisiert von den jeweiligen Trauzeugen war das ganze meistens eine Reise mit Party mit Eskapaden rund um den Alkohol, dem Besuch bestimmter Etablissements und auch dort den entsprechenden Eskapaden. Wobei ich nicht wusste, wie gut sich Timo auf seine „Rechte und Pflichten“ überhaupt vorbereitet hatte. Und auf solche Aktionen konnte ich ohnehin ganz gut verzichten.
Das ganze hatte bei den Briten und Amerikanern den Beinamen „letzte Gelegenheit zur Untreue“ und ich hatte keine Zweifel, dass Luke das auch umsetzen würde. Dazu kannte ich ihn gut genug. Und auch wenn er mich ebenfalls gut genug kannte, um zu wissen, dass mir das nicht so gut gefiel, würde er sich davon nicht abbringen lassen.
Und am Donnerstag war es morgens dann so weit. Luke wurde von seiner Truppe in zwei Autos abgeholt. Neben Trauzeuge Keith war auch sein Cousin Ben dabei, der nun doch Heimaturlaub hatte. Die anderen zwei erkannte ich noch als welche seiner verrückten Fußballfreunde von der Cardiff Soul Crew, aber sie waren nun einmal nach wie vor seine besten Freunde außerhalb dessen, was mit Arbeit zu tun hatte.
Bei uns reichte ein Auto und es ging zur gleichen Zeit los, es war nur ein Gast. Dass Timo so gut getroffen hatte, war aber schon mal eine Überraschung. Martin war Mitglied im hiesigen Modelleisenbahnverein, mit dem ich mich bestens verstand und eine nette Freundschaft in unserer Freizeit begonnen hatte. Kleine Gruppen waren inzwischen normal, deuteten aber darauf hin, dass das Ziel des Trips nicht um die Ecke war. Außerdem war ein großer Freundeskreis in unserem Beruf sowieso nicht zu unterhalten. Martin war der einzige gute Freund außerhalb der Arbeit. Und die Arbeit wollte ich über Timo hinaus bei diesem Wochenende sowieso nicht durch anwesende Personen dabei haben. Ich konnte nur Autorität gegenüber eigenen Leuten und Seriosität gegenüber Kooperationspartnern einbüßen.
Und auch wenn ich zu Lukes Verdruss inzwischen meinen wahren Verein im britischen Fußball gefunden hatte, nachdem Cardiff wohl immer mehr ein ihm Nachlaufen gewesen war, hatte ich da noch keine Freunde gefunden. Ich war aber einem Fanclub beigetreten und nur deshalb hatte ich es immerhin schon mal ins Stadion geschafft.
„Wie bist Du eigentlich auf Martin gekommen?“ „Du stehst ja auf der Website vom Verein. Und dann habe ich einfach mal den Vorstand gefragt und die haben mir gesagt, dass ihr zwei untrennbar seid. Wir treffen aber unterwegs noch einen Teilnehmer, der mir mehr Detektivarbeit abverlangt hat.“ „Na da bin ich mal gespannt.“
Erst mal wurden wir aber die andere Gruppe nicht los. „Ihr habt Euch aber hoffentlich abgesprochen, dass wir nicht das gleiche Ziel haben?“ „Ja. Nur die Anreise haben wir nicht gut genug koordiniert und gestern festgestellt, dass wir innerhalb von 10 Minuten am gleichen Terminal starten.“ Wir fuhren zum Flughafen nach Manchester und blieben auch im Sicherheitsbereich noch in der Nähe.
Dann wurden unsere Flüge gleichzeitig zu benachbarten Gates aufgerufen. Lukes Truppe wollte also nach Ibiza, bei uns hieß das Ziel Athen. Weil Timo es vermied, mir den Bordpass zu zeigen, hatte ich keine Ahnung, ob das auch das Ziel war. Luke war jedenfalls darüber belustigt: „Timo! Ich weiß, dass er alte Gemäuer mag. Aber das ist nicht das richtige Konzept für einen Stag Trip!“ Timo nickte nur mit Pokerface.
In Athen stand dann mal fest, dass es nur eine Zwischenlandung war, der Anschluss ging nach Mykonos. Und der letzte Gast, mit einem anderen Flug direkt nach Athen gekommen, ließ mich aus den Socken kippen: „Ruslan?“ Wir hatten uns immer mal informiert gehalten. Er wusste, dass es mit Chris in die Brüche gegangen war, dass ich eine neue Beziehung hatte und auch dass ich heiraten wollte. Er war mit seiner Familie in Ufa gelandet, der Stadt, in der er geboren und die ersten Jahre seines Lebens aufgewachsen war.
„Wie hast Du ihn denn gefunden?“ Ich hatte den Kontakt als privat betrachtet und seine Kontaktdaten nie ins System in Bochum eingegeben. „Dass Ihr sehr gute Freunde seid, hatte ich gemerkt, als Ihr Euch damals verabschiedet habt.“ Das war der Tag, wo ihn sein Vater in Bochum mehr oder weniger abgeliefert hatte und er theoretisch mit seinen Gedanken ganz wo anders gewesen sein sollte. Es war erstaunlich, mit wie viel Aufmerksamkeit fürs Detail Timo dieses Wochenende vorbereitet hatte. „Dann habe ich mir in Truckspotterforen die Finger wundgeklickt nach diesem Scania, bis ich einen Namen vom Besitzer hatte. Und wie ich ihn in Russland gefunden habe, kann ich nicht drüber reden. Ich sage nur ein Diplomatenkind hat Diplomatenfreunde.“
Tagsüber machten wir wirklich Sightseeing, während ich doch den einen oder anderen Gedanken daran verschwendete, was wohl auf Ibiza gerade passierte. Bei unserem Reiseziel war aber auch klar, dass zumindest die Abende feuchtfröhlich waren. Und es ging gnadenlos in Schwulenbars. Ruslan fühlte sich da nur mäßig wohl, aber mit genug Alkohol ging’s. Und den vertrug er. Martin sprang zumindest darauf an, wenn er angeflirtet wurde, auch wenn er selbst mit einer Frau verheiratet war und seit ein paar Monaten eine Tochter hatte. Timo und ich flirteten mit den Jungs in den Bars, was das Zeug hielt. Hier galt das Prinzip der Kölschrock-Band Die Räuber: „Kucke darfste immer, awer aanpacke nit!“ Wobei, theoretisch würde auch das ja gehen.
Nach einer heißen Extraeinlage eines Strippers auf – ja auf! – unserem Tisch, nachdem herausgekommen war, dass wir eine Junggesellenabschieds-Gruppe waren, fasste ich den immerhin so sehr an, wie es erforderlich war, um ihm einen Geldschein als Trinkgeld für die Nummer in den Bund seines Tangas zu schieben.
Und am Sonntag, dem letzten Tag vor der Abreise war es dann in einer Bar wieder einige Gläser zu spät geworden. Wir waren im Hotel zurück auf dem Doppelzimmer, das wir uns teilten und Timo wirkte irgendwie melancholisch. „Was ist?“ „Deutschland ist doch Mist!“ „Wie kommst Du jetzt da drauf?“ „In einer Woche bist Du verheiratet. So richtig, mit Kirche obwohl Homo-Ehe, die Unterschrift des Pfarrers ist rechtsgültig. Und sollte ich mal mit Ilarion den Schritt gehen, dann heißt es am Ende in einer schmucklosen Standesamtsstube „Sie dürfen jetzt Ihren eingetragenen Lebenspartner küssen.“
Wir fingen ein Gespräch über Toleranz auf beiden Seiten des Ärmelkanals an, das für unseren schon vorhandenen Pegel erstaunlich tiefsinnig war. Auf jedem Hotelzimmer hier stand eine 0,7er Flasche Wein, bei der allerdings das Preisschild einigen Mut verlangte, zum Korkenzieher zu greifen. Aber die öffneten wir, während wir philosophierten.
Am nächsten Morgen wurde ich spät wach. Timo lag noch in seinem Bett und schlief. Mein Kopf dröhnte, bei jedem Pulsschlag schien mir jemand mit einem Gummihammer auf die Stirn zu schlagen. Timo hatte gesagt, dass er unzufrieden war, dass die gleichgeschlechtliche Ehe in Deutschland nicht voran kam und wir hatten, obwohl wir schon genug getrunken hatten, die Weinflasche geöffnet. Der weitere Verlauf des so tiefsinnig begonnenen Gesprächs war nicht mehr vorhanden. Wann auch immer wir ins Bett gekommen waren, früher wäre besser gewesen.
Bei dem Restalkohol sollte man das nicht tun, aber ich kramte eine Kopfschmerztablette hervor. Ab und zu tauchte bei einem der Hammerschläge vor die Stirn ein Bild vor meinem inneren Auge auf. Sie ergaben aber keinen Film, erschienen mir auch teils zu unwirklich um wahr zu sein.
Das Zimmer war nicht verwüstet und ein weißes Huhn war mir auch keins begegnet. Aber trotzdem war ich mir noch nicht sicher, ob hinter dieser Badezimmertür doch ein Tiger sitzen könnte. Ich ging am Ende trotzdem ins Bad, ohne Tiger, schenkte mir aus der Mineralwasserflasche, mit der wir uns ob des in Mittelmeerländern meist recht fragwürdigen Leitungswasser die Zähne putzten, einen Schluck in das Zahnputzglas ein, riss den Beutel um die Tablette auf und schluckte sie runter. Dann machte ich den Mülleimer auf, um die Verpackung von der Tablette wegzuwerfen. In dem Mülleimer lagen zwei gebrauchte Kondome. Ich sprang mit einem Schrei zurück.
Durch meinen Schrei war Timo wach geworden und ins Bad gestürmt. Als er die zwei Hinterlassenschaften der letzten Nacht im Mülleimer fand, wurde auch er blass. „Bedeutet das, wir haben…“ „Keine Ahnung. Wenn gleich die Polizei hier rein stürmt und uns vorwirft, wir hätten Kit Harrington vergewaltigt, würde ich auch nicht widersprechen können. Ich habe überhaupt keine Ahnung, was heute Nacht passiert ist.“ Warum auch immer mir der Darsteller aus Game of Thrones als erster Promi in den Sinn kam, um mit einem skurrilen Gegenentwurf meine Ratlosigkeit zu überspielen. Immerhin sah er gut aus.
„Ich auch nicht. Wir sind zurückgekommen, haben das Schild „Bitte nicht stören“ raus gehängt, geredet und angefangen Wein zu trinken. Als nächstes werde ich von Deinem Schrei wach und stürme ins Bad. Aber das besagte Schild an der Klinke spricht gegen Deine Theorie mit Promibesuch, besonders weil es immer noch da hängt. Wie geht es denn jetzt weiter? Zwischen Luke und Dir? Zwischen Ilarion und mir? Zwischen uns beiden?“ Timo war verzweifelt, während ich nach dem ersten Schreck überraschend abgeklärt war. Also schob ich ihn zu den Sesseln, in denen die Nacht ihre folgenschwere Wendung genommen hatte.
„Das wird besonders zu Anfang vielleicht schwer fallen, aber es geht weiter wie bisher.“ „Das soll funktionieren? Ich soll Dich nach dieser Nacht eine Woche später zum Altar führen und danach wieder mit Ilarion auf Tour gehen und ins Bett steigen, als wäre nichts gewesen?“ „Ja! Wir raten ja nur rum, was passiert ist. Wir haben das, was man wohl als naheliegendste Antwort annehmen muss, aber nicht gemacht, um irgendwen absichtlich und mit klarem Kopf zu betrügen. Und es kann immer noch genug andere Erklärungen geben, die sich uns in diesem Zustand nicht erschließen.“ „Du hast leicht reden. Verglichen damit, was alles an diesem Wochenende auf Ibiza passiert ist, hast Du doch auch nur Deinen letzten Seitensprung gemacht.“ Das war eine Breitseite aber bestimmt keine im Angriff. Timo war eher so sehr in den Verteidigungsmodus geraten, dass er auf Freund und Feind schoss, sobald sich nur was bewegte.
„Liebster Timo!“ Die Betonung, die ich da rein legte, war alles andere als lieb. „In dem Punkt mit Ibiza magst Du Recht haben. Vielen Dank für die Erinnerung, fast hätte ich es verdrängt.“ Er merkte schon, dass er am Ziel vorbei geschossen hatte.
„Tut mir leid.“ „Mit dem Trauzeugen zu schlafen ist mal mindestens Level 2. Wenn ich es darauf angelegt hätte, hier noch mal mit wem anders ins Bett zu springen, dann hätte ich dafür sicherlich einen der zig Jungs genommen, mit denen wir in der Bar geflirtet haben und wenn davon keiner angesprungen wäre, hätte ich mir auch noch so gerade eben einen Callboy leisten können! Ich werde mit Luke vor den Traualtar treten. Es wäre gut, wenn Du mich dort hin führst, auch wenn ich es Dir natürlich nicht vorschreiben kann. Aber wenn Du abspringst, dann wirft das nicht nur Fragen auf, es beantwortet sie gleich mit.
Wie Du mit Ilarion umgehst, kann ich nicht entscheiden. Aber wenn Eure Liebe stark ist, wird sie es überstehen. Egal ob Du es für Dich behältst oder irgendwann doch mal beichtest. Was wir beide aus der Nacht mitnehmen sollten, ist, dass wir unser Limit kennen und nicht überschreiten sollten. Wir fallen beide nicht um und pennen ein oder hängen uns übers Klo und kotzen uns die Seele aus dem Leib, was weiteren Unsinn verhindern würde. Bei uns macht der Körper normal weiter, ohne dass der Verstand noch mitbekommt, was der Körper gerade so alles anstellt.“ Timo war auch gut in Vergleichen mit Game of Thrones: „Ja. Und wenn man erst mal Gregor Clegane volltrunken provoziert hat, wird man sich wünschen, man wäre nur mit seinem Kumpel ins Bett gesprungen.“
Und damit hatte er den Kern erfasst. Da ich mir in meinem Leben selten dermaßen die Kelle gegeben hatte, war mir das bisher auch nicht so wirklich bewusst. Einmal hatte ich mich auf einer Klassenfahrt abgeschossen. Die Geschichten, die man sich danach über den Unsinn erzählte, den ich gemacht hatte, hatte ich eher für Verarsche gehalten. Seit heute Morgen war ich geneigt, sie zu glauben. Das zweite Mal war in Bremen auf der ersten Tour ohne Chris und da hatte ich knapp vorm Filmriss aufgehört und das dritte Mal war gerade vorbei.
Nachdem jeder von uns eine ausgiebige Dusche genommen hatte, war die Frühstückszeit durch und wir mussten langsam mal auschecken. Da ich ohne Frühstück nur ein halber Mensch war, ließ ich das Taxi unterwegs anhalten und kaufte mir dort in einer Bäckerei was. Timo nahm die Gelegenheit auch dankbar an. Und als wir am Flughafen die Wartezeit totschlagen mussten, kauften wir noch was Spezielles zum Anziehen.
Ruslan hatte in Athen einen Anschlussflug nach Düsseldorf. Er war zwar nicht besonders heimisch im Sauerland geworden, aber als Erwachsener hatte er doch ein paar Freunde gefunden, die er besuchen wollte. In Russland waren gerade Herbstferien, weshalb seine Familie auch nach Deutschland kam. Und für kommenden Samstag wollte er dann natürlich kurzfristig mit Familie zur Hochzeit kommen. Da sie alle aufgrund einer Sonderregelung für Russlanddeutsche auch einen deutschen Pass hatten, obwohl beide Länder eigentlich keine doppelte Staatsbürgerschaft erlaubten, brauchten sie kein Visum für die Einreise nach Großbritannien.
Wir flogen zurück nach Manchester und fuhren wieder nach Deeside. Luke war schon wieder zurück, Keith noch da, er blieb wie Timo ohnehin die Woche über in Deeside. Wir hatten unsere Neuanschaffungen unter den Sweatjacken. „Na, wie war die Akropolis?“ Mir war klar, dass Luke mit dieser plumpen Frage mich zum Erzählen bringen wollte, bevor ich ihn fragte, was er erlebt hatte. Wäre ich auf Erholungsurlaub in Athen gewesen, würde ich wahrscheinlich von alten Gemäuern zu schwärmen anfangen.
Ich machte einfach, während ich meine Jacke aufhängte den Reißverschluss vom Sweater auf und drehte mich um: „Keine Ahnung.“ Der an sich ziemlich abgedroschene und bei einer für ihre Kasinos bekannten Stadt in den USA geklaute Spruch „What happens in Mykonos stays in Mykonos!“ verfehlte seine Wirkung nicht. Als die Insel anfing, sich als schwul-lesbisches Urlaubsparadies zu etablieren, lebte die Zielgruppe in den meisten Ländern Europas noch im illegalen Untergrund. Den Vorsprung hatten andere Ziele nie aufholen können. Die „Infrastruktur“ für mein Nachtleben war also auf jeden Fall besser als Lukes gewesen. Entsprechend blass wurde er.
„Oookay. Keith, Timo – ich denke, Ihr habt für Samstag alles im Griff?“ Ein eleganter Themenwechsel ging anders. Zumal beide breit grinsend nur nickten. Timo wahrscheinlich erleichtert darüber, dass Luke sich nicht lange mit dem Gedanken aufhielt, was denn nun genau in Mykonos passiert sein könnte und Keith, weil er bestimmt wusste, was alles auf Ibiza passiert war und nun sich die Häme nicht ganz verkneifen konnte, dass ich sehr offensichtlich nicht auf einer Bildungsreise gewesen war.
Über die Woche hatten Luke, Timo, Keith und ich frei und kümmerten uns noch um das eine oder andere. Im Laufe des Freitags trudelten dann wohl die Gäste nach und nach am Hotel ein, wo auch die Feier sein sollte. Von den deutschen KFL-Fahrern bekam ich mehr mit, weil die ihre Zugmaschinen auf dem Firmenhof abstellten. Auch wenn ich selber nicht in der Firma war, tauchten sie doch im Straßenbild von Deeside auf und der eine oder andere begegnete mir auf einer Besorgungsfahrt.
Wir hatten für die Nacht vor der Hochzeit geknobelt, wer in ein Bed & Breakfast ziehen „musste“, denn traditionell verbrachten wir diese Nacht nicht zusammen. Luke zog also mit Keith aus, Timo blieb mit mir in unserem Haus.
Der große Tag war am 12.11. Am Morgen hieß es, Anzüge anzuziehen. Timo bändigte dazu seine inzwischen doch ziemlich wilde Löwenmähne in einem Haarknoten, um für etwas optische Ordnung auf dem Kopf zu sorgen. In Deutschland wäre das als „Asi-Frisur“ auf einer Hochzeit ein Fauxpas. Aber in Großbritannien war sie dank des bestbezahlten Fußballers des Landes salonfähig und wurde gerade in Wales entsprechend gerne „Gareth-Bale-Knoten“ genannt. Meine Krawatte hatte ich trotz zitteriger Finger wenigstens gebunden bekommen, aber dass mir dabei der Kragen umgeklappt war, hatte ich in der Aufregung nicht gemerkt. Timo richtete mir die Kleidung.
Meine Eltern kamen ebenfalls zu unserem Haus. Ich sollte traditionell zusammen mit Trauzeuge und meinen Eltern in einer Limousine zur Kirche gefahren werden. „Unser Auto ist da.“ Und bei dieser Limousine blieb mir die Luft weg. Vor der Tür stand ein weißer Coleman-Milne Grosvenor mit schwarzem Vinyldach, diese nur 12-mal gebaute, gestreckte Limousine auf Basis des Ford Granada Mk1 Coupé, und wartete auf uns.
„Wie um alles in der Welt…“ Timo lächelte mich an: „Du hast Dir doch dieses Modell gewünscht.“ Hatte ich jemals Zweifel, ob ich Timo mit dieser Aufgabe überfordert hatte? Er hatte auf jedes noch so kleine Detail geachtet und versuchte es umzusetzen. Wir stiegen in das edle Fahrzeug ein und ließen uns zur Kirche fahren. Vor der Kirche musste ich dann feststellen, dass Timo wohl auch Luke zugehört und das Fahrzeug gleich mit organisiert oder Keith den entscheidenden Hinweis gegeben hatte. Denn er und sein Anhang stiegen gerade aus einem Coleman-Milne Warwick auf Basis Rover Montego.
Die Hochzeitszeremonie selbst war dann gleichberechtigt geplant. Es sollte niemand in der Kirche auf den anderen warten. Wir gingen also gleichzeitig zu Jeremiah Clarkes Prinz-von-Dänemark-Marsch in die Kirche, begleitet von unseren Trauzeugen und Eltern. Der Hochzeitsmarsch von Mendelssohn war uns bei der Planung zu abgenutzt erschienen. An die klassische Alternative von Richard Wagners Brautmarsch hatten wir erst gar nicht denken wollen.
Auch eine Menge Gemeindemitglieder war dem Ruf der Kirchenglocken gefolgt und so war die Kirche ziemlich voll. Der Pfarrer hieß die Gemeinde willkommen und leitete die Zeremonie ein: „Willkommen liebe Gemeinde in der Rivertown Church zur Hochzeitszeremonie für Eric Kaiser und Lucas Leighton. Wir haben erkannt, wie sehr Gott uns liebt, und wir glauben an seine Liebe. Gott ist Liebe, und wer in der Liebe lebt, der lebt in Gott und Gott lebt in ihm.“
Da die moderne Kirche auch mit weltlicher Musik keine Probleme mehr haben sollte und diese hier es definitiv nicht hatte, hatten wir uns eine kleine Herausforderung für den Organisten einfallen lassen. Das waren in den Kirchen hierzulande aber oft verkannte Talente als Arrangeure. Und so hatte er aus Boyzones „Love will save the Day“ ein sich steigerndes Orgelstück gemacht, das sehr dezent anfing, aber sich Register für Register aufbaute und ziemlich episch endete.
„Wir sind heute vor Gott zusammen gekommen, um die Hochzeit von Eric Kaiser und Lucas Leighton zu bezeugen, mit ihnen diesen Schritt zu feiern und in unsere Gebete einzuschließen. Wir wurden geschaffen als Wesen Gottes und die Ehe ist ein Geschenk Gottes an seine Schöpfung.“ Die noch einige Zeilen längere Einleitung ging quasi nahtlos über in ein Gebet.
Anschließend folgte eine biblische Lesung. Etwas provokant hatten wir uns Hohelied 7, 10-13 ausgesucht: „Ich bin meines Geliebten und nach mir ist sein Verlangen. Komm, mein Geliebter, lass uns aufs Feld hinausgehen, in den Dörfern übernachten. Wir wollen uns früh aufmachen nach den Weinbergen, wollen sehen, ob der Weinstock ausgeschlagen ist, die Weinblüte sich geöffnet hat, ob die Granaten blühen; dort will ich dir meine Liebe geben. Die Liebesäpfel duften, und über unseren Türen sind allerlei edle Früchte, neue und alte, die ich, mein Geliebter, dir aufbewahrt habe.“
In der anschließenden Predigt ging der Pfarrer darauf ein, dass in der heutigen Welt die Liebe viel zu oft auf das Körperliche reduziert wurde. Und dass das als Vorurteil homosexuellen Männern noch viel mehr anhaftete. Dabei war Liebe doch einfach nur eine besondere Emotion gegenüber einer anderen Person, die Bereitschaft füreinander einzustehen und in letzter Konsequenz, sich das Versprechen zu geben, den zukünftigen Lebensweg gemeinsam zu beschreiten. Zwischen Mann und Mann in der heutigen Zeit genauso wie zwischen Mann und Frau.
Die Einleitung zum Höhepunkt der Zeremonie war in der Liturgie vorgegeben und die berühmte, eigentlich als erstes gestellte Frage oder wie hier eine Feststellung des Pfarrers, dass es keine kirchenrechtlichen Gründe gegen unsere Ehe gab. Wir hatten uns gegen die Frage an die Gemeinde entschieden: „Die beabsichtigte Eheschließung zwischen Eric Kaiser und Lucas Leighton ist nach den Vorgaben der United Reformed Church of Britain rechtzeitig bekanntgegeben worden und es wurde vor Beginn des Gottesdienstes kein Widerspruch erhoben.“
Diese Frage nach dem Segen der Gemeinde oder Einsprüchen vor der Zeremonie hatte heutzutage nur noch rituellen Charakter. Früher diente sie dazu, nach dem Kirchenrecht nicht statthafte Ehen zu verhindern. Klassisch weil entweder die Eheleute unwissentlich Halbgeschwister oder anderswie nahe Verwandte aus einer nicht legitimierten Affäre waren oder weil einer der Partner bereits verheiratet war.
Zwar würde auch ein Einspruch im Gottesdienst heute nichts mehr verhindern, da die Ehefähigkeit ohnehin im Vorfeld von der mit der Zeremonie betrauten Institution routinemäßig festgestellt wurde und sonst erst gar kein Termin angesetzt wurde. Aber sollte es dennoch passieren, würde es erst mal für Unruhe sorgen. Und so gut kannten wie die Gemeinde noch nicht nach dem halben Jahr. Zumal Luke ihr nicht einmal angehörte, da er die anglikanische Konfession hatte. Daher hatten wir die Variante gewählt, in der der Pfarrer nur noch bekanntgab, dass keine Einsprüche eingegangen waren.
Auch wir mussten, bevor wir heiraten durften, erst mal offiziell erklären, dass uns keine Gründe bekannt waren, die das verhinderten: „Und so fordere ich nun Euch, Eric und Lucas, auf, zu erklären, dass Euch keine Gründe vor dem Gesetz und Gott bekannt wären, die einer Eheschließung entgegen stehen.“
„Ich erkläre, dass mir keine rechtlichen Gründe bekannt sind, weshalb ich, Eric Kaiser, nicht mit Lucas Leighton verheiratet werden könnte.“ Luke wiederholte die gleiche Formel. Die Überleitung zum Höhepunkt der Zeremonie bildete ein Gebet um Gottes Segen für die Ehe.
Anschließend kamen die Fragen aller Fragen. Das Zeremoniell dürfte zu den meist falsch übersetzten in Deutschland gehören. Und nun gab es auch keinen Weg mehr um zweite Vornamen herum: „Eric Simon Kaiser, wirst Du Lucas Jacob Leighton zum Mann nehmen in christlicher Ehe? Wirst Du ihn lieben, trösten, ehren, und schützen, in Zeiten von Wohlstand und Gesundheit und in Zeiten von Sorgen und Leid? Und wirst Du ihm treu sein so lange Ihr beide leben sollt?“ „Ich werde!“
„Lucas Jacob Leighton, wirst Du Eric Simon Kaiser zum Mann nehmen in christlicher Ehe? Wirst Du ihn lieben, trösten, ehren, und schützen, in Zeiten von Wohlstand und Gesundheit und in Zeiten von Sorgen und Leid? Und wirst Du ihm treu sein so lange Ihr beide leben sollt?“ „Ich werde!“
Sowohl die Fragen als auch die Antwort in quasi allen englischsprachigen Hochzeitszeremonien benutzten „Will you…“ und die Antwort „I will!“, was aber entgegen manch eines Synchron-Drehbuchschreibers weder „Willst Du…?“ noch „Ich will!“ hieß, sondern eben „Wirst Du…?“ und „Ich werde.“
Bevor wir verheiratet waren, mussten aber noch mehr Leute zustimmen, angefangen mit unseren Familien: „Werdet Ihr, die Familien von Eric und Lucas, Euren Segen zu ihrer Ehe geben und werdet Ihr sie immer unterstützen und bestärken?“ „Wir werden!“
Anschließend ging die Frage an die Hochzeitsgesellschaft: „Werdet Ihr, die Freunde von Eric und Lucas, Euren Segen zu ihrer Ehe geben und werdet Ihr sie immer unterstützen und bestärken?“ „Wir werden!“
Auch an dieser Stelle war man allenfalls im Film verheiratet. In der Realität sahen wir uns nun an, nachdem bisher die Interaktion mit dem Pfarrer als der Vertreter Gottes auf Erden stattgefunden hatte und nahmen uns an den Händen. Es folgten nun die Eheschwüre: „Ich, Eric Simon Kaiser, nehme Dich, Lucas Jacob Leighton, zu meinem mir vermählten Ehemann. Gemäß Gottes heiligem Willen, zu haben und zu halten, von diesem Tage an, im Guten und Schlechten, im Reichen und Armen, in Krankheit und Gesundheit, zu lieben und schätzen, bis der Tod uns scheidet. Dies ist mein feierliches Versprechen.“ „Ich, Lucas Jacob Leighton, nehme Dich, Eric Simon Kaiser, zu meinem mir vermählten Ehemann. Gemäß Gottes heiligem Willen, zu haben und zu halten, von diesem Tage an, im Guten und Schlechten, im Reichen und Armen, in Krankheit und Gesundheit, zu lieben und schätzen, bis der Tod uns scheidet. Dies ist mein feierliches Versprechen.“
Anschließend übergaben unsere Trauzeugen die Ringe an den Pfarrer für den Segen: „Ewiger Gott, dessen Liebe uns alle umgibt, segne das Schenken und Erhalten dieser Ringe. Sie sollen Zeichen einer niemals endenden Liebe sein, schön, heilig und stark. Sie sollen Zeichen sein von Versprechen und Treue und an die Versprechen und Gelöbnisse, die heute gemacht wurden. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“
Nun steckten wir uns gegenseitig die gesegneten Ringe an: „Ich gebe Dir diesen Ring als Zeichen unserer Ehe. Mit meinem Körper verehre ich Dich, alles was ich bin, gebe ich Dir, und was ich habe, teile ich mit Dir, in der heiligen Liebe Gottes.“ „Ich gebe Dir diesen Ring als Zeichen unserer Ehe. Mit meinem Körper verehre ich Dich, alles was ich bin, gebe ich Dir, und was ich habe, teile ich mit Dir, in der heiligen Liebe Gottes.“
Anschließend bekamen wir vom Pfarrer den Segen als Paar, bevor er der Gemeinde die Ehe verkündete: „Eric und Lucas haben vor Gott und Euch erklärt, in christlicher Ehe zusammen zu leben. Sie haben sich einander Versprechen gegeben, haben ihre Ehe durch das Reichen der Hände und den Tausch der Ringe besiegelt. Ich erkläre sie nun zu Ehemännern, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Diejenigen, die Gott zusammengebracht hat, soll nichts trennen.“
Danach war dann auch der Moment erreicht, der im Film immer im Mittelpunkt der Zeremonie stand – der Kuss. Dazu setzte wieder Musik ein, für diesen Moment hatte Luke das walisische Traditional Calon Lân gewünscht.
Der liturgische Teil der Zeremonie endete dann mit der Fürbitte und dem Vaterunser. Allerdings gab es noch den sehr weltlichen Teil, dass die Hochzeit ins Kirchenregister eingetragen werden musste. Auf Anregung von unseren Trauzeugen Timo und Keith hatten wir hier mit Händels „Day by day we magnify Thee“ aus dem Dettinger Te Deum mal so richtig Pomp and Circumstance aufgetragen.
Der Gottesdienst wurde dann durch den Segen an die Gemeinde abgeschlossen und Widors Toccata aus der 5. Sinfonie begleitete den Auszug aus der Kirche.
Von der Kirche fuhren wir zum Hotel, wo auch die Feier stattfand. Keith sorgte noch schnell für ein Mittagessen im regulären Restaurant für die beiden Fahrer vom Coleman-Milne-Club. Wir hatten unsere Feier dann natürlich im großen Saal. Dadurch, dass es in Großbritannien keinen Polterabend oder eine ähnliche Feier vorab gab, waren die Leute, die man in Deutschland dazu eingeladen hätte, auch heute dabei. Das umfasste insbesondere Arbeitskollegen, Geschäftspartner und Vereinskollegen. Entsprechend groß war die Gesellschaft.
Wo man sich auf beiden Seiten des Ärmelkanals einig war, war der Ablauf der Feier. Es gab gutes Essen, Reden von Hochzeitspaar, dessen Eltern und den Trauzeugen, Spiele und witzige Auftritte von Freunden. Die Geschenke waren bisher allerdings sehr schmal ausgefallen, bis Keith sich bei der Band das Mikrofon des Sängers geben ließ.
„Lieber Luke, lieber Ricky. Wir haben uns gedacht, dass Ihr an Kleinkram inzwischen genug habt. Wir wissen aber auch, dass Ihr zur Miete wohnt und in den kommenden Jahren gerne etwas Eigenes hättet. Also haben wir Geld gesammelt und wollten Euch das gerne von den höchsten und royalsten Leuten überreichen lassen, die das Empire zu bieten hat. Leider haben sie alle abgesagt. Die Queen, Kate und William, Charles und Camilla, sogar Harry, der sonst keine Party sausen lässt. Insofern müsst Ihr nicht auf die Knie fallen, auch wenn Ihr es für die Fotoapparate gerne tun könnt. Man nennt ihn den echtesten Duke of Cambridge, der es in Wahrheit nicht ist. Hier ist Simon Watkinson.“
Er sah in der Tat aus wie Prinz William. Es gab landauf landab eine Menge solcher Doubles des Königshauses und es war nicht unüblich, sie auch zu Veranstaltungen wie privaten Feiern zu buchen. Er überreichte uns einen großen Scheck aus Pappe mit dem gesammelten Geld. Dann gab es natürlich Fotos von ihm mit uns und mit einigen Gästen. Lukes und meine Mutter und auch unsere Schwestern tanzten jeweils einmal mit ihm. Nach einer knappen Stunde verließ er wieder unsere Party.

