Kapitel 101 – Weihnachtsmann im Januar

Zu Weihnachten waren wir nach Cardigan zu Lukes Eltern und Schwester gefahren. Wir bekamen zur Begrüßung leckere ofenfrische Mincemeat Pies, die eine Eigenschaft mit einem Bayerischen Leberkäse teilten. Während in letzteren alles Mögliche außer Leber und Käse kam, war in einem Mincemeat Pie alles Mögliche außer Minze und Fleisch. Es war ein Gebäck gefüllt mit aus in Fruchtsaft eingeweichten Trockenfrüchten und Nüssen, Mincemeat Pies sind ein Süßgebäck. Die Zusammensetzung variiert von Hausfrau zu Hausfrau. „Minced“ kommt aus dem Mittelenglischen und heißt zerkleinert, weil die Früchte vorm Einweichen in sehr kleine Stücke geschnitten werden, so dass das Endergebnis für die Füllung mehr eine stückige Paste aus nicht mehr als solchen erkennbaren Trockenfrüchte ist. Hackfleisch wird genau deshalb in britischem Englisch als „Minced Meat“ bezeichnet und nicht wie im amerikanischen als „Ground Meat“.

Wir verbrachten nach dem doch insgesamt recht stressigen Jahr mit dem 23. und 24. zwei ruhige Tage in West Wales. Luke nahm mich mit zu zwei oder drei Besuchen bei alten Freunden aus seiner Jugend, die ich auch schon von früher kannte. Ansonsten ließen wir uns den kalten Wind um die Nase wehen, so lange das noch als gemütlich zu bezeichnen war, denn für die Feiertage gab es eine Sturmwarnung. Kurz vor Mitternacht am 24. ging ich mit Luke und Familie in die anglikanische Mitternachtsmesse.

Am 25. gab es dann in britischer Tradition morgens die Geschenke. Wobei ich nur eins von allen zusammen bekam und das war auch noch in einem Briefumschlag. Luke hielt die Überreichungsrede: „Ich weiß, dass Eishockey bei Dir über Fußball steht und ich weiß, dass es neben den Kölner Haien eine zweite große Liebe in diesem Sport bei Dir gibt. In dem Land, in dem Eishockey auch insgesamt über Fußball steht. Hier ist das Rundum-Sorglos-Paket.“
„Ihr seid doch verrückt!“ In dem Umschlag waren Flugticket, Hotelbuchung und ein Ticket für eine durchaus sehenswerte Partie „meiner“ Philadelphia Flyers. Luke bekam von seinen Eltern das gleiche Paket, nur die Eishockey-Karte fehlte. Er konnte mit dem Sport ungefähr so viel anfangen wie ich mit Rugby. Da er nicht wirklich überrascht war, schien er in die Organisation tief genug verstrickt gewesen zu sein, um auch zu wissen, dass es eine Reise für uns beide war.

Apropos Rugby, Luke hatte schon angedeutet, dass er an passenden Wochenenden gerne mal wieder in den Parc Y Scarlets nach Llanelli fahren würde. Entsprechend bekam er von mir das aktuelle Trikot. Weil mir das ein Bisschen zu banal gewesen war, hatte ich es aber von unserem Nachbarn Jordan veredeln lassen. Da er immer noch den Zugang zum Team hatte, waren die Autogramme des aktuellen Kaders einschließlich Trainerteam drauf. Rugby war da erfreulich frei von irgendwelchen Allüren oder irgendwelcher Hektik. Da wurde so was noch schnell nebenbei erledigt, ohne nach den Warums zu fragen. Würde man als gesellschaftlicher Niemand versuchen, im Fußball einem Reporter ein Trikot zum Unterschreiben mitzugeben, hätte man keinen Spaß. Auch die übrige Familie bekam ihre Geschenke von uns.

Später dann stand erst einmal die Ansprache der Queen im Fernsehen auf der Agenda, abends das traditionelle Essen. Truthahn mit Yorkshire Pudding und Gemüse, hinterher mal nicht Plum Pudding sondern ein winterliches Trifle aus Gewürzkuchen, Beeren und Äpfeln in roter Götterspeise, der unvermeidlichen, hausgemachten Vanillesoße und Sherrysahne.

Weil der erste Feiertag auf den Sonntag gefallen war, gab es am Dienstag noch einen Ausgleichsfeiertag und bis dahin war auch der Sturm vorbeigezogen, der ohnehin nicht so stark wurde, wie vorher angekündigt. Also fuhren wir am Nachmittag zurück nach Deeside. Hier wartete nun am Mittwoch und Donnerstag aber eine Menge Arbeit auf mich. Erst einmal holte ich beim KFZ-Zubehörhandel den bestellten Kanister 0W-30 Motoröl mit Freigabe von DAF und ernstzunehmende Winterreifen ab, dann nahm ich mir Alex‘ XF vor, der in den kommenden Wochen meiner werden sollte.
Erst einmal wechselte ich die Reifen von Hybridprofil, das hier auf der Insel und weiten Teilen Kontinentaleuropas völlig ausreichte, auf ein echtes Winterstollenprofil. Dann ließ ich das Kühlwasser ab und füllte neues mit Frostschutz im für Großbritannien sehr ungewöhnlichen Mischungsverhältnis 1:1 ein. Danach durfte er warmlaufen. Dabei konnte ich gleich Kühlwasser nachfüllen, wenn größere Luftblasen im System verdrängt wurden und der Spiegel im Ausgleichsbehälter absackte. Auch das Scheibenwaschwasser musste dran glauben, hier kippte ich gleich reines Konzentrat rein. Und dann war das Motoröl dran. Was eine flüssige Suppe das neue war. Das bedeutete in Mitteleuropa den Motor nicht zu stark fordern, jedenfalls nicht, wenn es wärmer wurde. Aber die Langzeitprognosen auf den Wetterseiten blieben einstellig, dann sollte sich das ausgehen. Nun war der Truck frostsicher bis -35 Grad. Sollte es unterwegs kälter werden, musste der Motor eben die Pause durchlaufen.
Dazu packte ich einen leeren 20-Liter-Kanister in die Halterung, den wir aber erst dort auffüllen wollten, wo es auch ernsthaftes Winterdiesel gab. Die Brühe, die ich hier oder in Deutschland kriegen konnte, würde im Zielgebiet zu Kerzenwachs.

Und gerade als ich die Motorklappe wieder geschlossen hatte, sah ich ein Auto auf den Hof einbiegen. Zu meiner Überraschung saß nicht nur mein Beifahrer der kommenden Tour drin, sondern auch mein angestellter Lagerarbeiter auf dem Beifahrersitz. „Hallo Dimitri! Hallo Rafal! Was machst Du denn hier?“ „Helfen. Wir studieren zusammen. Was denkst Du, wie er auf unsere Firma gekommen ist, als der Miettruck geplatzt ist?“ „Ach, Dir verdanke ich also dieses im Wortsinne dunkle Kapitel Firmengeschichte?“
Zu dritt ging es nun also recht flott, die Ladung auf dem Trailer zu verstauen. Die meisten Paletten enthielten Baustoffe, konkret Dämmplatten, Innen- und Außen-Wandfarbe, Bodenfliesen, Wandfliesen, Dachpappe. Dazu ein freistehender Kühlraum aus Metallelementen, den man in einem großen Raum aufstellen konnte, ein Großküchenherd, der passende Backofen, Spüle und Arbeitsfläche aus Edelstahl, Großküchenschränke und eine Industriespülmaschine. Diese Sachen waren in den letzten Tagen vor Weihnachten von einer Armee Kleintransporter hier abgeliefert worden, teils aus entfernten Landesteilen wie Schottland und Devon. Und auch wenn die Baustoffe und Geräte am dringendsten gebraucht wurden, emotional besonders wichtig waren die beiden Paletten mit Spielzeug, Kleidung und Süßigkeiten.

Am Donnerstag kam noch der Zoll, ging mit Dimitri und mir den ganzen Trailer durch. Schließlich durfte ich den Trailer verschließen, der Zöllner zog sein amtliches Drahtseil durch die Schnellverschlüsse des Curtainsiders und die Riegel am Heck und clipste die Enden mit seinem Zollsiegel zusammen. Da Duncan in den letzten Jahren nie die EU verlassen hatte, hatte ich erst mal eine TIR-Tafel kaufen müssen und improvisierte sie an die Front. Aber weil „Brexit Brexit bedeutet“, würde hierzulande wahrscheinlich die Nachfrage nach TIR-Tafeln in den kommenden Jahren dramatisch ansteigen. Ich war gespannt.
Dimitri packte gleich eine Tasche mit Kleidung und Toilettenartikeln in den LKW, damit er am Montag mit leichtem Gepäck nach Deutschland anreisen konnte. Ihm gefiel besonders die Front: „12 Scheinwerfer, das ist gut. Es wird eine finstere Tour.“ Und auch er hatte sein obligatorisches Fahrerschild mitgeschleppt. Jeder, der irgendwas über 7,5 Tonnen fuhr, schien so ein Teil zu haben. Aber da ich auch keine Ausnahme war, nahm ich es nur mit einem Grinsen zur Kenntnis.
Ich durfte noch mal kräftig fluchen, denn wie auch der nur noch sporadisch als Haie-Spieler eingesetzte, tatsächliche Marcel Ohmann war auch meine Tour-Tasse mit seinem Portrait beim Einräumen der Fahrerkabine am Boden zerstört. Sie fiel schlicht und einfach runter und verteilte sich in Scherben auf dem Hallenboden. Also durfte ich die Brösel wegfegen, bevor sie sich in einen Reifen bohrten und die Bürotasse als Ersatz holen.

Ein anderes Zubehör von Dimitri wunderte mich dann doch: „Was hast Du mit der Dashcam vor?“ „Die braucht man in Russland. Und wir mit einem ausländischen Fahrzeug ganz besonders.“ „Warum?“ „Zur Sicherung der Beweislage.“ „Was?“ „Sollten wir schlimmstenfalls einen Unfall haben, dann hat in Russland oft der Recht, der bei der Unfallaufnahme der Polizei die besseren Argumente liefern kann!“ Er deutete mit den Fingern das Zählen von Geldscheinen an. „Außer der Beschuldigte kann mit einem Video das Gegenteil beweisen, dann sind die Beamten plötzlich unbestechlich. Denn vor Gericht zählt das Video mehr als ihre Aussage. Und das gleiche gilt, wenn sie aus heiterem Himmel behaupten, Du hättest jemanden geschnitten, abgedrängt oder genötigt, um eigentlich nur die Strafzahlung selber einzusacken. Was denkst Du denn, warum es so viele Videos von Unfällen aus Russland mit Dashcams im Internet gibt? Das ist nicht, weil die Russen so schlecht Auto fahren. Das kommt einfach daher, weil über 90% aller Russen eine Dashcam haben, um sich gegen korrupte Polizisten zu wehren und deshalb quasi jeder Unfall zwischen Kaliningrad und Wladiwostok von irgendwem auf Video aufgezeichnet wird und auf Youtube landet. Ich habe schon Kompilationen gefunden, wo der gleiche Unfall aus der Sicht von Opfer, Verursacher und Zeuge zu sehen war, weil alle drei eine eingeschaltete Dashcam hatten.“
Ich pappte das Gerät also schon mal am Saugnapf an die Scheibe, sie würde immerhin ein schönes Fahrtprotokoll aufnehmen, bis wir sie an der Grenze nach Russland ihrer eigentlichen Verwendung zuführen mussten. Am frühen Nachmittag dann setzte ich mich mit dem DAF Richtung Hull in Bewegung, Luke im für den Winter besser geeigneten Range Rover. Das Land wollte das Jahr 2016 wohl mit Klischeewetter verabschieden.

Wir setzten mit der Fähre über und am nächsten Morgen ging es zwischen 8 und halb 9 im Europoort weiter. Kurz vor Oberhausen wurde meine 45er fällig, danach fuhr ich weiter und stellte den LKW am Nachmittag auf einem Platz in Marsberg ab, wo mich Luke abholte.

Nach deutscher Übersetzung „Die Durchführung des TIR-Transports hat unverzüglich zu erfolgen“ dehnte ich gerade das Verfahren ziemlich, den Lastzug einfach mal 2 Tage in die sauerländische Pampa stellen. Notfalls stellte ich mich vielleicht dumm und holte die englische Fassung hervor. Da stand „Discharge of a TIR operation has to take place without delay.“ Und alle Übersetzungen von „Discharge“ zielten auf den Entladevorgang ab. Vielleicht waren die Behörden ja auch noch im Neujahrsurlaub und wir kamen sowieso ungeschoren bis nach Hamburg auf die direkte Route. In den Papieren stand nur drin, dass es über die Niederlande und Deutschland ging. Die wurden erst an der wirklich interessanten Grenze konkreter.

Wir feierten mit meinen Eltern und meiner Schwester samt Familie Neujahr.


Montag, 02.01.2017

Dimitri wollte mit dem Zug um kurz nach 10 Uhr ankommen. Er war am Vorabend um 22:35 Uhr in Düsseldorf gelandet und hatte dort im Hotel geschlafen. Meine Schwester fuhr mich zum Bahnhof, wo wir Dimitri einsammelten und dann zum LKW fuhren. Luke war zu Fuß zum LKW gekommen, ich stellte Luke und Dimitri einander vor.
Dann inspizierte ich den LKW genau. Dass er die Neujahrsnacht heile überstanden hatte, dass die Planen noch in Ordnung waren und sich auch sonst nirgends jemand eingenistet hatte, der hoffte, so auf die Insel zu kommen, die nicht mal Ziel war. Es war aber alles in Ordnung.
Schließlich verabschiedete ich mich von Luke und wendete mich meinem Beifahrer zu. „Okay, Dimitri.“ „Sag lieber Dima. Ist kürzer und klingt freundlicher.“ „Klingt irgendwie immer ungewohnt, die russischen Spitznamen.“ „Ja. Habe schon öfter gehört, sag ruhig, dass das für Westeuropäer weiblich klingt. Ist aber so. Dimitri – Dima. Konstantin – Kostja. Alexander – Sascha.“ „Dann kannst Du auch Ricky zu mir sagen. Wie Du Dir sicher denken kannst, fahre ich erst mal. Gerade bei dem Wetter.“ Der Winter war hereingebrochen.

Wir stiegen ein und fuhren trotzdem noch nicht los. Die Bremse verlangte nach Luft und ich hatte natürlich den Motor bei der Abfahrtkontrolle im Land der unmöglichen Begrenzungen nicht laufen lassen. Als der Druck ausreichte, löste ich die Handbremse und brach zur heißen Phase der spannendsten Tour seit Jahren auf. Dima begann, sich in seiner Hälfte vom Fahrerhaus auszubreiten. Langsam wurde es voll auf der Ablage.

„Nicht hier drin, bitte!“ kommentierte ich seine Zigarettenschachtel. „Schon klar. Ich will sie mir nur nicht platt sitzen.“ „Und die Tasse ist vom falschen Hersteller!“ „Die ist ein Geschenk von unserem Händler. Kann ich nichts für, dass meine Eltern nur da kaufen. Fußballtasse habe ich lieber im Büro gelassen und mit DAF kann ich nicht dienen.“ „Was bist Du für ein Fan?“ „Tranmere Rovers.“ Das war der Verein aus Birkenhead, wo er wohnte, ein Fünftligist. Er hatte es entsprechend zaghaft gesagt. „Na und? Cool dass Du zu Deiner Heimatstadt hältst und nicht einen Erstligisten suchst.“

Ein sperriges Stück, das Dima aus seiner Tasche geholt hatte, wunderte mich auch. „Und was willst Du mit dem Atlas?“ „Auf ein Navi würde ich da oben nicht mehr setzen. Erstens kann es gut sein, dass Du so weit im Norden nicht mal mehr genug Satelliten für einen Satfix zusammen kriegst und zweitens sind hier drin die Straßen auf Befahrbarkeit bei verschiedenen Wetterlagen kommentiert.“

Als wir den Harz hinter uns gelassen hatten, schlug das Wetter in Regen um. Und bei Soltau sah ich dann im Rückspiegel, worauf ich gerne verzichtet hätte. „Immerhin Soltau. Ich dachte, wir kommen gar nicht so weit, bevor wir auffallen.“ Der VW Bus des BAG setzte sich wie erwartet vor uns und der Lauftext sprang an. „Bitte folgen!“ Wir wurden auf den Autohof Soltau Süd gelotst.

„Michael Fiedler, BAG. Meine Kollegin Caroline Knopp. Sprechen Sie Deutsch?“ „Ich ja, aber er nicht. Bitte Englisch.“ Ich zeigte auf Dima, er wechselte die Sprache. „Okay, dann fangen wir mal mit dem üblichen an. Die Frachtpapiere einschließlich Carnet TIR, Fahrzeugpapiere, Fahrerkarten bitte.“ Wir überreichten die Papiere. „Baustoffe, Elektrogroßgeräte, Möbel. Das ist laut Papieren ein Hilfstransport?“ „Ja.“ Dima erklärte Caroline Knopp wo es hin ging und wo die Sachen her kamen.
Ich schaute inzwischen Michael Fiedler auf die Finger, während er den Digitacho in der Zugmaschine auslas und wieder deutsch redete. „Sonst ist ein anderer Fahrer auf dieser Zugmaschine?“ „Ja, der hat Urlaub.“ „Und Ihre eigene Zugmaschine?“ „Ich bin Geschäftsführer. Alles was ich mit meinem regulären Fahrzeug ziehe, sind Streifen auf dem Büroteppich.“ „Und der Kollege?“ „Nahverkehrsfahrzeug. Der Wagen hier hat bei uns die größte Kabine und ist deshalb für zwei Fahrer erste Wahl.“ Das war nicht gelogen, auch wenn Dimas normales Fahrzeug nicht unseres war. Rein rechtlich war er für diese Tour bei uns angestellt, das war auch sauber so. „Okay, leuchtet ein.“
Michael Fiedler nahm den gesamten LKW unter die Lupe, nach einiger Zeit wieder unterstützt von seiner Kollegin. Dank meiner ausführlichen Abfahrtkontrolle heute Morgen fand er nichts am Fahrzeug. Zumindest keine Unregelmäßigkeiten oder technischen Mängel. An der Front gab es aber genug zu finden. „8 Zusatzscheinwerfer sind nicht erlaubt. Das wissen Sie schon?“ „Nein? Sind sie nicht?“ Ich und mein großes Maul, aber dann jetzt konsequent frech weiter. Die beiden schienen sowieso recht umgängliche Zeitgenossen zu sein. „Nach StVZO maximal 2 Zusatzscheinwerfer zu den regulären. Und die sind bei DAF mit diesem Fahrerhaus schon fest eingebaut.“ „Ich wusste nicht, dass im Geltungsbereich der StVZO ein Kennzeichen mit der Kombination DJ13 SKG vergeben werden kann.“ Internationale Zulassungen waren immer spannend. Einerseits konnte ein Land nicht einfach etwas verbieten, was im Herkunftsland legal war, andererseits musste es natürlich verkehrssicher sein. Also war das Ermessenssache. Michael Fiedler lief rot an. „Entschuldigung. Wir reden ja auch doch deutsch, obwohl Ihr Kollege wieder dabei ist. Da habe ich vergessen, dass Sie ja in Großbritannien wohnen und arbeiten. Aber ist das nicht EU-Recht?“ „Scheinbar nicht, oder nicht richtig in nationales Recht umgesetzt. Seien Sie froh, dass bei uns wenigstens weiße Zusatzmarker an der Front verbaut sind. Gelb und sogar blau ist drüben auch erlaubt. Und Zusatzscheinwerfer beliebig viele, so lange sie die Vorschriften für Scheinwerfer einhalten.“ Sein Gesicht war unbeschreiblich.
Für den Passus beneideten uns fast alle Kontinentaleuropäer. Duncan hatte wohl weiße Frontmarker angebaut, um nicht dauernd auf dem Kontinent raus gezogen zu werden. Es war aber „any number of optional front markers with permanent light in any colour other than red“ erlaubt. Stobart-Fahrer konnten sich ernsthaft nachts an drei blauen Dauer-LED an der Fahrzeugfront erkennen und mir waren schon Fahrzeuge begegnet, die die Kühleröffnungen komplett mit blauen LED nachgezeichnet hatten. Wer das in Deutschland an seinen LKW baute oder einen LKW mit blauen Leuchten in Betrieb nahm, würde vermutlich bei einer Verkehrskontrolle gleich standrechtlich erschossen.
„Für den direkten Weg von Holland nach Dänemark sind Sie hier aber weit im Süden. Und die letzten 2 Tage hat der LKW gestanden, obwohl Sie keine Wochenruhe brauchten. Ich nehme an, wenn ich Ihren Geburtsort in Ihrem Reisepass und die Fahrzeiten sehe, dass er über den Jahreswechsel im Sauerland bei Ihrer Familie gestanden hat?“
„Ja.“ Was brachte es, um den heißen Brei herum zu reden? Die Fakten waren offensichtlich. „Es steht in den Bestimmungen zur TIR, dass der Transport unverzüglich erfolgen soll. Sie haben in Deutschland aber keinen vorgeschriebenen Korridor in Ihrem Carnet. Ihr LKW ist technisch nicht zu beanstanden. Zulassungsrechtlich wahrscheinlich auch nicht, auch wenn er mir aus deutscher Sicht nicht gefällt. Ich prüfe jetzt mal nicht das britische Zulassungsrecht. Es reicht mir schon, dass ich das niederländische, dänische, polnische und ungarische soweit kennen muss, um zu offensichtliche Dinge zu erkennen, die mir Fahrer aus diesen Ländern so jeden Tag auftischen. Sie sind der erste britische LKW seit Mai, den ich kontrolliere, das lohnt nicht. Das Jahr ist noch jung, es ist ein ruhiger Tag, Ihre Fahrt dient einer guten Sache und Sie waren freundlich und kooperativ. Sind Sie mit einer mündlichen Verwarnung einverstanden, unter TIR-Bedingungen die kürzeste Route verlassen und das Fahrzeug unnötig lange abgestellt zu haben?“ Na bitte. Wenn man die Ordnungskräfte vernünftig behandelte, dann behandelten sie einen auch so. Eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung gab es vor allem für rechthaberisches Herumbrüllen, wie ein inzwischen insolventer Spediteur aus erst Leipzig, dann Neuss und aktuell Hannover ausprobiert hatte. „Ja. Natürlich.“ „Dann gute Fahrt.“ Die beiden stiegen wieder in ihren Multivan und brausten auf die Autobahn, um den nächsten LKW raus zu fischen.

Dima fischte dagegen seine Zigaretten aus dem Fahrerhaus und zündete sich eine an. Wir gingen danach ins Rasthaus, um eine Kleinigkeit zu essen und zu trinken. Während wir da saßen, bretterte ein Scania über den Parkplatz. Aus dem Augenwinkel sah ich David Haider, hier oben in der Nähe von Hannover also wahrscheinlich einer von Patricks Schwachmaten. Wer so auf einem Parkplatz fuhr, hatte keinen Respekt verdient. Und Wechselklappen schienen sie immer noch zu haben, auch wenn die immer noch verboten waren und im Extremfall zu sofortiger Stilllegung des LKW wegen fehlender Zulassung, einer saftige Strafe ans Unternehmen und Schreddern des Führerscheins des verantwortlichen Fahrers führen konnten. Aber da machte komischerweise das BAG selten was. Gelbe Frontmarker oder 8 Fernscheinwerfer, die nur dann angingen, wenn man einen Extraschalter umlegte, waren ja viel gefährlicher.
Dima machte einen langen Hals, um die Geräuschquelle hinter ihm zu finden, war aber zu langsam. „Was war das?“ „Ein Scania V8 mit Wechselklappe.“ Dima verdrehte die Augen. „Typisch Scania.“ „Du fährst doch auch sonst einen Scania.“ „Ja, aber nicht so. Wir haben für Flüssiggas ganz neu einen P320 Hybrid und die übrigen Tanker für Gas und Öl sind noch vier P270 und P280 verschiedener Baujahre. Da wird nichts in der Hose dick von. Wenn Du mit dem Anhänger dran volle 29 Tonnen Heizöl beim Tanklager holst, zieht ‚er‘ sich eher zusammen bei der Leistung. Mit dem P320 könnte ich durch kein Geräusch angeben. Den fahren wir in Wohngebieten oft rein elektrisch ohne den Diesel mitlaufen zu lassen. Und wenn ich was ausgefressen habe, muss ich Kohle ausliefern. Da weiß ich nicht, ob die Strafe der Dreck ist oder der Cargo. Jedenfalls sehr unsexy Job.“ „Cargo?“ „Ford Cargo 813 Pritsche. Baujahr 88. Wir verkaufen zu viel Kohle, um aufzuhören, aber zu wenig, um einen neuen LKW für den Bereich zu rechtfertigen. Gibt im ganzen Großraum Merseyside nur noch 3 Kohlehändler.“

„Kümmern wir uns mal lieber um DAF. Handschalter am LKW kannst Du? Sonst ist jetzt ein sehr guter Zeitpunkt, es zu lernen.“ Wir stiegen wieder ein „Na ja. Der Cargo hat Handschaltung, aber nur 6 Gänge, die Scanias Automatik. In der Fahrschule hatte ich einen ERF ECT mit 8 Gängen und 2 Ranges.“ Ich erklärte ihm kurz, wie das ZF mit Range und Splitter zu bedienen war. „Schon mal Sattel gefahren?“ „Nein. Nur Tandem in der Fahrschule und gelegentlich Drehschemelzug bei meinen Eltern.“ „Okay, kein schlechter Anfang von der Gesamtlänge, aber Du musst weiter ausholen, beim Dreiachser Motorwagen hilft die Hinterachse beim Lenken mit, den Anhänger zu führen. Dieser Klotz zieht einfach nach innen. Bei den ersten paar Kurven schau lieber etwas mehr in den kurveninneren Rückspiegel.“
Dima ließ den Motor an und fuhr los. Noch etwas eckig um die Kurven bog er auf die Autobahn ein und brachte den Lastzug bei Regen und um die 4 Grad auf Reisetempo. Er sollte nun bis Puttgarden fahren.

Äußerlich hatte ich mir nichts anmerken lassen, das ging nach all den Christians, Timos und Daveys, die sich von Solofahrzeugen oder sogar direkt nach der Fahrschule neben mir ans Steuer eines LKW gesetzt hatten, schon. Ich wurde aber auch innerlich schnell ruhiger. Dima fuhr vernünftig und mit gut an die Sicht oder den Kurven in den Autobahnkreuzen um Hamburg angepassten Tempo.
Das schien der Fahrer des Kunstwerks auf einem Tieflader nicht hinbekommen zu haben, der uns entgegen kam. Es war nicht mehr erkennbar, um was für ein Fabrikat es sich gehandelt hatte, aber es war defintiv ein Fernverkehrs-Hauber gewesen, der Form der Felgen und dem langen Chassis nach was amerikanisches. Die Schlafkabine schien aber vom Trailer pulverisiert worden zu sein und die Motorhaube war Scharniere nach unten und Kühlergrill in den Himmel mit Spanngurten vor das gezurrt worden, was mal ein Motor gewesen war. Die Fahrertür war auch mit Spanngurten auf den Rahmen gezurrt. Offenbar hatten sie den armen Kerl mit Hydraulikspreizer und Flex aus dem Wrack geholt. Na hoffentlich am Stück. Das war der Haken in unserem Job. Einmal nicht aufgepasst, ein anderer nicht aufgepasst oder irgendwas am Fahrzeug gibt den Geist auf und schon sind 40 Tonnen außer Kontrolle. „Oha. Den hat’s erwischt.“ Auch Dima war der Haufen Altmetall also aufgefallen.

Wir erreichten Puttgarden und bekamen einen Platz auf der übernächsten Fähre. Die nächste war in 7 Minuten abfahrbereit und konnte niemanden mehr einchecken. Als wir aufs Schiff rollten, fuhr ein mir noch gut bekannter Scania R500 mit Talke-Trailer vor uns her.

Auf dem Schiff blieb Lennart bei uns stehen und wartete, dass wir ausgestiegen waren. Er hatte unseren LKW also auch erkannt. Er war der erste und bisher einzige Angestellte in Bochum, den ich persönlich kaum kannte. Okay, er war am Chiemsee gewesen und wir hatten da auch mal ein paar Worte gewechselt.
Ein ganz netter Kerl, Mitte 20 und hatte vorher einige Arbeitgeber verschlissen, bei denen immer was faul war. Er hatte jetzt aber nach etwas über einem halben Jahr das Gefühl, dass er „angekommen“ war.

In Dänemark fuhr ich weiter und wir hielten mit Lennart noch Funkkontakt, bis er nach Kopenhagen rein abbog, wo er morgen früh umsatteln musste. Danach rief ich Luke an, der auf der Kanalfähre war. Nachdem Dima vorhin russisch mit irgendwem telefoniert hatte, wahrte ich unsere Privatsphäre einfach, indem ich mit Luke walisisch sprach. Das schien Dima dem Gesicht nach zu überraschen und hinterher fragte er verwundert: „War das unverständliche eben Walisisch?“

Wir fuhren weiter über die Öresundbrücke und dort merkte ich, dass wir mal Transponder für das französische Telepeage und das dänische-schwedische Easygo, das zusätzlich in Norwegen funktionierte, in unsere Trucks einbauen sollten. Nur Tollcollect OBU hatte ich bisher einbauen lassen, seit wir Duncan übernommen hatten. Telepass für Italien oder das polnische Viatoll brauchten wir nicht unbedingt, da kamen unsere Trucks nie hin. Polen machte Scandinavia Express mit, wenn wir mal eine Fracht dorthin ergattern konnten. Die mussten öfter ins Baltikum und hatten deshalb die Dinger für Polen drin. Italien deckte Transalpin oder bei einem freien Zug KFL Bochum ab. Wenn es brannte und die Fuhre aus Zeitgründen nicht umgeladen werden durfte, hatten wir uns eine der übertragbaren Routex-Viacards von Duncan überschreiben lassen. Mit der konnten wir in Italien an der Viacard-Spur zahlen und die Maut wurde uns von BP zusammen mit der nächsten Abrechnung für alle Gruppentankstellen abgezogen.

Hinter Malmö machten wir schon wieder einen Fahrerwechsel. Ich hätte von der Zeit her weiter gekonnt, aber es drängte mich in die Fliesenabteilung der Raststätte. Also legte ich mich danach auf die untere Liege und ließ Dima weiterfahren. Wenn wir uns ranhielten, waren wir sogar zur Tagfähre in Stockholm. Auch wenn wir dann immer noch einen Platz drauf bekommen mussten, bevor die Freude komplett war. Aber je früher desto besser. Es würde noch zäh genug werden, bis wir ins Zielland eingereist waren. Von der dortigen Strecke dann nicht zu reden.


Dienstag 03.01.2017

Schließlich hielt Dima auf einem Rastplatz an. Ich wurde wach. „Was ist? Wo sind wir?“ „Braheshaus oder so ähnlich. Habe es mir nicht genau gemerkt.“ „Ach. Brahehus.“ „Ich bin zu müde und kann nicht weiterfahren.“ „Okay, ich denke, ich kann den Rest übernehmen. Habe noch über 3 Stunden Lenkzeit, unsere Schichtzeit geht bis mindestens 8 Uhr und ich bin auch wieder so weit fit.“
Dima wollte nach oben klettern, aber ich rollte meinen Schlafsack behelfsmäßig zusammen und warf ihn oben rein: „Unten bitte!“ „Da hast Du doch eben gelegen.“ „Deshalb haben wir Schlafsäcke statt Bettzeug dabei. Wenn ich fahren soll, liegst Du unten. Wenn Du nicht ins gleiche Bett willst, wie ich vorher gelegen habe, bleiben wir hier. Ich habe keine Lust, wenn ich in die Eisen steigen muss, dass Du mir von da oben auf den Kopf fällst. Und dem spirrligen Fallschutz würde ich vielleicht noch meinen vierjährigen Neffen aufzuhalten zutrauen, aber nicht einen erwachsenen Mann. Der ist mehr dazu, dass Du nicht unten liegst, wenn Du Dich im Schlaf umdrehst.“ Also legte er sich nach unten. Ich fuhr los, so waren wir wenigstens nachts um Stockholm herum.

Leider gab es auf der Tagfähre keinen Platz mehr für uns. Wir buchten uns also auf die kommende Nachtfähre ein und hatten den Dienstag jetzt zur freien Verfügung in Stockholm. Anstatt den überteuerten Shuttlebus von Viking Line zu nehmen, gingen wir 5 Minuten zur deutlich günstigeren U-Bahn. Sogar mittags schaffte es die Sonne so gerade über die Stadthäuser.

Mittwoch, 04.01.2017

Nach der Fährüberfahrt, aus Kostengründen in einer Doppelkabine, fischte uns erst mal der finnische Zoll raus. Wenn man mit Carnet TIR aus Schweden hier her kam, musste man nicht eben Sherlock Holmes sein, um sich zu denken, dass wir nach Russland wollten. Nach 40 Minuten ausgiebiger Prüfung aller Unterlagen ließ man uns fahren. Ich dachte schon, dass sie das Zollsiegel öffnen würden, um eine Prüfung der Ladung zu veranlassen. Als wir um halb 9 vom Hafengelände fuhren, war die Sonne noch nicht aufgegangen.

Erst knapp anderthalb Stunden später schob die sich über den Horizont. Durch die nur spärlich eingeschneite Landschaft kamen wir schnell voran. Der Winterdienst hatte die Straßen problemlos frei bekommen und wir konnten die erlaubten 50 Meilen ausreizen. Es ging an Jyväskylä vorbei, meinem ersten Ziel als Trucker überhaupt mit dem Mahlerschen TurboStar. Vielleicht sollte ich im Sommer mal aus Nostalgie mit dem 190-T hier hin fahren.
Obwohl es gar nicht so weit nördlicher war als Stockholm, hatte die Sonne hier schon Mühe, es über die Bäume zu schaffen. Stadthäuser wären hier schon zu hoch.

Nachdem wir Jyväskylä umfahren hatten, ging Dima die Lenkzeit aus und wir mussten am Straßenrand Fahrerwechsel machen. Allerdings nutzten wir die Gelegenheit gleich, um was zu essen und mal ein paar Schritte am Straßenrand zu gehen. Der dünne Verkehr hier oben machte es möglich.

Hier lag auch mehr Schnee und kurz nachdem ich das Steuer übernommen hatte, setzte Schneefall ein. Das drückte das Tempo natürlich deutlich. Schließlich hielt ich es jetzt für einen günstigen Moment, um mal die leeren Tanks und den Reservekanister mit finnischem Winterdiesel zu füllen. Und weil bei dem Wetter die Konzentration nach 3 Stunden am Ende war, wechselten wir wieder Fahrer. Unsere Scheinwerferbatterie machte die Polarnacht zum Tag, so konnten wir bequem bis tief in die Nacht weiter fahren.

Am Sitz des Weihnachtsmannes in Rovaniemi vorbei und mit zwei weiteren Fahrerwechseln zwischen eher kurzen Fahrtabschnitten schafften wir es gegen halb 2 nachts an die geschlossene Grenze. Bei der Dunkelheit und der trotz unseres Flutlichts direkt vorm Fahrzeug notwendigen Konzentration war es eine Herausforderung, 4:30 Stunden durchzuhalten und da wir zu zweit waren absolut überflüssig.

Und nun war es auch soweit. Sogar in Lappland gab es Kältewarungen des Wetterdienstes. Diese Nacht sollte die Temperatur auf unter -40 °C abfallen. Das finnische Winterdiesel war angeblich bis -55 °C geeignet. Ich hoffte es mal und wir ließen den nur bis -38 °C frostsicheren Motor einfach die Nacht im Stand durchlaufen.


Donnerstag, 05.01.2017

Nachdem wir ausgeschlafen hatten, gingen wir erst einmal mit den Papieren zu den Finnen. Der Übergang war spärlich besetzt, aber die Ausreise wurde recht schnell abgehandelt. Dann ging es durchs Niemandsland bis ans Ende der Warteschlange an der russischen Kontrollstelle. Ich nutzte die Gelegenheit, um wieder bei Luke anzurufen.

Als wir dran waren, nahm Dima einen großen Leinenbeutel aus seinem Gepäck. „Was ist das?“ „Abfertigungsbeschleuniger.“ Ich sah flüchtig in den Beutel, der mit Schokolade, Kaffee, Zigaretten und auch zwei Flaschen schottischem Whisky gefüllt war. Zugegeben, mit Glen Stag Blended Scotch für 16 £ die Flasche würde ich mir eher die Füße waschen, aber wenn es uns weiter brachte.

Das tat es, denn schon nach vergleichsweise kurzen 20 Minuten und mit intakten Siegeln waren wir wieder unterwegs. Einige unserer Vordermänner hatten hier deutlich länger gestanden und sich von den Grenzern durchwühlen lassen, auch wenn die ebenfalls mit TIR unterwegs waren. Schnell konnten wir auf der folgenden Straße aber nicht werden. Und auch die Brücke war nicht unbedingt Vertrauen erweckend.

In dem Dorf Alakurtti zeigten nicht nur die Streitkräfte ihre Geschichte mit Denkmälern verschiedener Militärfahrzeuge sondern auch das GPS erste Ausfallerscheinungen. Unser LKW sprang auf dem Bildschirm munter zwischen den Dorfstraßen hin und her, weil so weit nördlich oft nur noch 3 oder 4 Satelliten eine grobe Ortsbestimmung zuließen. In Deutschland hatte man im Schnitt 7 Satelliten in Reichweite.

Auch wenn die Straße jetzt befestigt war, ging es auf dem festgefahrenen Schnee eher langsam voran. Wir wollten auch nicht der Star des nächsten Unfallvideos russischer Dashcams werden. In einer Schulbushaltestelle machten wir eine kurze Pause und einen Fahrerwechsel. „Schade, dass man nur den kleinen Bereich im Scheinwerferkegel sieht. Das ist bestimmt eine schöne Landschaft hier.“

„Wenn es nach mir geht, kannst Du noch ein paar Mal hier her fahren. Und bestimmt auch mal im Sommer. Bis da alles getan ist, was getan werden muss, wird es noch einige Baumärkte brauchen.“ „Wie schafft man es eigentlich, für eine einzelne und dann auch noch so abgelegene Einrichtung so viele Spenden zu sammeln?“ „Indem man überhaupt was in Russland macht. Es gibt in Großbritannien knapp 40.000 Russen, dazu eine Viertelmillion Briten mit russischen Wurzeln. Aber bisher gab es kaum Aktivitäten, die hier vor Ort mit mehr als moralischer Unterstützung oder mal Schüleraustausch helfen wollten. Deshalb konnten wir ein großes Echo in der Gemeinschaft erzeugen und haben so einige Spenden zusammen bekommen. Im Sommer würden wir gerne den nächsten LKW vollladen.“
„Und warum ausgerechnet ein Kinderheim am Ende der Welt?“ „Wer die Initiative ergreift, kann auch bestimmen, wo es hin geht. Unser kleiner Wohltätigkeitsverein beschäftigt sich ja speziell mit der Oblast Murmansk. Dass es genau dieses Heim trifft, liegt daran, dass da 4 der 55 Mitglieder selbst gelebt haben. Mein Vater als Schriftführer ist einer von Ihnen.“

Wir waren inzwischen am Zollamt in Murmansk angekommen, das als Eingangszollstelle eingetragen war. Auch wenn wir bis dicht an die Grenze zu Norwegen fahren würden, war das dortige Zollamt wohl kaum mit internationalem Warenverkehr konfrontiert und der große Teil der Formalitäten wurde hier in Murmansk erledigt. Am Ziel musste dann der Zöllner der Bestimmungszollstelle quasi nur noch unterschreiben und abstempeln. Um 20 nach 8 abends war das Amt in Murmansk natürlich geschlossen und wir mussten warten. Wenigstens sollte diese Nacht nicht ganz so kalt werden, mit -30 °C verglichen zu den -47 °C, die das Thermometer letzte Nacht als unteren Wert gemessen hatte, war der Wetterbericht geradezu tropisch.


Freitag, 06.01.2017

Leider war auch der Freitag, nachdem das Zollamt besetzt war, erst mal mit Warten gut gefüllt. Weil wir uns nicht vom Zollhof runter bewegen durften, befragte ich Dima weiter. „Wieso ist dieses Heim eigentlich so groß? 128 Plätze ist ja schon mal was, gerade in so einer dünn besiedelten Gegend.“ „Es ist das einzige zwischen hier und der Staatsgrenze. Und Nikel ist der Verwaltungssitz des Petschenga Rajon und der Rajon braucht nur eins. Der Kola Rajon ist ziemlich groß, aber dünn besiedelt. Deshalb werden Kinder aus dem Westen von Kola auch nach Nikel geschickt und nicht nach Kola oder Murmaschi. Ist näher dran. Dann kommen noch anteilig mit Murmansk und Kola geteilt die aus den geschlossenen Städten der U-Boot-Flotte dazu. Das ist einfach ein riesiges Einzugsgebiet und hier oben ist es leider für ein Kind auch nicht schwer zum Waisen zu werden. Das Leben hier ist gefährlich und ungesund, viele Eltern sterben entweder bei Arbeitsunfällen oder an Vergiftungen durch die Schwermetalle und Säuren in den Nickelhütten oder werden so krank oder so schwer verletzt, dass sie sich nicht mehr um ihre Kinder kümmern können.“
„Und wie ist Dein Vater von hier in einen Heizölhandel nach Birkenhead gekommen?“ „Mein Großvater war Ingenieur in einer geschlossenen Stadt als Entwickler von Atom-U-Booten. Auf einer Testfahrt ist er mit dem Boot und der ganzen Mannschaft verschollen. Was danach mit meiner Großmutter passiert ist, hat mein Vater nie gesagt. Was ich verstanden habe, ist sie entweder in die geschlossene Psychiatrie gekommen oder hat angefangen sich gegen den Staat zu wenden und ist deportiert worden. Das wird mein Vater aber auch nur teilweise verstanden haben, denn er war damals erst 6. Er kam dann in das Kinderheim und ist nach der Schule zivil zur See gefahren.
In Liverpool wurde er krank und musste ins Krankenhaus. Meine Mutter wollte Ärztin werden und hat damals ein Praktikum als Krankenschwester gemacht. Sie haben sich verliebt, mein Vater hat beschlossen in England zu bleiben und hat schließlich auch sein Visum bekommen. Meine Mutter ist allerdings durch die Vorprüfungen gerasselt und wurde dann doch Kauffrau. Sie haben bei den Eltern meiner Mutter im Brennstoffhandel mitgearbeitet und als meine Großeltern sich zur Ruhe gesetzt haben, haben sie die Firma übernommen.“
Als so ziemlich der letzte LKW für heute wurden wir dann, dank einer weiteren Tüte Abfertigungsbeschleuniger, noch kontrolliert und beschlossen, heute nicht mehr loszufahren. Erstens waren wir dann sowieso mitten in der Nacht am Ziel und zweitens fühlten wir uns zu müde.


Samstag, 07.01.2017

„Wir sind in Russland, also wünsche ich wahrscheinlich zu Deiner Überraschung mal Frohe Weihnachten.“
„Danke. Nein, in Deutschland hatte ich einen serbisch-orthodoxen Angestellten. Daher weiß ich, dass in den Ostkirchen der Kalender 2 Wochen nachgeht. Bist Du orthodox?“ „Nein, katholisch. Das russischste an mir sind der erste Vorname, der Familienname und dass ich die Sprache spreche. Habe nicht mal die russische Staatsbürgerschaft.“ In der Tat, sein kompletter Name Dimitri Zachary Orlov las sich sprachlich etwas zwischen Russland und England hin und her geholpert, und wenn man ehrlich war, waren seine Gesichtszüge auch eher russisch als englisch. Aber ansonsten sprach er Englisch mit derbem Merseyside-Akzent und ich hatte auch am Zoll den Eindruck, als wäre sein Russisch deutlich langsamer als sein Englisch.
Wir machten uns kurz vor 7 nach einem Frühstück aus unserem Vorrat auf den Weg zur letzten Etappe. Dima fuhr als erstes. Allerdings merkte ich, dass heute etwas anders war. Und in der Stadt Petschenga hielt er auch an. „Ich kann nicht mehr weiterfahren. Das wird mir langsam zu emotional.“ „Okay.“
Ich fuhr also weiter. „Warst Du eigentlich schon mal da?“ „Nein, ich kenne das alles nur von Bildern über Facebook. Die Hilfsaktion habe ich mit einem jungen Mitarbeiter des Heims organisiert, der da als einziger fließend englisch spricht und notfalls auch mal mit einer britischen Behörde telefonieren konnte.“

Es wurde 2 Wochen nach Wintersonnenwende schon wieder dämmerig um die Mittagszeit, aber die Sonne ging nicht auf. Dima rief eine knappe Dreiviertelstunde bevor wir ankommen sollten irgendwo an und sprach russisch. Und schließlich kamen wir an einen Anstieg und sahen das Wahrzeichen von Nikel, die Schornsteine der Nickelschmelze.

Direkt um die Verhüttungsanlage standen kein Baum und kein Strauch mehr. Es sah dort aus wie in einem Endzeitfilm. Auf der anderen Seite ging die Stadt bis an den Werkszaun. Nach 5 Tagen Gewaltmarsch und Zollwahnsinn seit der Abfahrt in Marsberg passierten wir das Ortsschild.

Da das Navi hier nicht mehr funktionierte und wir keinen Stadtplan hatten, telefonierte Dima mit jemandem und gab mir an Kreuzungen Anweisungen. Schließlich winkte vor einem schäbigen Plattenbau ein junger Mann in einer dicken Jacke und mit typisch russischer Pelzmütze auf dem Kopf. Wir waren am Ziel.

Ich stellte den LKW auf dem Fußweg vor dem Gebäude ab, wir zogen uns auch unsere Winterjacken an und stiegen aus. Dima fragte „Vasya?“ Der Einweiser nickte und begrüßte Dima mit einer herzlichen Umarmung. Beide waren sichtlich bewegt von ihrem Zusammentreffen.
Dann kam er auf mich zu und sprach mich englisch an: „Hallo. Ich bin Vasily.“ Okay, wir blieben scheinbar ein Bisschen förmlich. „Hallo. Und ich bin Eric.“ „Der Zöllner müsste auch jeden Moment kommen.“ Und wie auf Kommando bog ein nicht mehr ganz frischer GAZ Wolga in die Straße ein und hielt neben uns. Es war in der Tat der Zöllner, der sich ans Werk machte und die Papiere prüfte, das Siegel seiner Kollegen aus Murmansk aufschnitt und dann die Fracht kontrollierte. Nachdem alles in Ordnung war, gab es noch die nötigen Stempel und Unterschriften. Das Carnet TIR war geschlossen und wir konnten mit dem Entladen anfangen.

Die Kinder, die noch beim Essen waren, sollten erst mal Geschenke bekommen. Vasiliy hatte einen Handhubwagen geholt, für den Weg vom Trailer auf den Boden machte sich jetzt die am Trailer verbaute Hubbühne bezahlt. Vielleicht sollten wir doch einen oder zwei der Fruehauf-Trailer behalten. Auch im Tagesgeschäft war diese Hilfe nicht immer so verkehrt.

Als erstes kamen also die Kartons mit den Geschenken ins Haus, so konnten die Kinder beschäftigt werden. Es war eine Freude, in die glänzenden Augen und die fröhlichen Gesichter der Mädchen und Jungen zu schauen. Allzu oft hatten sie hier sicherlich keinen Grund zur Freude. Dann fingen wir zu viert an, die Baustoffe und Großgeräte abzuladen Vasily hatte noch einen anderen Mitarbeiter gebeten, zu helfen.

Nachdem der Trailer leer war, gingen wir auch ins Haus, Vasily wollte uns erst mal alles zeigen. Außen waren die Zierfliesen, die auf die Betonplatten aufgeklebt waren, teils zersprungen und großflächig mit Moos bewachsen. Es war unverkennbar ein umgewidmetes Wohnhaus, das kalte Treppenhaus hatte sandgelb gestrichene, nackte Betonstufen.

„Willkommen in unserer Chruschtschoba.“ Da logischerweise nur Dima grinste, schob er die Erklärung nach: „Die offizielle Bezeichnung „Systembau-Wohnanlage Typ K-7″ ist so bürokratisch. Deshalb hieß dieser Haustyp, als sie neu gebaut wurden, im Volksmund Chruschtschowka nach dem damaligen Generalsekrätär Nikita Chruschtschow und Truschtschoba ist ein Elendsviertel. Die Dinger waren auf 25 Jahre als Behelfswohnungen ausgelegt. Wenn sie heute immer noch stehen und in so einem tollen Zustand sind wie unsere, kombiniert man einfach beide Wörter.“
Das Erdgeschoss war mal komplett entkernt worden und die tragenden Wände teilweise durch Stützpfeiler ersetzt worden. Hier gab es die Gemeinschaftsräume, Speisesaal und die Küche, links von dem einen Treppenhaus Büros und rechts vom anderen Dienstwohnungen, in denen einige der Mitarbeiter lebten.

Ich fühlte mich nicht wohl bei dem Gedanken, dass wir ein paar Mahlzeiten aus dieser Küche würden essen müssen, denn wir wollten hier eine Wochenendruhe verbringen. Die Wände in der Küche waren an den Ecken zu den Außenwänden mit Stockflecken übersät, der bisherige Gasherd an der Verkleidung und den Gittern für die Töpfe verrostet. Die Arbeitsflächen waren aus ziemlich verschlissenem Holz, immerhin standen große Kunststoffbretter bereit, um auf ihnen das Essen zuzubereiten. Im Keller gab es laut Vasily Lagerräume und eine Werkstatt.

Wir gingen stattdessen ein Treppenhaus mit dem Schild „мальчики“ rauf. Da das Wort, das ich natürlich nicht verstand, deutlich anders aussah, als im anderen Treppenhaus, riet mir Dima, es mir optisch gut einzuprägen, falls ich in diesem überall gleich aussehenden Systembau ohne Sonnenstand vor den Fenstern die Orientierung zwischen den beiden bis auf das Schild genau identischen Aufgängen verlieren sollte.  Dies war der Jungentrakt, im anderen Treppenhaus lagen die Mädchenzimmer.

Auf jeder Etage reichte der Platz für vier Wohnungstüren. Vasily gab Dima und mir jeweils einen Schlüssel und öffnete mit seinem Generalschlüssel eine Wohnungstür im vierten Stock. „Euer Schlüssel schließt nicht die Außentür, aber ich denke, dass Ihr sowieso keine Ambitionen habt, zwischen 21 und 7 Uhr raus zu gehen. Er passt auf die Tür zum Treppenhaus und Eure Zimmertür.“ Hinter der Wohnungstür war ein kleiner Flur, von dem es drei weitere Türen gab.
„Hier ist das Badezimmer, könnt Ihr von innen mit dem Drehgriff abschließen und teilt es Euch mit zwei Jungs in dem anderen Zimmer.“
Das winzige Räumchen hatte eine kleine Stufe unter der Tür, ein Waschbecken, eine Hocktoilette und einen einfach an der Wand angeschraubten Duschkopf mit dazugehörigem Bodenablauf. Auch hier hatten die Fliesen an Wand und Boden schon bessere Tage gesehen, und die Fugen zwischen den weißen Fliesen bildeten einen scharfen Kontrast in schwarz. Er schloss das Zimmer auf, in dem ein Stockbett mit Metallgestell, ein ziemlich zerkratzter Kleiderschrank aus Blech, ein leeres Bücherregal und ein schäbiger Holztisch mit zwei Stühlen standen. „Ich hoffe, ein Doppelzimmer ist Euch recht? Alternative haben wir nämlich nicht wirklich.“ „Ist größer als das Fahrerhaus, in dem wir die letzten Nächte verbracht haben.“
Wir gingen wieder runter und Vasily zeigte uns noch sein Dienstzimmer, wo wir ihn außerhalb der Arbeitszeit finden konnten. Es war auch ein Zimmer einer Zweiraumwohnung. Im anderen Zimmer wohnte jemand anders und er teilte sich mit dem auch das Bad. Seine Möbel waren besser als die bei uns, wahrscheinlich seine eigenen. Auch hier gab es einen Kleiderschrank, einen Tisch mit Stühlen unter einem Hochbett und ein Bücherregal. Außerdem einen Sessel, einen Fernseher mit einem kleinen Schrank drunter und einen Herd. Außerdem hatte er einen Balkon.
„Raucht einer von Euch?“
„Ja.“ „Als was gilt eine E-Zigarette?“ „Offiziell wie eine richtige. Geht zum Rauchen oder Dampfen zwischen 7 Uhr morgens und 21 Uhr abends am besten vor die Tür. Wenn wir nach 21 Uhr noch zusammen sitzen, könnt Ihr in meiner Wohnung auf den Balkon gehen. Ansonsten gilt für Euch, was wir bei den Kids auch nicht immer verhindern können. Raucht auf dem Fensterbrett nach draußen und lasst Euch nicht erwischen. Das Zimmer soll irgendwann auch wieder mit Kindern belegt werden können und eeeeigentlich nicht drin geraucht worden sein.“ Willkommen in Russland.

Wir gingen rauf, richteten uns in dem dank oben beginnender Einrohrheizung ziemlich gut beheizten Zimmer ein. Auch wenn man merkte, dass das Fenster ziemlich undicht war, würden wir versuchen müssen, Schlaftemperatur zu erreichen, indem wir das Fenster einen nicht zu großen Spalt öffneten. Jetzt wusste ich, warum man bei Plattenbauten in Ostdeutschland den Fenstergriff manchmal mit Spottnamen wie „Sozialistischer Thermostat“ bezeichnete.
Dann suchten wir wieder nach Vasily. Er erklärte uns noch, dass man den ganzen Bau am besten sprengen und neu bauen würde. Weil dafür aber kein Geld da war, wollten sie ihn nach und nach einmal komplett sanieren. Dabei war es sinnvoll, mit der Fassade und dem Dach anzufangen, damit die Wärme im Haus blieb, die obere Etage nicht durchs undichte Dach feucht wurde und sich mit besserer Isolierung dann das allgegenwärtige Schimmelproblem erledigen sollte. Das Außenfundament hatten sie letzten Sommer mit eigenen Mitteln abgedichtet, seitdem trocknete der Keller langsam aus. Dass die Küche es auch dringend nötig hatte, war uns nicht entgangen. Bis aber auch die Schlafzimmer der Kinder, die Badezimmer und die Gruppenräume alle modernisiert und neu möbliert waren, würde es auch mit Spenden noch Jahre dauern. An dem Angebot von Dima, im Sommer hier hin fahren zu können, war wohl was dran.

07.-09.01.2017

Jetzt waren wir also zu Gast im Kinderheim. Am Abend unserer Ankunft saßen wir bei Vasily im Zimmer. 5 Wodka später war er auch für mich Vasya und ich für ihn Ricky. Und in der Tat, nach 21 Uhr war es bei bestimmt auch -21 °C schlimm genug, zum Rauchen auf Vasyas Balkon gehen zu müssen. Kein Wunder, dass wir es nicht vermissten, dass unser Schlüssel die Außentür nicht öffnen konnte.

Er war selbst in einem Heim in Jekaterinburg aufgewachsen. Dort herrschten anfangs raue Sitten, zwischen den Bewohnern das Gesetz des Stärkeren in den Schlafsälen mit 20 Betten, von der Obrigkeit her nur Aufseherinnen, aber die kamen der Aufsichtspflicht dafür bis unter die Jungendusche nach. Und wer nicht gehorchte, hatte eine kräftige Ohrfeige sitzen. Im Laufe der Jahre kamen Verbesserungen, aber es war immer noch mehr Gefängnis als Kinderbetreuung, als er mit 18 vor die Tür gesetzt wurde. Er hatte immerhin einen ganz brauchbaren Schulabschluss hinbekommen, nahm einen Hilfsjob an und ging studieren, was man in Deutschland als Sozialpädagogik bezeichnet hätte. Jetzt war er 28 und seit 3 Jahren im Beruf.
Hier in Nikel war es wohl zu den Zeiten von Dimas Vater nicht anders gewesen, aber nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Verkleinerung der Nickelindustrie war das Heim aus der vorherigen Bruchbude in diesen zumindest zu der Zeit als Fortschritt zu betrachtenden, alten Wohnblock umgezogen, die Kinder auf Zweibettzimmer verteilt worden, je nach Wohnungsschnitt hatten 2 bis 3 Zimmer ein gemeinsames Bad und die Erziehung nahm in den späten 2000ern und frühen 2010ern westliche Erkenntnisse auf.

Nachdem Dima und ich auf unser Zimmer gegangen waren, telefonierte ich noch mit Luke in „Geheimsprache“ und erzählte ihm, dass wir hier angekommen waren, wie die Fahrt gelaufen war, dass es uns gut ging und wie es hier im Heim aussah.

Dima und ich saßen die beiden folgenden Tage beim Essen am Erziehertisch, spielten zwischendurch das eine oder andere Gesellschaftsspiel mit den Kids, Vasya und Karina, einer Erzieherin, die auch um die 30 war. Die älteren Erzieher hatten die Methoden von damals abgelegt, aber sahen sich immer noch mehr als Aufseher denn als Spielkameraden, auch wenn das ebenfalls Teil einer umfassenden Erziehung war. Immerhin erlaubte die Heimleitung Karina und Vasya, mit den Kindern zu spielen, das war laut den beiden immer noch nicht überall im Land so.
Ich konnte mich zwar mit den jüngeren nur über Dima und Vasya, mit Teenagern auch mit wenig Englisch, aber dafür umso mehr Händen und Füßen verständigen, aber das tat dem Spaß keinen Abbruch.


Dienstag, 10.01.2017

Heute ging es für uns wieder los. Auch wenn die Sonne immer noch unterm Horizont blieb, wirkte es nur 3 Tage nach unserer noch recht schummerigen Ankunft so, als wollte sie nun jeden Moment aufgehen.

Wir fuhren leer nach Murmansk und wurden dort noch am Abend beladen. Für die Rückfahrt hatten wir kein Carnet TIR. Um die Kosten für Diesel und Verschleiß, ebenso wie Dimas Mindestlohn, den ich zahlen musste, rein zu bekommen, hatte ich für die Rückfahrt Frachten angenommen. Die von hier war teilweise für Deutschland und lief von der Verwaltung über Scandinavia Express.


Mittwoch, 11.01.2017

Das Zollamt war dann wieder einmal eine zähe Angelegenheit. Wir konnten erst kurz vor Dienstschluss los fahren, es war schon wieder stockdunkel. Der Truck verlangte nach Diesel, bei umgerechnet 38 Pence je Liter war mir das ein Vergnügen. Kurz nach 18 Uhr waren wir dann aus Murmansk raus.

Es fing unterwegs an zu schneien und das Tempo sank wieder. In unserer bekannten Bushaltestelle wechselten wir wieder den Fahrer. Nachdem Dima aus Murmansk raus gefahren war, brachte ich uns zur Grenze.


Donnerstag, 12.01.2017

Auch dort durften wir den halben Tag in Wartestellung verbringen. Ein Anruf von Timo brachte allerdings überraschend Abwechslung der aufregenden Art: „Hallo Timo.“ „Hallo Ricky! Wo steckst Du?“ „Im Niemandsland. Russland hat uns raus gelassen, aber wir warten jetzt auf Abfertigung nach Finnland rein.“ „Okay. Dann mal viel Glück dass alles glatt geht.“ „Danke. Was kann ich denn für Dich tun?“ „Ich habe es mich noch nicht zu fragen getraut seit der Hochzeit, aber ich vermisse seitdem ungefähr 250 Euro in bar. Hast Du eine Ahnung, wo ich die gelassen habe? Oder, entschuldige, wenn ich so was frage, hast Du vielleicht irgendwo in Griechenland Euro gebraucht, sie genommen und mir vergessen Bescheid zu sagen?“ „Nein. Insbesondere würde ich nie einfach Geld von Dir nehmen, ohne Dich vorher zu fragen und es mir dann auch von Dir geben zu lassen. Ich durchwühle ja nicht einfach anderer Leute Portmonee.“ „Entschuldige. Ich hätte das nicht denken dürfen.“
„Schon gut. Ist ja auch ein ordentlicher Betrag. Wann hast Du sie denn vermisst?“ „Zurück in Frankreich auf meiner ersten Tour nach Eurer Hochzeit, als ich das erste Mal bar in Euro zahlen wollte. Die Woche davor habe ich kein Bargeld gebraucht. In Großbritannien kann man ja zum Glück jeden Schokoriegel mit Kreditkarte zahlen.“ „Tut mir leid. Ich weiß es nicht. Und warum ungefähr 250?“ „Weil ich einfach mal nachgerechnet habe, was wir so ausgegeben haben und wenn ich alle Belege addiere und mal pauschal ein Bisschen was annehme, wo ich keinen Beleg genommen habe, dann fehlen mir halt so 250 bis 300 Euro.“ Da ich auch keine Ahnung hatte, wo er das Geld gelassen haben könnte, verabschiedeten wir uns wieder.

Erst nach 14 Uhr ließ uns Finnland wieder in die EU zurück. Wir luden noch in Rovaniemi für Deutschland und in Tervakuksa die erste Ladung für Großbritannien auf. In Finnland waren die Straßen deutlich besser in Schuss und mit dem Räumen gab es auch keine Probleme, so dass wir mit 15 Stunden Fahrzeit bis Helsinki zum Hafen kamen.


Freitag, 13.01.2017

Dort stellten wir uns auf eine Wartefläche vorm Hafen und warteten.

Schließlich klopfte es an unserer Kabine. „Hallo, ich bin Thor von Scandinavia Express.“ „Hallo. Ich bin Ricky und das ist Dimitri.“ „Sag ruhig Dima.“ Thor nahm uns in einer heißen Umladeaktion von unserem Trailer über unsere Hubbühne auf seinen Trailer die Frachten für Deutschland ab und gab uns eine für Lettland drauf.
Thor hatte mal ein Wochenende draußen erwischt. Kam bei Steven nicht oft vor, ließ sich aber nicht immer verhindern. Er war nach der Umlade-Aktion in Helsinki abladen gefahren und dann weiter über Turku nach Schweden. Am Sonntag war er in Jönköping und wollte das Wochenende verkürzen, dann zurück nach Deutschland und noch eine kurze Runde um die Kirche, bevor er am kommenden Wochenende den zweiten Tag dran hing, den er in Jönköping hatte ausfallen lassen.
Dima und ich warteten, nachdem Thor weg war, in dem Truckercafe, bis es für uns Zeit wurde, nach Tallinn einzuchecken. Ich hatte die Zeit genutzt, um mit Luke zu telefonieren.

Uns empfing Estland mit ungemütlichem Schneeregen. Dima fuhr den ersten Abschnitt bis Pärnu, wo wir die von Thor übernommenen Paletten mit Konserven abladen sollten. Saure Gurken und Sauerkraut konnten sie hier auch, aber wer es sich leisten konnte, nahm deutsche Markenprodukte. Wir mussten allerdings eine Weile warten, bevor die Papiere fertig wurden.

In der Zeit rief Julian an: „Vielleicht habe ich ein Attentat auf Dich vor, wenn Ihr dazu passend fahrt.“ „Was?“ „In Odense einen Opel Kapitän aus den 50ern zu besichtigen.“ „Der Trend geht zum Zweitoldtimer?“ „Ja. Weiß nur noch nicht, was Celia davon hält.“ Wir verabschiedeten uns und dann kam auch jemand und wollte uns die von Thor übernommenen Paletten entladen.


Samstag, 14.01.2107

Wir fuhren durch Lettland und nach Ventspils. Dort luden wir noch ein paar Paletten auf.


​Sonntag, 15.01.2017

In Nynäshamn machten wir 24 Stunden Pause, um eine verkürzte Wochenruhe zusammenzubekommen. Und so war es dann mal wieder dunkel, als wir den Parkplatz am Hafen verließen.

Montag, 16.01.2107

Wir fuhren in die Nacht rein und waren gegen 3 Uhr in Trelleborg beim Kunden. Nun mussten wir warten bis 6 Uhr, bevor das Lager öffnete und wir unsere letzte Zuladung bekommen konnten. Das war zum Glück auch die erste, die wieder runter musste. Wir sollten es in 21 Stunden Schichtzeit noch bis Esbjerg schaffen.

In Helsinki und Nynäshamn hatten wir sie schon gesehen, während wir standen, aber jetzt sollten wir zum ersten Mal seit wir auf dem Weg von Turku zur Grenze in Richtung Russland gewesen waren, auch wieder die Sonne während der Fahrt erleben, als sie sich über den Horizont schob, während wir Kopenhagen umkreisten. Auf der Großen Beltquerung stand sie dann schon für unsere Verhältnisse auf dieser Tour hoch am Himmel.

Ich wollte Julian anrufen, was nun mit dem Opel war, als Dima fluchend in die Eisen ging und mir das locker auf der Hand liegende Handy wegrutschte. Um zu verhindern, dass es komplett fliegen lernte, musste ich es zwei mal auffangen. Ein Kleinwagen hatte sich vom Beschleunigungsstreifen mit 65 vor uns geschoben, die wir mit 83 km/h angeflogen kamen.
Es war ja nichts passiert und ich sah wieder aufs Handy. Es war nun die Tastatur und nicht das Adressbuch aktiv und durch den Bremsruck und die kleine Jonglage hatte ich 003 gewählt und mein Handy schlug eine Nummer mit 0030 vor. Was war das denn? Mit diesem hatte ich noch nie jemanden in Griechenland angerufen, weil meine letzten Touren da runter alle noch mit dem alten aus Deutschland waren.
Ich rief erst mal Julian an, weil da ja was auf dieser Seite der Brücke war: „Hallo Julian, bin kurz vor Odense. Was ist mit dem Kapitän?“ „Hi Ricky. Sorry, dass ich Dich vergessen habe. Nichts ist. Celia meinte, ein zweiter Oldtimer wäre okay, aber dann einer für sie. Der Besitzer von dem Kapitän ist Deutscher und hat mir einen Freund in Essen genannt, der Celias Traumauto verkauft.“ „Und wovon träumt Deine Herzdame so?“ „Von einem Fiat 124 Spider.“ „Für mich als BMW-Fan ist Opel oder Fiat eher ein Fall von Not und Elend.“ „Lach Du nur, ich bin an sich nicht unglücklich. Andere Männer kriegen zu hören „Das Auto oder ich!“ Da bin ich mit „Wenn zweiter Oldtimer dann Fiat!“ eigentlich gut weggekommen.“ „Auch wieder wahr.“

Nachdem wir in Esbjerg angekommen waren und uns auf der Fähre eingeschifft hatten, wurde ich mal in Sachen griechische Telefonnummer investigativ tätig. Gewählt hatte ich sie am 07.11.2016 um 0:46. In der Nacht hatte ich so einiges gemacht, an das ich keine Erinnerung mehr hatte. Es war keine lange Suche mit Google und der Telefonnummer, bis ich eine schlüpfrige Anzeige auf Griechisch und Englisch fand: „Ready for a gay adventure in powers of two? Adonis and Angelos, identical twins. Call…“ und dahinter die besagte Telefonnummer. Ich schrieb Timo über Whatsapp: „Wenn Du mal Zeit hast und alleine bist, melde Dich.“


Dienstag, 17.01.2017

Das tat er, als ich am nächsten Morgen gerade mit Dima auf der Fähre vom Frühstück aufgestanden war. Ich bog in eine andere Richtung ab als mein Mitreisender, auch wenn der angeblich kein Deutsch konnte. „Moin Timo.“ „Hallo Ricky. Ilarion hat sich gerade in der Raststätte seinen Kaffee von einem Rempler über den Pullover kippen lassen und macht sich im Waschraum sauber. Was ist?“ „Erinnerst Du Dich, wann Du das Geld das letzte Mal gesehen hast?“ „Nicht bewusst.“ „Vor unserer speziellen Nacht?“ „Ja. Ich habe da ja in der Bar noch mit Scheinen bezahlt. Da waren sie da. Das Frühstück auf der Taxifahrt und die „What happens…“ Shirts am Tag danach hast Du bezahlt. Danach habe ich kein Bargeld mehr gebraucht bis Frankreich.“ „Dann habe ich sie wohl gefunden. Ich habe um viertel vor 1 nachts ein Zwillingspaar Callboys angerufen.“
„Das heißt, wir haben nicht…?“
„Davon gehe ich mit diesem Wissen mal aus. Offensichtlich hat sich jeder von uns mit einem der beiden Jungs vergnügt und Du hast sie bezahlt.“ „Dann ist ja gut.“ Er hörte sich so erleichtert an, wie ich es gestern auch gewesen war, als ich die Anzeige gefunden hatte. Es war doch was anderes, ob man auf dem Stag Trip mit Callboys ins Bett sprang oder mit einem guten Freund, der auch noch das Vertrauen des eigenen Partners genoss.

Das Schiff legte nachmittags in England an und das Wetter hier sorgte dafür, dass wir bis zur Nacht wieder keine Sonne sehen sollten. Dafür lag hier kein Schnee mehr.

Wir luden in Grimsby die Ladung von Trelleborg ab und fuhren dann weiter nach Deeside. Auf dem Hof warteten sowohl Luke auf uns als auch Dimas Eltern. Dima selbst saß stolz am Steuer. Weil Luke mit Warnweste zum Hallentor lief, brauchte ich nicht raus. Dima rangierte den Lastzug nach Lukes Anweisungen rückwärts auf den Hallenplatz.

Nach einem kurzen Smalltalk mit Dimas Eltern fuhren sie nach Birkenhead und wir nach Shotton zu unserem Haus. Nach zwei Wochen Trennung und ich auch noch befreit durch die Erkenntnis, den Seitensprung doch nicht mit Timo gehabt zu haben, liebten wir uns an diesem Abend leidenschaftlich wie lange nicht mehr.


18.-30.01.2107

Der restliche Januar war Routine. Luke fuhr Trailer Exchange oder Touren von 1 bis 3 Tagen und ich machte erst einmal am Mittwoch Alex Truck wieder fertig für gemäßigten Winter, wenn er seinen Miettruck zurückgeben sollte und nächste Woche wieder den XF105 nahm. Dann hütete ich das Büro.

Und so ging der Januar schneller als gedacht rum, bis Montags am 30. Januar mein Telefon klingelte. Der Anrufer war eingespeichert und wurde mir daher mit Namen angezeigt. „Hallo Julian.“ „Hallo Ricky.“ Er klang mit den Nerven fertig. „Was ist passiert?“ „Timo hat eben zu Ende Februar gekündigt.“ Mein Gesichtsausdruck war in dem Moment sicherlich dazu geeignet, dass das Bild einfror und die Abspannmusik der Lindenstraße eingespielt werden könnte.

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