In diesem Kapitel…
…sagt Ricky jemandem, dass er gehen soll…
…Timo kauft ein Auto, das älter ist als er selbst…
…und Luke beneidet Ricky um eine Frau.
Montag, 30.01.2017
„Was? Aber warum?“ „Es scheint mit Ilarion aus zu sein. Denn der ist heute Nacht schon alleine mit dem Actros aufgebrochen und hat eben von unterwegs André gebeten, eine Einzeltour daraus zu machen. Werde ich auch mal drei Takte mit ihm reden müssen. So geht das nämlich nicht.“ „Und Timo muss dann gleich mal kündigen? Am besten auch noch im Affekt?“ „Würdest Du dauernd Deinem Ex in der Firma über den Weg laufen wollen?“ Okay, der hatte gesessen. Ich hatte es 8 Jahre lang fabriziert, dem damaligen Ex sogar außerhalb der Firma aus dem Weg zu gehen. Auch wenn dieser Ex heute mein Mann war, wäre „schwere Geburt“ für unsere Wiedervereinigung noch untertrieben.
„Hat Timo was gesagt, was er weiter vorhat?“ „Nein. Jetzt ist er ja erst mal noch für uns unterwegs. Habe ihn auf Sebastians Maschine gesetzt und Serkan abgesagt, der Springer machen sollte. Sebastian hat diese und nächste Woche noch Berufsschule. Danach kriegt Timo meinen Volvo und ich hüte anderthalb Wochen das Büro. Die Arbeit hier wird auch nicht weniger.“ „Sag André mal, dass er Timo irgendwie hier vorbei schicken soll.“ „Der lyncht mich, wenn ich jetzt auch noch mit Sonderwünschen für den zweiten Truck komme.“ „Wenn Du Dich als Geschäftsführer und Personalchef vom Azubi lynchen lässt, hast Du ein ernstes Autoritätsproblem.“ „Ich lache demnächst mal darüber.“ „Bitte, tu es für Timo. Ich habe immer wieder mal den Eindruck, dass es Situationen gibt, wo ich der einzige bin, der zu ihm durch kommt.“
Nach knapp 2 Stunden rief André an und bedankte sich leicht ironisch für die Herausforderung. „Na komm! Du stehst doch auf Schmerzen, wenn es um die Dispo geht.“ Er lachte. Am Freitag sollte Timo hier ankommen und dann Wochenende machen. Ich wusste nur zu gut, dass André es liebte, solche Situationen zu lösen. Und ich sollte mal im Laufe der Woche mit Judith sprechen. Vielleicht konnte er noch eine Woche oder zwei in der Ausbildung hier rüber kommen. Besonders die Zeit zwischen schriftlicher und mündlicher Prüfung bot sich dafür an, weil da sowieso nicht mehr viel passierte. Es schien gestern gewesen zu sein, dass wir den Bengel, so gerade ins zweite Lehrjahr gerutscht, zum Vorstellungsgespräch in Bochum hatten. Jetzt machte er in ein paar Monaten Abschlussprüfung.
Freitag, 03.02.2017
Mein Zugang fürs Tracking in Bochum funktionierte noch. Julian und Marlon hatten keinen Grund gesehen, mir den zu entziehen. Immerhin gehörte mir der Laden immer noch zu mehr als der Hälfte. Timo hatte im Auftrag von Talke einen Tank Bleichmittel für United Paper Mills dabei. Die Papierfabrik war keine 2 Meilen Luftlinie von hier. So wusste ich ungefähr, wann er hier sein würde.
Und als er dann klingelte und ins Büro kam, gab es für ihn kein Halten mehr. Er machte die Tür zu und fiel mir weinend um den Hals. Ich konnte die Kollegen nicht begreifen, die sagten, ihre Beziehungen scheiterten, weil der Beruf sie gefühlskalt werden ließ, weil sie dauernd Unfälle sahen. Da würde ich mal eher meine Beziehungsfähigkeit generell hinterfragen. Als Kraftfahrer gegenüber Unfällen abzustumpfen war das eine. Das konnte ich auch. Wenn die Lage klar war, ohne Gedanken weiterfahren und wenn nicht, aussteigen und das Erste Hilfe Programm abspulen wie damals in Italien. Aber wenn das einen daran hinderte, im Privatleben Emotionen auszuleben, sollte man besser professionelle Hilfe suchen. Dann war das sprichwörtliche Überdruckventil blockiert und irgendwann kam der große Knall. Alkohol, Depression, Herzkasper oder was auch immer. Bei Timo schien jedenfalls die Unterscheidung auch noch bestens zu funktionieren und er konnte seine Enttäuschung über das Aus der Beziehung rauslassen.
Irgendwann stand mein Göttergatte im Büro und begrüßte Timo. Ich hatte Luke im Laufe der Woche nur das erzählt, was ich selbst bisher wusste. Und das war wenig.
Ich ließ mir von Timo den Iveco-Schlüssel geben und warf ihn Luke rüber. „Wasch und tank seine Zugmaschine bitte mit.“ Dann fragte ich Timo: „Wo wollen wir reden? Hier? Essen gehen? Spazieren gehen?“ „Ein Bisschen spazieren okay, um runter zu kommen. Danach würde ich mich aber gerne irgendwo in ein Restaurant setzen.“ „Lass mir den Rover da. Dann kaufe ich schon mal fürs Wochenende ein.“ Timo und ich gingen runter und stiegen in den Jaguar. „Berge, Meer, Stadt?“ „Stadt oder Meer.“ „Oder beides, brauchen wir nur fast eine Stunde hin.“ „Macht nichts.“
Ich fuhr uns also nach Llandudno, einem schönen Seebad mit Promenade und einer Pier, auf der es leider keine winterfeste Bewirtung gab und die heute daher den Besuch nicht lohnte. Unterwegs steckte Timo seinen MP3-Player in den USB-Slot und brummelte die Texte mit. Einzelne Liedzeilen, die er laut sang, ließen tief in sein Innerstes blicken. „Is it all just wasted time, can you look at yourself when you think of what you left behind!“ „Wenn ich dich haben kann, dann merke ich, ich will dich gar nicht mehr, ist es umgekehrt, hab ich Angst, dass du mir nicht gehörst.“ „Lives are filled with emptiness, the fear returns once again, searching endlessly, now we will see, drown your mind in the pain“ „No healing charm covers my wounds, Fooled’s the dawn, And so am I“ „Don’t let me die here, There must be something more!“ „We’ve been through this such a long long time, just tryin‘ to kill the pain.“ „I’m trying to hold you but you slip away!“ „Oh Lord, I pray you give me strength to carry on, ‚Cause I know what it means to walk along the lonely street of dreams.“
Jetzt wurde mir klar, warum Davey mich damals auf der M4 angesprochen hatte, als ich ihn mit meiner Herzschmerzmusik zugedröhnt hatte. Hier war es sowieso vorgesehen, aber selbst wenn ich es nicht wüsste, dann wäre mir spätestes jetzt das Gefühl gekommen, dass man mal mit Timo reden müsste.
Ich parkte das Auto und wir gingen die Mostyn Street runter. Timo sah mal hier und mal da hin. Llandudno waren durch die Gnade des Tourismus viele Geschäfte geblieben. Vom Antiquitätenhändler über einen Uhrmacher bis zu einem Süßigkeitenladen gab es hier noch alles, was man sich vorstellen konnte. In Shotton dagegen bestand die Hauptstraße nur aus Banken, Handyläden und Takeaway-Imbissbuden. Dass Timo dabei und noch mehr auf dem Rückweg über die Strandpromenade ruhiger wurde, merkte ich vor allem daran, dass er am Auto fast losgerannt war und jetzt konnte man mal wirklich von spazieren gehen sprechen. Aber bisher hatte er immer noch kein Wort gesagt.
Nach der doch recht frischen Runde gingen wir zum Aufwärmen in einen Pub und wurden an einen Tisch für zwei gesetzt. Um uns herum war ein Gewusel aus Gästen aller Altersstufen. Eine gut gelaunte Gruppe junger Männer um einen runden Sechsertisch und am Ende des Schankraums eine lange Tafel mit Männern in identischen Anzügen fielen besonders auf. Ein Sprachmix aus viel Walisisch und wenig Englisch lag in der Luft. Ich bestellte mir dank 0,8 Promille Grenzwert für PKW-Fahrer ein Pint Cider und mit Lammleber, Speck und Zwiebeln mit Kartoffelbrei und Mushy Peas ein sehr walisisches Pub Food. Timo nahm Bier und wenig mutig Sirloin Steak mit Pommes und Gemüse. Ich bezahlte, wie es in britischen Pubs üblich war, beim Aufgeben der Bestellung.
Nun eröffnete Timo doch irgendwann das Gespräch, logischerweise auf Deutsch: „Du willst sicherlich wissen, was passiert ist.“ „Joah, könnte man denken.“ „Wir haben bemerkt, dass drei Quadratmeter pro Person zu wenig sind. Ich habe nicht mal gemerkt, dass es stressiger wurde, obwohl ich plötzlich regelmäßig geraucht habe. Bis mich Ilarion mal recht pampig im Dezember gefragt hat, ob das denn sein müsste, weil er keine Lust hätte, einen kalten Aschenbecher zu knutschen. Weil mir daraufhin nichts Besseres einfiel, als ihm sein abendliches, auch immer regelmäßiger werdendes Feierabendbier vorzuwerfen, haben wir beschlossen, dass wir den Weihnachtsurlaub mal nicht miteinander nehmen, sondern voneinander. Das hat dann nach Neujahr ganze 3 Wochen gehalten, bis wir uns wieder auf die Eier gegangen sind.“
„Und was war mit getrennten LKW?“ „Dann müsste ich Nahverkehr fahren. Von Montag bis Freitag getrennt war dem Herren dann auch wiederum zu lang. Ein oder zwei Abende in der Woche sollten wir uns dann ja doch sehen. Und im Nah- oder Linienverkehr werde ich nach weniger als 2 Wochen verrückt, wie wir damals ausprobiert haben. Und daraufhin haben wir im beiderseitig unfreundlichem Einvernehmen Schluss gemacht.“ „Klingt nach fliegenden Untertassen.“ „Nein. Mit den Waffen einer Frau – also Geschirr und Dekorationsgegenständen – haben wir nicht gekämpft!“ „Und danach kündigst Du gleich?“ „Meinst Du, ich will ihm dann dauernd begegnen, im Sommer zusammen auf dem Hof sitzen und grillen? Das kann ich nicht. Im Prinzip würde ich ihn am liebsten behalten. Aber es klappt einfach nicht mehr. Wenn man sich nur noch streitet und das teils echt heftig, muss man doch einen Schlussstrich ziehen.“ Unser Essen kam schließlich.
„Und was hast Du jetzt vor?“ „Mal sehen. Mein erster Gedanke war direkt zu Talke in Hürth. Dann habe ich mal Patrick angerufen, der macht aber keine Verträge, sondern das läuft über David Haider in Österreich, angeblich auch mit österreichischen Verträgen. Vor 2 Jahren wollte er mich unbedingt haben. Und wenn ihm David Haider auf die Finger klopft, wird er ja hoffentlich keine zweite Firma vor die Wand setzen. Und als ich gehört habe, was man in Österreich kriegt, habe ich natürlich bei Felix in Perchtoldsdorf angerufen, um die Alternativen abzuklopfen. Der würde mich gegen Jan eintauschen, weil der sich irgendwie nicht so richtig wohl in Österreich fühlt.“
Aus heiterem Himmel pöbelte uns ein Mann um die 50 an, der von den Toiletten zurück kam: „Why do you speak German?“ Ich blieb ausgesucht höflich: „Because we are German.“ Er wurde versöhnlicher: „Are you here on holiday? I mean it is not really good weather for seaside vacation.“ „No. I own a business in Deeside, he is an employee of the German branch of the same company.“ Nun wurde er dafür aber richtig ausfallend: „So then get off and leave your business to the people who should own it in this country! This is British soil and no place for Continental Europeans! Get back home!“ Er zeigte auf die Tür, suchte offenbar Zustimmung unter den anderen Gästen, die aber ausblieb und setzte sich dann wieder auf seinen Platz, 2 Tische neben unserem. Die anderen Gäste schauten größtenteils mehr peinlich berührt, aber niemand sagte etwas. Besonders klein machte sich einer der jungen Männer am Sechsertisch, als hätte er Angst, in die Sache aus irgendwelchen Gründen hineingezogen zu werden. Wenn man nicht alles selber machte.
Nicht mit mir, nicht mit Commander! Ich stand auf und ging zu dem Tisch, an den er sich gesetzt hatte. Dann fragte ich mit zuckersüßer Stimme: „Excuse me. Do you speak Welsh?“ Man konnte eine Stecknadel in dem Pub fallen hören. „No, I’m an Englishman. But why do you care as a German anyways?“ Ich holte ebenso theatralisch tief Luft wie er es eben getan hatte: „Felly, ewch i ffwrdd a gadael eich busnes i’r bobl a ddylai fod yn berchen arno yn y wlad hon! Dyma bridd Cymreig a dim lle i Saeson! Cyrraedd adref!“ Auch ich zeigte auf die Tür.
So gut wie alle Gäste johlten und applaudierten. Der Mann fuhr denjenigen an dem Sechsertisch an, der die ganze Zeit das Mauseloch gesucht hatte, aber sich gerade nicht einkriegte: „Why are you laughing? Better tell me what he said!“ Breit grinsend sagte der gefragte: „Well, basically the same as you told them about British soil addressing Continental Europeans, just addressing an Englishman about Welsh soil!“ Wenn die Ohren nicht im Weg wären, würde er dabei im Vollkreis grinsen. „You will stop smiling on Monday morning when picking up your papers! You are fired!“ „Well then – iechyd da!“ Er hielt sein Glas hoch über den Tisch, seine Kumpels stießen mit ihm an und auch an anderen Tischen der Kneipe prostete man ihm zu. Einfach, weil er in dieser Situation so cool blieb. Ich glaube, ich wäre durch die Decke gegangen, wenn mir das zu Angestelltenzeiten passiert wäre. Auch ich war erst in den letzten Jahren als Unternehmer ruhiger geworden. Vor allem weil ich gesehen hatte, wie andere sich mit Hektik ruiniert hatten, teils deutliche jüngere Leute als ich.
Der schwer beleidigte Engländer packte seine Jacke und ging. Auf dem Weg zur Tür bekam er dann auch auf Englisch das eine oder andere unfreundliche Wort der Umstehenden an den Kopf. Das war der Unterschied zwischen Engländern und Walisern. Beide hatten mehrheitlich für den Brexit gestimmt. Viele Engländer hatten gegen die Kontinentaleuropäer als Menschen und vor allem als Migranten im Rahmen der EU-Freizügigkeit gestimmt. Die meisten Waliser hatten gegen die EU als Institution gestimmt, waren aber den Menschen aus dem restlichen Europa immer noch freundlich eingestellt.
Als ich mich wieder setzte, standen die gleich gekleideten Herren am langen Tisch auf. Es war einer der traditionellen, walisischen Männerchöre und sie sangen auf mich und meinen „heldenhaften Auftritt“ das Volkslied „Calon Lân“, in dem es darum ging, dass ein reines Herz wertvoller ist als Gold, Perlen oder Schönheit. Weil ich dieses Lied zuletzt vom Kirchenchor auf meiner Hochzeit mit Luke gehört hatte, ging mir der Auftritt ziemlich nahe.
Danach stellte er sich und den Chor vor und bedankte sich, wohl wegen Timo, auf Englisch: „Ich denke, ich spreche im Namen aller Gäste, wenn ich mich für den Herren eben entschuldige. Diesen Eindruck wollen wir weder bei Ihrem deutschen Gast noch bei Ihnen als nach Wales zugewandertem Einwohner hinterlassen. Wobei Sie offensichtlich schon lange genug hier sind, um sich selbst in Landessprache wehren zu können. Bevor wir den Abend fortsetzen, haben Sie noch einen Liedwunsch, den wir singen dürfen?“
Ich hatte, aber wollte nicht unbedingt in ein Fettnäpfchen treten: „Bevor ich meinen Wunsch ausspreche, sind weitere Engländer anwesend?“ Einer meldete sich: „Ja. Ich bin Engländer. Aber nach 9 Jahren in dieser Stadt habe ich bestimmt schon jedes schmutzige walisische Lied über Engländer gehört.“ „Also dann…“ Ich fing selber an, die erste Zeile zu singen und nicht nur der Chor setzte ein, sondern jeder in der Kneipe, der nicht lachen musste. „We paid our weekly shilling for that January trip…“ Der Engländer winkte lachend ab. Es ging in diesem lustigen Lied eines bekannten walisischen Liedermachers um eine Gruppe Bergmänner aus Südwales, die in den späten 60er Jahren einen Wochenendausflug mit dem Zug zu einem Rugby-Länderspiel zwischen Wales und England nach London machten. Der Kracher, wegen dem ich nach anwesenden Engländern gefragt hatte, kam in den Strophen 3 und 4.
We got to Twickers early and were jostled in the crowd;
Planted leeks and dragons, looked for toilets all around.
So many there we couldn’t budge – twisted legs and pale:
I’m ashamed we used a bottle that once held bitter ale.
And we were singing hymns and arias,
‚Land of my Fathers‘, ‚Ar hyd y nos‘.
Wales defeated England in a fast and open game.
We sang ‚Cwm Rhondda‘ and ‚Delilah‘, damn, they sounded both the same.
We sympathised with an Englishman whose team was doomed to fail
So we gave him that old bottle, that once held bitter ale!
(Max Boyce – Hymns and Arias – Cambrian Records, 1971)
Derjenige, der sich als Engländer geoutet hatte, brachte die ganze Kneipe aus dem Takt, indem er bei der entsprecheden Textstelle skeptisch sein Bierglas anschaute.
Timo fragte mich dennoch nach der Gesangseinlage erst mal wieder auf Deutsch: „Wird man hier inzwischen öfter angemacht, wenn man als EU-Ausländer erkannt wird?“ „Nein. Mir ist es jetzt zum ersten Mal passiert. Und hier in Wales generell nicht so sehr. Hier ist man mehrheitlich gegen die Institution EU, nicht gegen Europäer. In England wohl schon öfter, aber auch da werden die Fälle von der Presse noch weiter aufgebauscht. Es passiert da trotzdem zu oft.“
Es wurde für uns Zeit zu gehen. Vor der Tür wollte Timo noch eine Zigarette rauchen und ging zu einem der Stehtische mit Aschenbecher. Ich ging mit und die Sechsergruppe junge Männer kam kurz danach auch zum Rauchen raus. Sie sprachen Walisisch und einer meinte zu dem von eben: „Und was machst Du jetzt ohne Arbeit?“ „Meinst Du ich finde nicht schnell wieder was? Es sind doch dauernd irgendwo Fahrzeuge kaputt.“
Da wurde ich hellhörig: „Was hast Du für einen Beruf gelernt?“ „Kraftfahrzeugmechatroniker bei Mercedes Vans und Trucks.“ „Würdest Du auch an DAF und Iveco schrauben und den Weg nach Deeside schaffen?“ „Klar. Warum?“ „Ich habe da eine Spedition und die hat derzeit vier DAF, einen modernen Iveco und einen historischen Iveco. Ich bin Landmaschinenschlosser und wollte mich um Werkstattsachen auch selber kümmern, aber das Büro kostet mich zu viel Zeit. Und bei moderner Elektronik muss ich sowieso aufgeben. Damals hatten die Trecker und Mähdrescher nur eine simple 12-Volt-Elektrik. Kabel durchschneiden, Y-Klemme rein, Kabel dran, fertig. Heute geht ein Weihnachtsbaum Warnlampen an, wenn man versucht, einen Zusatzscheinwerfer anzuschließen und der Elektronik für die Lichtsteuerung hinterher ein paar Milliampere zu viel fließen. Deshalb wollte ich demnächst sowieso jemanden für die Werkstatt einstellen. Der einzige LKW, mit dem ich da elektrisch noch klar komme, ist der Iveco Turbo.“
Seine Kumpels johlten: „Was ein Abend! Den alten Hammonds los geworden und gleich einen coolen neuen Chef!“ „Moment. In Deutschland sagen wir „so schnell schießen die Preußen nicht!“ Ich würde vorschlagen, wenn Du am Montag bei Deinem alten Chef warst, kommst Du bei mir vorbei und wir reden mal in Ruhe.“ Ich gab ihm eine Visitenkarte und wir verabschiedeten uns.
Als ich auf die A55 fuhr, schüttelte Timo nur den Kopf. „So hatte ich mir den Abend nicht vorgestellt.“ „Ich auch nicht.“ „Mal abgesehen von dem blöden Kerl eigentlich ein lustiger Kneipenbesuch.“ „Abgesehen davon auch ein recht typischer. Irgendwer hat immer einen Grund, besungen zu werden und dann wird das in Wales auch gemacht. Luke hat damals im Südwesten schon mal ein spontanes Geburtstagsständchen bekommen, als ich gesagt habe, er soll das Geld an seinem Geburtstag stecken lassen. Ich habe erlebt, wie ein Mann in einem Café seiner Freundin einen Antrag gemacht hat und sich danach spontan ein zufällig anwesender Männerchor um sie aufstellte und gesungen hat. Singen im Männerchor ist eine sehr walisische Tradition.“ „Ich find’s hier an sich cool. Aber warum mussten sie unbedingt für den Brexit stimmen?“ „Das wissen die meisten Leute hier selbst nicht mehr. Viele dabei haben sich gedacht, dass sie mit ihrer Stimme den Austritt ja nicht verursachen, aber mit einem hohen Ergebnis für Leave ein Signal setzen. Und die, die es mit Absicht getan haben, haben sich in Wales an die Themen Selbstbestimmung und Nettobilanz aus Förderung und Beiträgen geklammert, nicht an die Einwandererthematik. Hier leben sowieso zu wenige Leute. Vor allem zu wenig arbeitsfähige. Die gehen nach London oder Birmingham, wo es hip ist.“
„Wenn der Brexit nicht wäre, würde ich jetzt eine dumme Frage stellen.“ „Welche?“ „Ob Du eine freie Stelle für einen Berufskraftfahrer mit zweieinhalb Jahren Berufserfahrung hättest. Irgendwie kann ich diesen Job wohl nicht ohne Dich als Chef.“ Da hätte ich nun gar nichts gegen. Timo war inzwischen ein guter Fahrer, dazu ein Freund mit dem man Pferde stehlen konnte. „Den Bedarf hätte ich, aber den Arbeitsplatz müsste ich erst kaufen. Das heißt, den Arbeitsplatz hätte ich auch, aber ich muss einen neuen für den Mann kaufen, der gerade drauf sitzt.“ „Nur was nützt mir das nach dem Brexit? Es kann doch keiner sagen, wie lange ich hier sein darf!“
„Ich würde Dich sofort einstellen. Du kannst auf jeden Fall die kommenden 2 Jahre und 2 Monate hier arbeiten. Denn so lange gelten noch alle Rechte und Pflichten aus der EU-Mitgliedschaft, wenn Theresa May wie geplant Ende März Artikel 50 aktiviert. Und wenn sie eine Regelung für EU-Ausländer finden oder Du ein Visum bekommst, kannst Du auch danach bleiben.“ „Echt?“ „Klar. Du bist inzwischen ein guter Fahrer, ich kenne Dich und bin mir sicher, dass Du Dich hier ins Team einfügen wirst. Sag einfach „ja“ und Du steigst am Montag mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag ab März in der Tasche in Deinen LKW. Allerdings ab März dann in einen mit Lenkrad rechts.“ „Wenn ich Angst vor ungewohnten und großen Fahrzeugen hätte, dann würde ich jetzt in einem Bonner Penthouse sitzen und mich freuen, dass ich heute wieder zwei Leute dazu gebracht habe, ihr Erspartes so anzulegen, dass für mich die größtmögliche Provision anfällt.“
Samstag/Sonntag, 04./05.02.2017
Die zwei Tage verbrachten wir mit Timo. Dabei spielte das geschäftliche keine Rolle. Er hatte sein Angebot und gut. Ich bekam kurzfristig am Samstag noch Rückläufer-Karten für den Goodison Park. Luke blieb zu Hause. In fremde Stadien ging er nach wie vor nur in den Auswärtsblock, wenn Cardiff als Gastmannschaft spielte. Ich war da deutlich entspannter und würde mit einem Freund auch mal problemlos zu einem komplett fremden Spiel gehen, zum Beispiel mit Keith zu Sheffield Wednesday gegen wen auch immer – so lange es nicht Everton oder Cardiff wäre.
Immerhin bekamen wir was für mein Geld. Nach 30 Sekunden ging Everton 1:0 in Führung und obwohl Bournemouth zwischendurch auf 3:2 ran gekommen war, gingen wir nach einem torreichen 6:3 wieder aus dem Stadion. Nach dem Spiel gingen wir noch in eine Szenebar. Weil wir das Auto in weiser Voraussicht zu Hause gelassen hatten, konnten wir beide trinken, aber dafür mussten wir auch gegen 22 Uhr los, um den letzten Zug nach Shotton zu kriegen.
Den Sonntag ließen wir dann ruhiger angehen, mit einem selbst gekochten Full Traditional Breakfast, einem Spaziergang und ein paar Gesellschaftsspielen meiner Jugend, wie „Alaska“, „Der Schatz der Inka“ oder auch passend für uns „Auf Achse“.
Montag, 06.02.2017
Heute ging es zusammen mit Timo ins Büro. Denn der Arbeitsvertrag, den ich ihm versprochen hatte, schrieb sich nicht von alleine. Der Einfachheit halber kopierte ich den von Shawn. „31.000 £ im Jahr?“ „Ja. Kein Weihnachtsgeld, kein Urlaubsgeld. Einfach strack durch 12 geteilt.“ „Das sind ja fast 2.600 £ im Monat? Umgerechnet 3.000 Euro?“
„Ja. Brutto eben. Das ist zwar ein hohes, aber nach Definition immer noch ein Durchschnittsgehalt für einen Kraftfahrer im Vereinigten Königreich. Ich glaube wir liegen damit derzeit bei 72% Branchenlohnindex, also 28% aller Trucker, die Du hier im Land triffst, kassieren mehr. Du bist unter der Lohnsteuerbemessungsgrenze von 32.000 im Jahr, also zahlst Du haarscharf noch den niedrigsten Satz von 20%. Anders als in Deutschland ist es hier für die Steuer auch egal ob verheiratet, vergemeinschaftet oder ledig.
Dazu kommen Sozialabgaben, die im Vergleich zu Deutschland von der Höhe ebenso lächerlich sind, wie die Gegenleistungen, die Du dafür kriegst. Und so wird der dicke Haufen Asche immer noch kleiner. Auf jeden Fall solltest Du der gut geölten Versicherungsmaschinerie hier Geld für eine private Krankenversicherung und eine Zahnzusatzversicherung in den Hals schmeißen. Die Grundversorgung vom National Health Service sieht nämlich so aus, dass Du morgens hier in Deeside den NHS anrufst, weil Du krank bist. Und nach 3 Wochen kommt der Rückruf „Wenn Sie noch leben, hätten wir jetzt einen Arzttermin 50 Meilen weiter in Shrewsbury für Sie frei!“ Und wenn Du wissen willst, wie Dein Gebiss ohne Zahnzusatzversicherung in 30 Jahren aussieht, bitte einfach mal einen Lagerarbeiter Mitte 50 im dunkelsten Yorkshire zu lächeln. Private Altersvorsorge muss man in Deutschland inzwischen ja auch haben. Das ist hier nicht anders. Allerdings haben wir neben der direkten Staatsrente eine gesetzlich vorgeschriebene Betriebsrente, die hauptsächlich von der Firma und von Dir, mit einer kleinen Förderung vom Staat bespart wird. Sobald Du mindestens 2 Jahre hier arbeitest, hast Du unwiderruflichen Anspruch drauf. Wenn Du vorher vor Theresa May und ihrem Brexit means Brexit Wahnsinn auf den Kontinent zurück flüchtest, bekommst Du die Summe Deiner persönlich gezahlten Anteile steuerpflichtig aufs letzte Gehalt ausbezahlt.“
„Hm, das Wort Betriebsrente kennt Julian auch nicht. Aber nach Steuern und Fixkostenabzügen vom Netto klingt es ja trotzdem nicht so toll.“ „Och, unterm Strich finde ich es gerade für Dich hier nicht verkehrt. Auch wenn Du dann jenseits von Versicherungen hier mit 600 £ im Monat für eine Wohnung rechnen musst und Lebensmittel auch einiges kosten, sobald Du mehr als Pellkartoffeln mit Sour Cream essen willst. Und auch noch mal eine Versicherung, da wirst Du dann doch kräftig diskriminiert – in den ersten 3 Jahren kassieren sie Leute aus Ländern mit Rechtsverkehr bei der Autoversicherung extrem ab. Aber als Single hast Du hier auf jeden Fall deutlich mehr Kohle übrig als in Deutschland. Trotz der hohen Lebenskosten.“
„Das muss ich auf jeden Fall überlegen, ob da Österreich nicht attraktiver ist.“ „Die haben auch ein tolles Brutto, aber dafür hohe Steuerlast. Und Haider ist mir suspekt. Wie kann ich in Deutschland österreichisch bezahlen und konkurrenzfähig sein. Da lies auf jeden Fall auch mal das Kleingedruckte. Irgendwas muss da an anderer Stelle faul sein, oder David Haider ist genauso eine Pfeife in Betriebswirtschaft wie Patrick. Aber seriös gerechnet bei Felix in Perchtoldsdorf oder auch hier bei mir zahlen wir ja nicht so viel, weil wir es haben. Das kommt daher, weil es marktüblich ist und die Leute es ja auch brauchen, um in Österreich die Steuern selbst und hier nach den eher niedrigen Steuern die Mieten und Privatvorsorgen bedienen zu können. Das krasseste Beispiel ist Schweden. Die haben die höchsten Bruttogehälter in der EU. Verfügbares Realeinkommen gegen Kaufkraft können die sich dann aber im wahrsten Sinne des Wortes nichts für ihr dickes Bruttogehalt kaufen. Nach Steuer und Fixkosten schneidet Schweden dann nämlich am schlechtesten von allen EU-Staaten ab, was den Gegenwert des frei verfügbaren Geldes angeht.“ „Geld ist ja nicht alles. Österreich bietet mir wenigstens eine sichere Zukunft als EU-Ausländer. Bis wann musst Du es wissen?“ „Theoretisch kannst Du mit unterschriebenem Vertrag hier am 1. März auf der Matte stehen. Praktisch wäre mir ganz lieb, wenn ich es wenigstens zu Arbeitsbeginn am 27. Februar wüsste. Das ist der Montag davor. Dann kann ich mir die paar Dinge, die ich dafür erledigen muss, wenigstens so legen, wie sie mir passen. Noch früher immer gerne. Das geht hier so schön unbürokratisch. Einen neuen Arbeitnehmer habe ich bis zum Mittag online überall angemeldet. Nicht wie in Deutschland eine Welttournee von Steuerberater über IHK bis zur Krankenkasse mit persönlichem Vorsprechen. Das Leben ist generell angenehm unbürokratisch hier.“ „LKW wäre dann da?“ „Ja. Ich beschaffe für Shawn auf jeden Fall vor Monatsende einen neuen. Dafür soll eigentlich ein alter DAF weg, aber dann stelle ich den so lange hier hin, bis ich weiß, was mit Dir ist. Den müsstest Du dann halt erst mal ertragen.“ „Okay. Ich melde mich.“
Nachdem Timo weg war, hörte ich Shawn und Alex gleichzeitig ins Bürogebäude kommen. Ich gab ihnen ihre Unterlagen am Dispo-Tresen. Alex durfte ziehen, Shawn noch nicht. „Shawn, kommst Du mal bitte in mein Büro?“ Er fasste an die Türklinke. „Kannst Du auf lassen, ist nichts Schlimmes. Im Gegenteil. Was hättest Du denn gerne für einen neuen LKW?“ „Was darf ich mir denn aussuchen?“ „Die Marke. Ich mache einen Motivationsfuhrpark. Um Motorisierung und Modell kümmere ich mich, zumal der schnell hier sein soll. Du kriegst mit Deinem Fahrprofil aber sicher die größte Kabine und nicht zu wenig PS.“ „Dann sage ich mal ganz unverschämt Scania.“
Ich war bekannt, meinen Leuten mal einen dummen Spruch reinzuwürgen, aber auch die Antworten auf Augenhöhe zu ertragen. Flapsige Sprüche waren hier keine Einbahnstraße vom Chef zum Personal wie in manch anderem Betrieb. „Musst Du irgendwelche Körperteile kompensieren, dass es diese Marke sein muss?“ „Was heißt hier Teile? Der ganze Körper ist nur 5 Fuß 7!“ Das waren fast glatt 170 Zentimeter.
„Dann passt Du immerhin rein. Ich denke nämlich, dass es ein Streamline-R im Abverkauf wird und kein neuer S. Und das ist auch mit höchstem Dach eine eher kleine Hütte.“ „Hauptsache Greif am Kühler!“ Er grinste breit. „Sofern es überhaupt eine Auswahl gibt, welches Getriebe hättest Du lieber? Automatik oder Handschaltung?“ „Das fragst Du noch? Handschalter natürlich.“ „Aber denk dran. Wenn es doch eine Serie 7 wird, baut Scania nur noch Automatik.“ „Ja leider. Das ist der Untergang des Abendlandes. Scania streicht das Schaltgetriebe aus dem Programm. Frag aber mal, ob ein Linkslenker irgendwo rum steht. Das war echt praktisch mit den Mautstationen im Oktober mit dem Mietwagen.“ „Kann ich machen, wäre aber ein Glückstreffer. Allerdings bekommst Du im neuen einen Transponder für Telepeage in Frankreich und Easygo in Skandinavien.“ „Das ist noch besser, dann kann ich auch auf der rechten Seite sitzen bleiben.“ Das war ein englisches Wortspiel, wo „right side“ sowohl die rechte Seite als auch die „richtige Seite“ bedeutete. Auf Deutsch wäre das vor 100 Jahren noch gegangen, aber inzwischen war „recht“ für „richtig“ doch veraltet.
Nachdem Alex schon verschwunden war, machte sich auch Shawn auf den Weg. Luke wusste sowieso, was er zu tun hatte – einmal Hull und zurück. Davey und Merwyn hatte Philip inzwischen mit Papieren und Tourdaten verarztet.
Mein erster Anruf galt nun aber erst mal unserem Subunternehmer Adrian Malone. Denn wenn ich hier jemanden in die Werkstatt stecken wollte, dann musste ich den auch auslasten. Und das war mit unseren 5, vielleicht bald 6 Trucks auch bei vierteljährlicher Durchsicht noch recht wenig Arbeit. Eine offizielle Werkstatt anmelden wollte ich auch nicht. Aber Adrian Malone sagte mir zu, dass er dann auch LKW bei uns warten lassen wollte.
Ich rief dann also mal bei Deeside Truck Services an, dem nächsten Händler für Shawns Wunschmarke. Der Verkäufer hatte morgen Zeit für mich.
Gegen 11 Uhr klingelte es dann und meine Kneipenbekanntschaft stand vor der Tür. Er hieß Benjamin Bates, genannt Ben und war 24 Jahre alt. Er hatte die Ausbildung bei Mercedes Vans and Trucks in Llandudno Junction mit 17 angefangen, war dort geblieben und hatte damit seit dem Abschluss 4 Jahre Berufserfahrung. Es war hier anders als in Deutschland kein Problem, dass er eigenverantwortlich Reparaturen durchführte. Dazu brauchte er nur eine Ausbildung und „ausreichend Berufserfahrung“, wie auch immer man die definieren wollte. Eine Meisterpflicht existierte nicht. Und ganz ahnungslos war ich als Landmaschinenmechaniker ja auch nicht. Eine saubere Arbeit konnte ich schon erkennen und würde erst einmal Abnahmen seiner Arbeiten machen. Nur bei der Elektronik musste ich passen, aber die meckerte wenigstens von alleine, wenn was falsch bearbeitet worden war. Das war ja mein größtes Problem mit ihr.
„Bliebe das Thema Anfahrt. Llandudno ist ja schon etwas weit weg.“ „Das wäre vorübergehend. Ich bin in der Ausbildung in eine WG gezogen und war bisher zu bequem, mir was Neues zu suchen. Aber die Leute von damals sind inzwischen weg, jüngere nachgekommen und ich bin der Gemeinschafts-Opa. Ich will da sowieso raus.“
„Apropos raus. Wie hast Du Dich denn nun mit Deinem Chef geeinigt? Wann kannst Du hier anfangen?“ „Ich muss noch meinen Resturlaub nehmen, das sind aber so früh im Jahr nur ein paar Tage. Theoretisch also Donnerstag.“ „Okay. Nächste Frage, hast Du einen LKW-Führerschein oder bist Du reiner Hofkutscher?“ „Nur Hof.“ „Okay. Dann hast Du ja schon mal was zu tun, bis der nächste LKW zur Inspektion ansteht. Ich will, dass Du Probefahrten machst und außerdem werden wir auch Fahrzeuge eines Kooperationspartners warten. Die müssen dann auch mal von oder nach Warrington überführt werden. Zahlen wird Dir den Spaß dann die Firma.“ Die entsprechende Vertragsklausel sicherte mich insofern ab, dass der Führerschein zurückzuzahlen war, wenn er kürzer als 2 Jahre im Unternehmen blieb.
Als nächstes gingen wir in die Halle und sahen uns die Werkstatt an. Mechanisch war die gut ausgerüstet. Aber eben nicht mehr: „Ein Diagnosegerät, das J1939 und E-OBD lesen kann, werde ich noch brauchen. Der übrige, einfache Elektrokram reicht erst mal. Platinen reparieren muss ja nicht sein, wenn hier keine Fahrzeuge aus den 90ern unterwegs sind. Bei allem ab ungefähr Baujahr 2000 kann man ein modernes Steuergerät einsetzen und das passt sich dem Fahrzeug an. Aber beim ersten Actros, dem ersten Volvo FH oder solchen Modellen geht das normalerweise noch nicht. Wenn man da kein Ersatzteil kriegt, muss man auch mal auf der Platine rum löten. Die Fahrzeugsoftware über den CAN-Bus umschreiben kann ich auch mit einem einfachen PC und dem Kabel vom Lesegerät. Laptop oder Tablet wäre angenehm, aber nicht zwingend.“ „Was willst Du denn da dran rumspielen?“ „Deinen Zusatzscheinwerfer von Freitag vor der Kneipe beim Steuergerät anmelden zum Beispiel.“ Okay, da war was dran.
Das dienstliche war durch, aber er war dann doch neugierig: „Walisisch hast Du hier oben aber auch nicht gelernt, oder? Hört sich mehr nach Westen an. Aberystwyth oder so.“ „Dicht dran. Gelernt habe ich es zwar in Pembrokeshire, aber von jemandem aus Cardigan.“ „Hört man.“ „Du bist aber auch nicht von hier? Südosten würde ich sagen, irgendwo um Cardiff oder Newport.“ Wir hatten das ganze Vorstellungsgespräch auf Walisisch gemacht. Mittlerweile ging es mir mit der Sprache wieder so wie mit Englisch. Ich dachte nicht mehr drüber nach sondern sprach sie einfach. „Nicht schlecht erkannt, ich bin eigentlich aus Pontypool.“
Spontan stimmte ich als Antwort die erste Zeile eines anderen bekannten Liedes von Max Boyce an: „Now I’ll tell you all a story about some lads I know.“ Er sang einfach die zweite: „Who are known throughout the Valleys as the Pontypool Front Row.“ Weil er bei den letzten Noten mich wieder so fragend angeschaut hatte, übernahm ich einfach wieder. Nach dem ersten Refrain hörten wir aber auf, denn wie bei vielen Liedern, die einen nur mäßig sinnvollen Text haben und bevorzugt im Zusammenhang mit Alkohol gesungen werden, hatte es zu den ursprünglichen Strophen gut zugelegt und man konnte sich locker mehr als 10 Minuten mit diesem Lied beschäftigen, wenn man genug Strophen kannte.
„Ich finde es cool, dass jemand Walisisch lernt, obwohl man es im Alltag nicht braucht und auch noch volkstümliche Lieder kennt.“ Auch wenn Max Boyce oft englisch getextet hatte, weil die Lieder sich meistens um den Volkssport Rugby drehten und die englischen Gegner die schmählichen Texte auch verstehen sollten. „Wenn ich mir den deutschen Heimatverein suche, integriere ich mich ja nie. Das ist der Grund, warum es weltweit mit der Integration klemmt. Weil man immer nur seinesgleichen sucht und sich abgrenzen will. Als die deutschstämmigen nach 1990 aus der zusammenbrechenden Sowjetunion in die Gegend kamen, wo ich aufgewachsen bin, hat meine Mutter es auf den Punkt gebracht. „Drüben haben sie wahrscheinlich immer deutsch geredet und waren die Deutschen! Jetzt sind sie hier und reden dauernd russisch, aber wundern sich, warum sie alle nur die Russen nennen!“ Das Leben in der neuen Heimat anzunehmen und der dortigen Gemeinschaft beizutreten heißt ja nicht, seine alte Heimat zu verraten. Ich spreche weiter deutsch mit meinen Eltern am Telefon, nutze deutsche Medien und bei Sportereignissen kommt Deutschland noch vor dem Vereinigten Königreich oder bei getrennten Nationalmannschaften gerne mal gleichauf mit Wales. Aber im Alltag muss ich Englisch oder Walisisch reden, die Nachrichten von BBC gucken um zu wissen was hier los ist und auch mal im Pub einen Cider trinken gehen, um angenommen zu werden.“ „Oder einem Männerchor beitreten, so wie Du singen kannst.“ „Vielleicht auch das. Mal sehen.“
Es stand jedenfalls mal fest, dass ich ihn nehmen würde. Wir hatten bei Malone und uns selbst genug LKW, dass sich jemand in der Werkstatt lohnte und er würde ins Team passen. Also machte ich einen Vertrag fertig, den wir gleich unterschrieben und er fuhr los, sich eine Wohnung in der Gegend suchen.
Dienstag, 07.02.2017
Nachmittags fuhr ich dann zu Scania, wo mich Jasper Young, der Verkäufer, erwartete. Dass ich innerhalb von 3 Wochen keinen Scania Serie 7 bekommen konnte, war mir vorher klar und er bestätigte es auch sofort. Ich sagte ihm also, was ich wollte: 500 PS plusminus, lieber plus als minus, Euro 6, Dreiachser mit Liftachse, Fernverkehrskabine, bevorzugt Schaltgetriebe, neu oder geringe Laufleistung.
Er fragte, ob das mit den 500 PS und mehr denn sein müsste. Nachdem die Anzahl der Treffer, alleine nachdem dieser entsprechende Filter gesetzt war, von mehreren 1000 auf 74 abstürzte, wusste ich warum. Aber wir fuhren im Inland, nach Skandinavien und teilweise auch noch auf die Fähre in die Niederlande mit bis zu 44 Tonnen Zuggewicht und warfen vor der Weiterfahrt in ein anderes Land dann an einer oder zwei niederländischen Entladestellen den überzähligen Ballast ab oder luden auf dem Rückweg von 40 noch auf 44 Tonnen zu. Und 44 Tonnen Transpennine oder von Tyneside nach Schottland mit unter 460 brauchte man gar nicht erst losfahren, da verhungerte man bei Vollgas am ersten Anstieg. Nach einigem Filtern blieben gerade mal 2 Maschinen übrig, die wenigstens annähernd in die Wunschliste passten, neu waren oder keine beunruhigende Vergangenheit im verschleißintensiven Schwerlastverkehr hatten und nicht zumindest gefühlt auf den Shetlands parkten.
Ich ließ mir für vier Fahrzeuge, von denen zwei „nur“ 490 PS hatten, die Verkaufsdokumente zumailen und verabschiedete mich. Einer von denen würde es werden.
Mittwoch 08.02.2017 bis Donnerstag, 23.02.2017
Als erstes bestellte ich den Scania, der sich nach der berühmten Nacht zum Überschlafen durchgesetzt hatte. Dann meldete ich Ben zur Fahrschule an. Daveys Schulwoche fuhr diesen Monat Philip mal. Für die Woche drauf stellte ich Luke zum Lackieren frei, teilte Davey für den täglichen Pendel nach Hull ein und buchte zwei Tage Jeremy als Springer, weil Alex über seinen Geburtstag Urlaub genommen hatte.
Eine der ersten Aufgaben für Ben wurde es dann, den neuen Scania lackierfertig zu machen. Und das war eine große und bescheidene Aufgabe. Er besprach mit Luke, was die beste Ausgangsbasis war und das bedeutete so viel wie möglich an nicht zu lackierenden Teilen abbauen und dann den bestehenden Lack bis auf die Grundierung abzuschleifen. Herzlich willkommen bei KFL.
Auch nicht allzu lange dauerte es und Timos Arbeitsvertrag trudelte unterschrieben ein. Ab dem 20. hatte er frei und wollte rüber kommen, um sich eine Wohnung zu suchen und die ersten anderen Dinge zu regeln, sofern er das ohne Wohnung konnte. Irgendwie konnte er wohl wirklich nicht ohne mich als Chef. Ich beschloss, für den neuen LKW erst mal einen Trailer zu mieten. Wir würden auf jeden Fall einen weiteren Zug voll kriegen, aber die Frage war, ob das eine weitere Plane oder ein Kühler sein sollte. Ich fragte mal bei André nach, der den Überblick in Deutschland hatte, wie die Auslastung von Maxims Kühlerzug so war. Großbritannien stand ja etwas zu Unrecht nicht in dem Ruf, kulinarische Exportschlager zu handeln, war aber gleichzeitig – zumindest noch – die Fischhalle der EU.
Als ich Julian anrief, um mit ihm ein paar Details zu Timos Wechsel zu besprechen, war er ein Bisschen genervt. „Was ist denn?“ „Das hat unser ehemaliges Traumpaar gut hinbekommen. Timo hätte auch hier bleiben können, ohne seinem Ex auf die Füße zu steigen!“ „Warum? Geht Ilarion auch?“ „Ja, wird aber direkt ersetzt und bleibt in unserem Netzwerk. Er lässt sich zum 1. April nach Perchtoldsdorf eintauschen und von Felix auf die Balkantouren stecken. Dafür kommt Jan Herold hier her.“
„Hättest Du denn dann überhaupt genug Trucks gehabt? Oli eiert doch immer noch mit dem Pema-DAF rum, oder?“ „Man hätte ja noch einen von Pema holen oder den Magnum, den ich als nächstes von unseren eigenen raus schmeiße, etwas behalten können. Vorher ist aber tatsächlich Oli mit einem firmeneigenen dran. Ich finde es eine Zumutung, dass er seit einem Jahr mit etwas rumgurkt, wo dick „Provisorium“ auf der Seite steht. Und über hohe Laufleistungen muss ich mit Dir ja nicht sprechen. Was hat denn das Schätzchen runter, das Timo jetzt kriegt?“ „In Kilometern über eine Million. Und weniger als Davey seiner. Ich bin ja schon ruhig. Irgendeine höhere Macht will verhindern, dass ich hier die 105er DAF abgebe, scheint mir.“
Timo kam am 19. Februar rüber und ging auf Wohnungssuche. Recht schnell hatte er eine nicht mehr ganz frische, aber dafür günstige Worker’s Cottage in Connah’s Quay gemietet. Diese „Arbeiterhütten“ waren die eingeschossige Ausführung der bekannten britischen Standard-Reihenhäuser.
Sie waren für eine Person ausgelegt und hatten früher keine Badezimmer sondern ein „Outhouse“ wo neben dem Plumpsklo auch eine Waschmöglichkeit mit eiskaltem Brunnenwasser war. Die Bäder waren bei Modernisierungen meistens von der Küche abgezweigt worden, so dass man heute weder Platz für die Körperpflege noch zum Kochen hatte. Dazu kam ein weiteres Zimmer, das Wohnzimmer, Schlafzimmer und Esszimmer auf einmal war. Für einen die meiste Zeit sowieso in der Weltgeschichte herumfahrenden Single reichte so was aber locker.
Mit einer Postanschrift konnte er sich dann auch um andere Dinge kümmern, allem voran ein Auto. Wie vorhergesagt schaute er ziemlich sparsam, als er sah, was er für die Versicherung zahlen musste. Und er musste auch feststellen, dass die Einwandererstrafe für Leute aus Ländern mit Rechtsverkehr den Fahrzeugtarif überdeckte. Ob er sich einen Ford Ka oder einen Porsche Boxster kaufen würde, spielte für den Haftpflichtbeitrag eine ziemlich untergeordnete Rolle.
Immerhin schaffte er es, sich für geradezu lächerliche 11.000 £ einen beneidenswerten Youngtimer zu schießen und rollte am Donnerstag mit einem Ford Sierra Sapphire RS Cosworth auf den Hof. Sapphire hießen in Großbritannien die Stufenheckversionen, Sierra nur das Fließheck und der Kombi. Die Cosworth-Modelle mit Stufenheck hatten abweichend einen Doppelnamen. Beim Escort hatte es der Orion bekanntlich auch nach Deutschland geschafft.
Der Wagen stand mit für das Alter gerade mal 90.000 Meilen und trotz am Ende nur noch 500 bis 1000 Meilen Jahresleistung pünktlich in der Vertragswerkstatt durchgeführter Inspektionen da wie aus dem Ei gepellt und stammte aus einer dieser Rentnerhände Marke „je oller desto doller“. Wobei man nicht vergessen durfte, dass der heutige Rentner den Neuwagen vor 25 Jahren wohl eher zur Bewältigung der Midlife Crisis bestellt hatte.
Weil Timo auf dem Kontinent seinen Focus ST natürlich schon verkauft hatte, fuhr er zum Wochenende mit dem Sierra nach Deutschland, um dort die Abmeldesachen zu regeln und wichtige Dinge wie Papiere und Wertsachen im Auto mitzunehmen. Seinen Hausrat wollte er kommende Woche auf bewährte Art bei einem unserer Trucks aufladen und hier rüber bringen lassen. Wenigstens war das Wetter einigermaßen trocken und vor allem schon seit Wochen warm genug um die Straßen salzfrei zu haben.
Morgen würde Shawn seinen DAF ausräumen und seinen Scania bekommen. Luke hatte sich beim Lackieren mal wieder selbst übertroffen. Und ich hatte erlaubt, dass er in gewissen Grenzen die Lackierung individuell an die Fahrer anpassen konnte. Ich war gespannt, wie Shawn reagieren würde, wenn er merkte, was Luke da geschaffen hatte.
Freitag, 24.02. bis Sonntag, 26.02.2017
Es war für die meisten ein ganz normaler Arbeitstag. Für Luke nicht, weil er mal keine Ladung abliefern musste, sondern den LKW selbst. Er hatte sich eine Sonderlackierung vorgenommen, die ihn gut beschäftigt hielt. Zum Wochenanfang hatte er mit der großen Pistole Flächen lackiert, dann mit dem Pinsel Zierlinien gezogen und mit der kleinen Pistole Beschriftungen und Teile der Dekoration aufgebracht.
Die meisten Lackierer würden vermutlich den Kopf schütteln, dass er detaillierte Dinge wie Wappentiere anstatt mit einer Airbrush lieber mit Sprühdosen umsetzte. Auch wenn ich ihn erst mit 22 kennen gelernt hatte, wusste ich von Fotos, wie Luke mit 16, 17 Jahren ausgesehen hatte und was er für Klamotten getragen hatte. Als ich ihn bei einem Gang durch die Halle eine Sprühdose schütteln hörte, wurde aus dem gestandenen und gereiften Mann, der da in professioneller Schutzausrüstung für solche Aufgaben auf einer Arbeitsbühne am Dach des Scanias eine Verzierung lackierte, vor meinem inneren Auge ein leicht durchgeknallter Teenager. Er hatte ein Motorradfahrertuch bis über die Nase hoch gezogen, die Spitze seines gegen die dunkelblonden Haare fast weiß blondierten Iro guckte unter der Kapuze eines schwarzen Pullovers hervor. Ich stellte mir vor, wie er damals in so einem Aufzug Brückenpfeiler, Fabrikhallen oder Güterwagen mit den Dosen attackiert hatte.
Er sagte, dass er Bilder, Farbverläufe und Effekte immer noch besser mit Dosen und einer Hand voll Wechseldüsen hinbekam als mit der eher kopflastigen und nach hinten raus mit Schläuchen verbundenen und die Bewegung einschränkenden Airbrush. Aber ich war mir sicher, dass er sich in dem Moment auch an seine nicht immer vernünftige aber immer exzessiv gelebte Jugend zurück erinnerte.
Nach der Mittagspause prüfte er noch mal kritisch alle Seiten des Fahrzeugs und war zufrieden. Nun fehlte nur noch der Hauptdarsteller, denn heute durfte unser Schotte seinen neuen Truck in Empfang nehmen. Weil er das vorherige Wochenende draußen geblieben war, wusste er gar nicht, was ihn erwartete. Die Marke hatte er sich gewünscht, aber er wusste nicht, ob es ein Highline oder Topline, Reihensecher oder V8 war und wie viele PS drin steckten. Von der Lackierung erst gar nicht zu sprechen.
Schließlich kam Shawn auf den Hof gefahren und ich holte ihn als erstes für die Übergabezeremonie aus der Zugmaschine. Betanken musste er die sowieso nicht, ausräumen konnte er sie gleich noch. Luke und ich führten ihn in die Halle, wo in der Ecke neben der Lackierkabine sein neuer LKW mit vollem, derzeit allerdings rein serienmäßigen Lichtschmuck stand. „Schottische Disteln auf dem Fender. The Flower of Scotland, extra für mich?“ „Nicht nur.“ „Der Fensterstreifen, das ist doch mein Clan Tartan, oder?“ Die sah man von vorne kaum, zumal die große Beleuchtung noch nicht eingeschaltet war.

Es wurde hell in der Halle. Shawn ging um den LKW zur Fahrerseite und schlug die Hände vors Gesicht: „Oh mein Gott! Nicht nur der Tartan! Das Clanzeichen auch noch! Und der Clanname und das Familienwappen! Ich… ich bin sprachlos!“

Wir ließen ihn alleine, er musste seine Sachen in den neuen Truck räumen und den DAF dann noch „besenrein“ hinterlassen. Ben sollte da Montag oder Dienstag eine professionelle Reinigung innen und außen durchführen, damit Timo am 1. März einen „neuen“ Truck bekam – sah man von den auf inzwischen 655.000 Meilen angesammelten Gebrauchsspuren ab.
Nach der alten Regel, dass in diesem Job Deine Kollegen auch Deine besten Freunde sind, waren wir am Samstag bei Alex zum Afternoon Tea eingeladen, seinen Geburtstag nachzufeiern. Auch an Timo hatte er gedacht, selbst wenn der erst am Mittwoch bei uns anfing. So konnten ihn die wenigen in der Firma, die ihn noch nicht getroffen hatten, aber wenigstens gleich kennen lernen.
Immerhin hatte Alex noch genug Freunde neben der Arbeit, so dass es später am Abend für eine Party mit denen reichte. Von der Firma „durfte“ nur Shawn dafür hierbleiben. Luke und ich verabschiedeten uns mit dem Rest und wir fuhren wieder nach Hause.
Montag 27.02. bis Dienstag 28.02.2017
Eine neue Woche begann, und zwar wie jede. Das Frühstück wie in den meisten Privathaushalten war unter der Woche eher ein einfaches Porridge. Danach fuhren wir zur Firma und waren wie so oft als erste da. Luke schnappte sich seine Mappe mit den Frachtpapieren, setzte sich in seinen Iveco und fuhr vom Hof in Richtung Hull zum Trailertausch.
Ich ging ins Büro und machte es mir erst einmal im Dispo-Büro bequem. Der erste, der es kaum erwarten konnte, in sein neues Arbeitsgerät zu kommen, war Shawn. Passend zur blauen Zugmaschine hatte es auch einen neuen Dennison-Trailer mit blauer Plane gegeben. Die waren bei uns aber nicht fest zugeordnet. Derzeit achtete ich nur nach Möglichkeit auf passende Farbkombinationen. Jetzt waren erst einmal noch drei Fruehauf mit grüner übrig.
Shawn bekam seine Unterlagen, soweit seine Tour schon disponiert war. Das war sie allerdings „nur“ bis Malmö, wo er morgen Nachmittag eintreffen sollte. Heute durfte er nur nach Immingham zur Fähre, er war auch schon vorgeladen.
Nachdem alle anderen Fahrer auch unterwegs waren, nahm ich mir erst einmal die Zahlen vor, die ich teilweise selbst gezogen, aber noch nicht ausgewertet hatte. Den Rest hatten Marlon und Steven beigesteuert. Das Ergebnis war eine schlechte Nachricht für Timo, wir brauchten zwar nicht unbedingt einen weiteren Curtainsider, aber dafür einen Kühler, weil Maxim aus Deutschland kommend mit Kühlfracht hoffnungslos überlastet war. Judith und André mussten teilweise schon Ladungen absagen.
Und wir hatten hier in Deeside keine einzige Zugmaschine im Bestand, die für Kühler eingerichtet wäre. Einen Moment lang dachte ich daran, Julian den Magnum abzukaufen, der die bessere Dämmung hatte und den er demnächst loswerden wollte, aber als ich im nächsten Moment eine Vorstellung von der Kraftfahrzeugsteuer für einen nicht auf 38 Tonnen abgelasteten Zweiachser und von der Versicherung für einen Linkslenker bekam, ließ ich den Gedanken schnell wieder fallen. Also würde sich entweder Timo vor Alex drängeln mit einem neuen Truck oder Alex bekam den Kühler verpasst, wenn er eine neue Maschine mit Dämmung hatte.
Später ging ich in die Halle, wo inzwischen Ben sich an die Arbeit gemacht hatte und bei einem Mercedes Axor von Malone das Fahrerhaus kippte. Leider musste der Fahrer von Malone den hier her bringen, bis Ben den Schein hatte. Das war der Haken an dieser Vereinbarung. Wahrscheinlich sollte ich einen Werkstattwagen kaufen, irgendwas in Richtung Renault Kangoo oder so. Dann konnte er damit fahren, um kleinere Sachen auch dort bei Malone auf dem Hof machen oder später von da den LKW rein holen, aber mit Firmenwagen mobil sein. Obendrein wäre in der Nähe auch mobile Pannenhilfe möglich, falls ein LKW von Malone oder – bei unserem Aktionsradius eher unwahrscheinlich so sehr in der Nähe – einer von unseren eigenen liegen blieb. Und auch Wyatt & Stack könnte ich zumindest unseren Pannendienst anbieten. Werkstatt hatten die zwar selber und auch einen Pannenhilfswagen, aber dann musste der nicht mehr im schlimmsten Fall bis in diese Region fahren.
Erst mal sollte Ben aber ein paar Wochen hier arbeiten und ich wollte ein Bild von ihm und seiner Arbeit kriegen. So lange musste ich eben in den sauren Apfel beißen und, sofern er zu einer Reparatur raus fuhr, ihm sein Kilometergeld auf den Privatwagen ausbezahlen.
Den Rest des Tages nutzte ich, um einen Kühlauflieger zu mieten, Routinearbeiten zu machen, Aufträge anzunehmen und in die Touren einzuplanen. Am Nachmittag war dann wie üblich die letzte Amtshandlung die Unterschriftenmappe von Philip. Da war allerdings traditionell wenig drin. Es gab Geschäftsführer, die jede Bestellung für 5 Bleistifte gegenzeichnen mussten. Da zählte ich mich nicht zu. Bei größeren Posten musste ich in der Tat freigeben, aber grundsätzlich hatte ich da eine eher lockere Herangehensweise. Je mehr Vertrauen man seinen Mitarbeitern entgegen brachte, umso besser war die Arbeit, die man dafür bekam.
Am Dienstag musste ich mit dem verbliebenen XF105 den Leihtrailer bei der Chereau-Niederlassung abholen. Ich hatte einen Werkstrailer gemietet. Der war komplett neu und wir konnten ihn sogar in unseren Farben folieren, während er gemietet war oder ihn auch kaufen, wenn wir ihn behalten wollten. Danach stand für Ben eine professionelle Reinigung der Zugmaschine auf der Agenda, bevor die morgen an Timo ging.
Mittwoch, 01.03.2017
Zuerst schickte ich Davey los nach Newcastle. Danach war der altbekannte Neuzugang an der Reihe. „Also, Timo. Erst mal eine schlechte Nachricht. Du bekommst einen Kühler.“ „Na und?“ „Du bekommst auch ein ungedämmtes Fahrerhaus, wir haben nämlich keine anderen. Sonst hätte ich den Trailer schon jemand anders an den Haken verpasst.“ „Okay. Ich habe aber sowieso Ohrstöpsel dabei.“ „Diese Halbwoche schläfst Du beide Nächte auf der Fähre, noch mal Glück gehabt. Entweder bist Du als nächster mit einer neuen, gedämmten Maschine an der Reihe oder Alex kriegt eine und den Kühler. Das können wir zu dritt ausdiskutieren, wenn der nächste LKW zum Kauf ansteht.“ „Gut.“
„Auch wenn Du denkst, Du kannst alles, kommt jetzt erst mal eine kleine Unterweisung. Denn hier ist einiges anders, nicht nur die Straßenseite. Aber damit fängt es an. Klingt banal und Du hast ja mit Deinem Sierra auch schon die ersten Meilen mit Rechtslenker rum, aber beim LKW gibt es eine Gemeinheit, die Du beim PKW nicht so richtig spürst. Du wirst in der ersten Zeit öfter nicht dran denken und dann stehst Du da. Du musst jetzt anders rum anfahren. Wenn Du rückwärts an die Rampe fährst, ist der blinde Spiegel links. Auch wenn Du rechts im LKW sitzt, kann ich Dir aus eigener Erfahrung sagen, dass es ein paar Wochen dauern wird, bis sich der Automatismus bei der Anfahrt auf dem Hof umstellt.“ „Sonst was zu beachten mit der Lenkradseite?“ „Ja. Für den LKW haben wir keine Telepeage und Easygo Transponder mehr bestellt. Lohnt den Aufwand nicht mehr. Die haben derzeit nur Alex, Merwyn und Shawn. Kriegst Du auch für den nächsten. Bis dahin musst Du mit der Routex-Karte Maut bezahlen und das heißt, dass Du Dir bei Fahrten nach Frankreich oder über skandinavische Brücken besser nichts in den Fußraum auf der Beifahrerseite schmeißen solltest. Denn dann musst Du fix ans Beifahrerfenster und zurück turnen.“ „Okay.“
„Allgemein zu dem LKW, der hat auch keine Sicherheitsschlösser an den Türen. Wenn Du in einer unsicheren Gegend stehst, machst Du am besten das, was ich schon im Mahlerschen Turbostar gemacht habe und ziehst einen Spanngurt quer durchs Fahrerhaus von Türgriff zu Türgriff, bevor Du ins Bett gehst.“ „Den Trick kannte ich noch nicht.“ „Wozu auch? Bisher hattest Du immer LKW mit Panzerschlössern.“
„Zum Fahrzeug selber, Du bist Dreiachser mit Vorlaufachse gefahren ohne Ende und Du hattest auch mal den 106er DAF von PEMA, insofern ist der 105er kein großes Geheimnis. DAF ist da zum Glück recht konservativ, was Änderungen am Bedienkonzept angeht. Wenn Du mit dem 106er klar gekommen bist, dann stellt Dich alles bis zum 95XF zurück nicht vor größere Rätsel.“
„Dann haben wir noch des Briten liebstes Thema – Arbeitssicherheit. Dass Du außerhalb vom LKW keinen Schritt ohne Warnweste machen darfst, ist Dir ja auch als Ausländer schon bekannt. Für einen einheimisch angestellten Fahrer, der bisher nur für Talke getrailert ist, kommen noch ein paar Punkte dazu. Das angenehmste ist, dass es einem Fahrer eines britischen LKW im Vereinigten Königreich gesetzlich verboten ist, hinter der Gefahrenübergangslinie zu laden. Wenn Du an einer Rampe stehst, dann ist die im Trailer, Du machst also die Ladungssicherung weg und wieder vor, sonst gar nichts. Ach doch. Du gibst fast immer Deinen Zündschlüssel zusammen mit den Papieren beim Lagerleiter ab. Sonst fangen sie nicht an zu entladen. Du könntest ja versehentlich im falschen Moment wegfahren und ihrem Staplerfahrer den Boden unter den Rädern wegziehen. Manche Kunden haben ein dickes Gitter, das sie Dir stattdessen vorm LKW zusperren oder ziehen die Trailerbremse ab und packen ein Schloss auf den Schlauch. Dann kannst Du den Schlüssel auch behalten.
Solltest Du mal einen Curtainsider haben und auf dem Hof entladen werden, dann machst Du die Vorhänge auf und zu, die Streben und die Ladungssicherung weg und wieder vor, sonst wieder nichts. Wenn Du mit einem Stapler über Heck geladen wirst, dann bringst Du mit einem Handhubwagen die Paletten nach hinten oder fährst sie von da nach vorne in den Formschluss. Solltest Du einen unserer Fruehauf-Trailer mit Hubbühne haben, dann musst Du beim Laden über Bühne zusätzlich die Bühne ablassen und anheben. Von der Bühne auf den Hof nehmen oder vom Hof auf die Bühne stellen macht der Kunde. In Ausnahmefällen und mit gesundem Menschenverstand kann davon auch mal abgewichen werden. Wenn der Kunde Rollwagen von Hand ablädt, kannst Du alleine um Zeit zu sparen, die Rollis vorziehen und in Richtung Rampe schieben. Aber bleib dabei in Gottes Namen mit beiden Füßen auf deinem Trailer.
Wir haben keinen Hubwagen drauf, blamier Dich bitte nicht mit der Frage nach einem „Pallett Lifter“ oder so – das Ding heißt „Pump Truck“. Ein Truck ist in anständigem Englisch ein Eisenbahndrehgestell, ein Möbelroller, ein Hubwagen oder alles andere, was irgendwie nach Hilfsfahrwerk aussieht. Dein 44 Tonnen schweres Geschoss ist ein „Lorry!“
Apropos Curtainsider. Bei allem, wo man sich die Finger klemmen oder schneiden kann, musst Du Handschuhe tragen. Gilt besonders für die Metallprofile von den Seitenverstrebungen. Beim Kühler musst Du sie tragen, sobald Du unter 0 °C hast, weil Du Dich sonst verletzen könntest, wenn Du mit der Hand an einem Metallteil festfrierst. Sobald Du entweder irgendwohin gehst, wo Stapler fahren, also für Papiere oder Ladungssicherung in eine Lagerhalle, oder wenn Du aktiv mit lädst und einen Hubwagen bedienst, musst Du Stahlkappenschuhe tragen. Also am besten immer, wenn Du zur Arbeit aussteigst. Wenn Du warum auch immer irgendwo Schutzmaßnahmen brauchst, die Du nicht selber auf dem LKW hast, wie einen Helm oder eine Schutzbrille, lass sie Dir vom Kunden geben. Die müssen welche für Besucher bereithalten.
Machst Du es nicht und verletzt Dich, kriegst Du keine Kohle. Weder Beihilfen von der ELIA, dem hiesigen Gegenstück der Berufsgenossenschaft, die auf Lebenszeit oder bis zum Ende einer Umschulung einspringen müsste, wenn Du dadurch arbeitsunfähig wirst. Noch von mir, denn bei einem Arbeitsunfall kriegst Du Dein Gehalt nicht von mir, sondern effektiv von der ELIA, die an mich zahlt und ich reiche es nur durch. Und wenn es nichts zu reichen gibt, weil die wegen Eigenverschulden nicht zahlen, dann kommt, so lange Du krank bist, auch nichts bei Dir an.“ „Oookay.“
„Generell benutzt Du lieber eine Schutzmaßnahme zu viel als zu wenig. Das ist kein Sozialstaat hier, wie ich Dir schon vor einem Monat erklärt habe. Es gibt ein staatliches Sozialsystem, aber da zahlt keine Einrichtung gerne Geld, weil jemand durch eigene Dämlichkeit krank ist. Also suchen sie nach jeder Ausflucht, nicht zahlen zu müssen. Der Vorteil ist, dass die Leute hier besser aufpassen und gewissenhaft ihre Schutzmaßnahmen treffen, um keine Ansprüche zu verwirken. Wir sind angeblich das Land in Europa mit den wenigsten fahrlässig verschuldeten Arbeitsunfällen. Und die Unfälle, die warum auch immer doch passieren, gehen nirgends so vergleichsweise glimpflich aus. Musst Du auf dem Kontinent doch mal selber laden, pass auf wie ein Schießhund. Sie wissen bei der ELIA zwar, dass es da nicht anders geht, aber zetern dann doch rum, wenn sie zahlen müssen. Also ein Grund mehr, Arbeitsunfälle zu vermeiden neben den Schmerzen. Denn die nimmt Dir in Deutschland wie im Vereinigten Königreich keiner ab.“
„Kühler bist Du auch in Bochum noch nie gefahren?“ „Nein.“ „Dann gehen wir mal runter.“ Da ich damals den Chereau für Maxim in Bochum getestet hatte und bei Talke auch manchmal Kühler mit Pharma und Diagnostika gefahren war, kannte ich mich einigermaßen aus und gab Timo eine kurze Einweisung in sein Arbeitsgerät. „Eine Warnung noch. Ein Kühler ist nicht weniger Verantwortung als ein Gefahrguttransporter. Fahr einen Lastzug voll mit Rattengift in einen Stausee und eine Großstadt hat eine Arsenvergiftung. Stell den Kühler mit einer Ladung Torten falsch ein und eine Großstadt hat eine Lebensmittelvergiftung. Der Nachteil ist, dass man schneller merkt, wenn man in einen See gestürzt ist, als dass man merkt, dass ein Kühler falsch eingestellt ist. Und einen Stausee schiebt Dir auch keiner heimlich auf die Straße. Kühler werden doch ab und zu verstellt, weil er dem Nachbarn auf dem Rastplatz zu oft anspringt und er das bei 8 Grad seltener macht als bei 2. Manche Flachpfeifen stellen ihn Dir auch in der Nacht ganz ab. Ich habe mir allerdings von Maxim sagen lassen, dass man auch mit Geräuschdämmung als Kühlerfahrer nach einiger Zeit rechtzeitig aufwacht, weil die vibrierende Rückwand nicht wiederkommt.“
Nach der Unterweisung stieg er ein und fuhr vom Hof in sein neues Arbeitsleben. Das sollte ihn erst einmal zu diversen Ladestellen in den Midlands und bis heute Abend auf die Fähre in Immingham schicken. Der grüne DAF mit dem reinweißen Kühlkoffer fuhr vom Hof und aus dem Gewerbepark zur Schnellstraße.
Freitag 03.03.2017
Die erste Amtshandlung war ein Anruf bei Alex. Denn er konnte sich nun sein Wochenende aussuchen: „Guten Morgen, Ricky. Ist ein Anruf am Freitagmorgen in Südschweden nun gut oder schlecht?“ „Das kannst Du Dir aussuchen. Möchtest Du lieber heute Mittag in Kopenhagen, heute Nachmittag in Odense oder am Samstagmittag in Deeside ins Wochenende gehen? Dann natürlich auch Montag später wieder raus, damit Du auf 45 Stunden kommst?“ „Nichts gegen Dänemark, aber da nehme ich natürlich Deeside.“ „Okay, dann machen wir das so und die beiden Ladungen nach Dänemark belasten nicht unser Kabotagekonto sondern das von Scandinavia Express! Von denen müsstest Du in Karlskrona nachher mindestens einen Fahrer treffen.“
Der erste, der hier rein kam, war um die Mittagszeit Davey. Er war nachts nach Birmingham, hatte dort heute Morgen entladen und war dann mit einer Teilladung nach Deeside rauf gefahren.
Als nächster kam am Nachmittag Timo. Noch während er am Waschplatz war, stand auch Shawns Scania auf dem Hof. Als Timo seine Papiere ablieferte, nahm ich ihn mit in mein Büro: „Und, wie war die erste Woche als Wahlbrite?“ „Ein Bisschen komisch auf den ersten Kilometern schon. Auch wenn ich mich im Auto dran gewöhnt habe, ist es doch ein Unterschied, ob Du in einem Ford Sierra rechts sitzt oder in einem LKW. Ums Schlafen in der Kabine bin ich dank Fähre ja rum gekommen.“ „Meilentacho ging?“ „Ja, der hat ja auch eine kleine km/h Skala. Muss man sich nur dran gewöhnen, dass in Dänemark, Deutschland und Niederlanden die großen Zahlen nicht stimmen.“ „In einem Monat hast Du das so drin, dass Du die kleine Skala nicht mal mehr brauchst.“ Ich entließ Timo ins Wochenende.
Shawn hatte inzwischen seine Papiere bei Philip abgegeben. Merwyns Unterlagen konnte ich noch in Empfang nehmen, er kam ziemlich zur gleichen Zeit mit Luke rein. Alex sollte morgen seine Sachen einfach auf die Theke legen, wie immer, wenn jemand außerhalb der Geschäftszeiten rein kam.
Samstag 04.03. und Sonntag 05.03.2017
An diesem Wochenende gingen wir mal wieder Lukes Leidenschaft nach und wanderten ein Bisschen am Llyn Brenig, einem Stausee in der Nähe. Der Vorteil unserer Arbeitsweise war ganz klar. Wir waren tagsüber getrennt, aber im Normalfall jeden Abend zusammen zu Hause, ganz wie andere Leute auch. Wir mussten unsere Beziehung nicht auf zwei Tage zusammenquetschen wie damals bei BP oder wie es viele andere in unserem Beruf machen müssen. Genauso wenig saßen wir uns dauernd als Zweimannteam auf der Pelle wie in Bochum oder wie es Timo und Ilarion getan hatten und daran gescheitert waren.
So konnten wir uns jeden Tag sehen und austauschen und am Wochenende je nach Laune machen was wir wollten. Mal zusammen nach Lukes Vorschlag, mal zusammen nach meinem und auch mal getrennt, ohne dass wir das Gefühl haben mussten, etwas vom Partner zu verpassen, wertvolle gemeinsame Zeit zu verschwenden oder den Partner vor den Kopf zu stoßen.
Montag 06.03. bis Freitag 10.03.2017
Die Woche begann erst mal mit einer Kuriosität. Die Post war heute mal sehr früh und so nahm Luke ein Paket an, während ich gerade damit beschäftigt war, das Dispo-Büro „hochzufahren“. Er kam damit zu mir: „Hatton’s Model Shop. Das ist bestimmt für Dich. Aber was zur Hölle ist da drin? Bei dem Gewicht und der Größe an Loks in Spur N ein Vermögen.“ „Eine hübsche Frau.“ „Zum Aufblasen? Selbst wenn die bei Hatton’s jetzt ein zweites Standbein haben, frage ich mich noch, was Du mit einer Frau willst. Oder hast Du ein dunkles Geheimnis vor mir?“ „Nein, sie wird Dir auch gefallen.“ Ich öffnete das Paket. „Darf ich Dir Lucy Hannah vorstellen?“

„Ja cool. Im Maßstab 12 Zoll je Fuß würde ich die auch mal gerne einen Tag lang ausführen. Aber wie kommst Du ausgerechnet auf einen Stobart ERF EC11?“ In Großbritannien wurde der Maßstab nicht als direktes Verhältnis angegeben, sondern als die Länge, die einen Fuß darstellte. Das dann aber auch metrisch. je nachdem ob Millimeter und Zentimeter oder Zoll ein besseres Ergebnis lieferten. Meine Modellbahn in Spur N war 2 mm je Fuß oder einfacher im „2 mm Maßstab.“ Dieses 1:50 Modell war also im britischen Maßstab 6 mm je Fuß und weil 12 Zoll 1 Fuß ergaben, war der „12 Zoll Maßstab“ schlicht und ergreifend eine scherzhafte Beschreibung unter Modellbauern für Originalgröße. Da Luke früher ferngesteuerte LKW in 1:16 gefahren war, kannte er das. Aber wie alle Spielzeuge verloren sie ihren Reiz, wenn man das Original hatte und deshalb baute Luke keine LKW-Modelle mehr, seit er in der Ausbildung zum Berufskraftfahrer auf die Abschlussprüfung zugesteuert hatte.
„Stobart bewundere ich, auch wenn sie ja irgendwie doch ein Konkurrent von uns sind. Und mit einem solchen EC11, allerdings nicht als 38-Tonner Sattel sondern natürlich als 44-Tonner Drehschemelzug hat damals bei BP für mich das Abenteuer Großbritannien angefangen.“ „Echt? Du hattest doch einen ECT als ich da angefangen habe.“ „Ja, seit einer Woche. Die 4 Monate davor wollten Sie mir wohl lieber nur einen 4 Jahre alten EC geben.“
Luke dampfte mit seinen Papieren für den täglichen Trailer Exchange ab. Ich hatte gerade noch Zeit, um das Modell im Besprechungsraum in den Vitrinenschrank zu stellen, bevor die anderen Fahrer nach und nach eintrudelten.
Samstag, 11.03. und Sonntag, 12.03.2017
An diesem Wochenende meinte es das Wetter nicht so gut mit uns. Aber wir hatten ohnehin eine Einladung und fuhren nach Cardigan. Lukes Cousin Ben wollte seinen Geburtstag nachfeiern. Er war zwar schon im Januar 27 geworden, aber das hatte nichts gebracht, weil er seitdem noch nicht wieder hier gewesen war. Pünktlich an Silvester war er wieder an Bord gegangen und hatte erst jetzt wieder Heimaturlaub.
Ein weiterer Grund zum Feiern war seine Beförderung zum Steuermann. Das war entgegen der landläufigen (hier Tusch abspielen!!!) Meinung nicht derjenige, der das Schiff steuerte, sondern das, was man in der Kriegsmarine als einen Unteroffizier für Navigation und Kursberechnung betrachtet hätte. Das Schiff steuerte der Rudergänger, was er nun seit 4 Jahren gemacht hatte, davon das letzte Jahr als „Gefechtsrudergänger“. Das war bei der eher nicht in Schusswechsel verstrickten Handelsmarine der Spitzname für die Rudergänger, die bei kritischen Manövern wie dem Befahren von Häfen, Flüssen, Kanälen und Schleusen zum Einsatz kamen. Gegen so ein Schiff waren unsere LKW Kinderspielzeug. 143 Meter lang, 23 Meter breit, 9600 PS, 17000 Tonnen Zuladung. Alleine jeder der beiden großen Deckkräne konnte 250 Tonnen oder 6 Sattelzüge auf einmal an Deck heben. Dafür war das Schiff mit umgerechnet 28 km/h allenfalls langsam nach Landmaßstäben, hatte aber trotzdem einige Kilometer Bremsweg.
Wenn sich ein Fernfahrerkollege beschwerte, zu selten zu Hause zu sein, dann sollte er mal schauen, was Ben so machte. Der war immer 10 Wochen am Stück auf See und hatte dann 2 Wochen am Stück frei. Da konnte er dann entscheiden, ob er nach Hause flog, dort blieb, wo er von Bord gegangen war oder schon mal dorthin flog, wo er wieder an Bord musste – vorausgesetzt das stand schon fest, wenn er von Bord ging.
Montag, 13.03. bis Sonntag 19.03.2017
Luke fuhr am Montag mit Daveys DAF nach Hull, während „unser firmeneigener“ Ben in der Werkstatt den Iveco durchschaute. Es war logischerweise nicht nötig, einmal im Jahr Inspektion reichte aus. Aber wenn wir schon mal eine Werkstatt hatten, war ich der Meinung, dass es nicht schaden konnte, wenn Ben einmal im Quartal jeden Truck durchsah.
Besuch vom Kontinent gab es in dieser Woche auch mal. Tomas kam am Dienstagmittag mit seinem noch ziemlich neuen Volvo FH13 Globetrotter in Deeside zum Umladen und Tanken vorbei und nutzte die Gelegenheit auch, sich was in der „Kantine“ zu kaufen. Mittags standen hier ungezählte Imbisswagen im Gewerbegebiet herum und wurden von den Angestellten der Firmen belagert.
An diesem Wochenende hatte der Modelleisenbahnverein seine jährliche Ausstellung. Also war ich dort als Mitglied reichlich eingebunden. Beim Aufbau half Luke auch mit, die eigentliche Ausstellung war aber nicht seine „cup of tea“, wie der Brite sagte. Er vertrieb sich dafür das Wochenende mit Wanderschuhen im Snowdonia Nationalpark.
Montag, 20.03. bis Sonntag 26.03.2017
Luke war wie immer auf dem Hull-Pendel eingesetzt.
Shawn bekam ab Perchtoldsdorf erst einmal eine Tour nach Prag und von da weiter nach Neuss. Donnerstagmorgen würde er dann nach über 2 Wochen wieder britischen Boden berühren und in Hull die ersten Entladestellen anfahren. Danach fuhr er den restlichen Donnerstag nach Edinburgh und am Freitag nach Hause.
Alex startete Richtung Folkstone und weiter nach Luxemburg. Von da fuhr auch er nach Neuss und würde auf Shawn treffen. Die armen Leute bei Scandinavia Express. Alex und Shawn waren unser Duo Infernale, zwei die sich gesucht und gefunden hatten. Auch wenn ihre gegenseitigen Streiche für Außenstehende manchmal anders aussahen, waren sie ein Herz und eine Seele. Wenn es nicht gerade rheinische Frohnaturen wie in Neuss waren, dann betrachteten diese Außenstehenden die zwei aber eher nach dem Motto „Allein sind sie kaum auszuhalten, gemeinsam sind sie unerträglich!“ Immerhin ersparte ich der Fährgesellschaft, die beiden auch noch gemeinsam auf dem Hals zu haben. Alex musste nach Chelmsford und setzte daher nicht nach Hull über sondern nach Harwich. Danach fuhr er nach Grimsby und am Freitag mit allerlei Entladestellen quer durch die Midlands nach Hause.
Timo fuhr nach Flensburg, das schien eine Gewohnheitssache zu werden. Der Anschluss ging nach Hannover. Wenn der Patrick dort begegnen sollte, wäre ich gerne Mäuschen in der Ecke. Danach durfte auch er ins Ruhrgebiet, die Nacht in Bochum verbringen und den LKW auf dem KFL-Hof abstellen. Danach ging es über Ijmuiden nach Newcastle und am Freitag zurück nach Deeside.
Das Wochenende bestand aus Packen. Denn nun stand unser Urlaub auf der anderen Seite des Atlantiks an.
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Wenn man den gleichen Fehler zweimal macht. Schon damals hatte ich mich über die Namensgleichheit von Ben als Cousin von Luke und den Mechaniker aufgeregt. Weil der nur ein paar Mal vorkommt, wollte ich dem Cousin beim neu schreiben einen anderen Namen geben, habe es aber natürlich verpennt. Der Mechaniker kommt im weiteren Verlauf so oft vor, dass ich bestimmt die Hälfte übersehe und dann ist die Verwirrung auch wieder vollständig. Also bleibt es bei den zwei Bens.
Den Teil in der Kneipe musste ich dreisprachig schreiben. Hätte ich da alles deutsch geschrieben, dann hätte es nicht gewirkt.
Irgendwie musste ich damals feststellen, dass man im Laufe seines Tagebuchlebens einige Charaktere schafft, die man nicht einfach in der Bedeutungslosigkeit verschwinden lassen will. Und Timo ist so einer. Einfach zurückgelassen, als es nach Großbritannien ging, bekam er noch eher spontan eine tragende Rolle als Trauzeuge. Aber schließlich wurde mir klar, dass ich ihn wieder komplett bei mir in der Handlung haben wollte. Das ist dieses berühmte „eigene Leben“, das diese an sich fiktiven Charaktere irgendwann entwickeln. Eigentlich ist man es als Autor selbst, der sie in ihrem Verhalten formt und bestimmt, aber es kommt einem so vor, als wären sie es, die solche Entscheidungen treffen.
