Diese Woche…
…lernt Ricky, dass Russen trotz ihres Rufes eine Trinkkultur haben…
…fahren seine Gedanken Achterbahn…
…und eine Zeitschaltuhr spielt ihm einen üblen Streich!
Montag, 12.06.2017
Während am Vormittag Gary, Rafal und Dima sich mit Stapler, Ameisen und Spannzeug amüsierten, war ich im Büro. Das Tagesgeschäft ließ ich weiter komplett bei Philip. Meine Unterschriftenmappe und der Poststapel waren dick genug. Aber wir brauchten hier scheinbar noch ein Bisschen Unterstützung, wobei es im Normalfall nicht genug für eine Halbtagskraft war. Mir fiel die Bochumer Lösung ein: „Sag mal, Philip. Sollten wir ab September vielleicht noch einen Kaufmann ausbilden?“ „Warum?“ „Einer von uns muss jetzt doch wohl wieder öfter fahren. Ein Auszubildender kann uns hier auch eine gewisse Unterstützung bieten. Und wir geben einem jungen Menschen eine Zukunftsperspektive.“
Da Ausbilden hier ziemlich einfach ging, hatte das im Ausland oft nicht den besten Ruf. Mit unseren Qualifikationen und Erfahrungen hätten wir es in anderen Ländern gar nicht gedurft. Eine Ausbildereignungsprüfung hatten weder Philip noch ich. Er war zwar ausgebildeter Bürokaufmann, aber hatte vor 30 Jahren 2 Jahre und jetzt wieder knapp über 1 Jahr in dem Beruf gearbeitet. Ich hatte nur einen deutschen IHK-Schnellkurs absolviert, um ein Unternehmen führen zu dürfen. Den nannte ich selbst immer abfällig „Geschäftsführer leicht gemacht“. Immerhin führte ich jetzt seit über 4 Jahren durchgehend und erfolgreich ein Unternehmen.
Hier hatte die Schule allerdings einen größeren Stellenwert in der Wissensvermittlung. Zwar war der Anteil der Schulzeit an der Ausbildung nicht größer als in Deutschland, aber der Unterricht war fachbezogener. Sprachunterricht oder Fächer aus der Zeit der allgemein bildenden Schule wie Mathematik wurden auch vorausgesetzt, üblicherweise durch eine GCSE-Mindestnote, und nur noch fachlich vertieft. Religionsunterricht oder Fächer wie Sozialkunde fanden in der Berufsschule nicht statt. Da konnte man zu stehen wie man wollte, aber es führte dazu, dass die Ausbildung nicht so viel schlechter war als in anderen Ländern, obwohl die Hürden für Ausbilder im Betrieb niedriger waren als anderswo. Ansonsten wären die britischen Unternehmer wohl noch weniger dazu zu bewegen, auszubilden, als sie es sowieso schon waren.
Das Berufsbildungssystem hier war dreizügig, der vierte Zug hatte kein System. Oben war natürlich das Studium an einer Universität. Darunter kam die oft von den Betrieben nachgefragte, aber selten angebotene vollwertige Ausbildung „Level 1“, nur etwas unterhalb von Westeuropäischen Standards, die wir hier anbieten wollten. Sie dauerte meistens 3, bei manchen Berufen auch bis zu 4 Jahren. Den Ruf der britischen Ausbildung im Ausland nachhaltig angeschlagen hatte seit den 80er Jahren die „Level 2 Ausbildung“, die nur etwas mehr war als ein Anlernen auf eine bestimmte Tätigkeit – vielen Dank Mrs. Thatcher und Kabinett. Wobei „vom Metzger zum Trucker in einem halben Jahr“ in Deutschland auch nichts anderes war und immer stärker im Kommen. Level 2 Ausbildung dauerte meistens nur ein Jahr, bei komplexeren Tätigkeiten auch mal zwei, also maximal die Hälfte einer richtigen Ausbildung. Die Mehrheit der Abgänger aus den niedrigeren Levels an der Schule machte aber sowieso keine Ausbildung welchen Levels auch immer und fing an, direkt nach der Schule ungelernt Geld zu verdienen. Zumindest eine Level 2 Ausbildung würde ihnen auch kaum mehr Geld bringen, aber noch mal 1 bis 2 Jahre Leben mit finanziellen Einschränkungen aufhalsen. Menschlich also zumindest in dem Vergleich verständlich.
Jetzt noch einen Auszubildenden zu finden war vermutlich kein Problem. Meistens gab es nicht genug Level 1 Ausbildungsplätze, so dass die meisten Schulabgänger mit höheren Zielen entweder ein Studium aufnahmen oder wenn sie sich das nicht zutrauten, zähneknirschend eine Level 2 Ausbildung machten, weil keine auf Level 1 angeboten wurde.
Nachdem ich also noch schnell eine Anzeige formuliert und geschaltet hatte, sah ich mal in der Halle nach dem Rechten. Mein Trailer war ziemlich voll. Aber es ging nicht anders. Dima hatte sperrige und empfindliche Ladungen, ich die schweren, dicht zu packenden Sachen. Wollten wir das ausgleichen, hätten wir in Murmansk am Straßenrand umladen müssen, weil sich dort unsere Wege trennen mussten. Mein Lagerleiter Gary hatte so seine Bauchschmerzen „Das geht so nicht, Ricky. Du wirst beim Nachladen zu schwer mit der Ladung.“ „Wieviel?“ Dima hatte den Überblick über die einzelnen Partien: „Ich denke mal, Du wirst fast 47 Tonnen haben, wenn wir uns einschiffen.“ „Nicht erwischen lassen.“ „Wenn wir in Hull auf dem Schiff sind, ist es doch sowieso egal. Dann gehen 60.“ „Nicht mit dem Lastzug. Nagel mich nicht fest, ob der in Skandinavien 40 oder 44 haben darf, aber jedenfalls nicht mehr. Mehr Gewicht würde mehr Achsen oder sogar einen dritten Zugteil erfordern. Aber passt schon. In Skandinavien bin ich noch nie gewogen worden. Die scheren sich immer mehr um Tempo und Fahrtüchtigkeit als um Gewicht. Und hier sind es 8 Meilen. Wird schon klappen.“
Ich hatte einen unserer Ackermann-Trailer mit Hubbühne dran und fuhr unseren neuen alten Volvo. Dima hatte ernsthaft einen der letzten Foden 4000 vor der Umstellung auf DAF CF und einen Trailer mit Moffettstapler bei einem russischstämmigen Unternehmen aus Southampton geliehen. Dazu kam noch unsere Leyland 75 Hofschleuder. Wenn man die modernen Autos auf den PKW-Plätzen nicht im Blickfeld hatte, sah es hier gerade aus wie in den 90ern. Wenigstens Timos Ford Sapphire und Rafals 97er Honda Civic Coupé störten den Eindruck nicht. Bens W203 C-Klasse war auch nur ein Bisschen zu modern.
Schließlich hatten wir alles zusammen und waren auf dem Weg durch die West Midlands. Apropos „Auszubildender Speditionskaufmann“. Ich rief erst einmal zum Gratulieren in Bochum an, denn es gab dort keinen Auszubildenden Speditionskaufmann mehr. André hatte letzte Woche bestanden, danach zwei Tage frei genommen und heute seinen ersten Tag als „echter“ Speditionskaufmann und hauptberuflicher Disponent.
Die viereinhalb Stunden reichten gerade bis nach Grimsby. Luke kam uns unterwegs entgegen. Hier bekamen wir beide bei einem Logistikdienstleister noch Ladung dazu. Bei mir war das vor allem Teppichboden. Bei Dima Feldduschen, Messgeräte und irgendein Spezialgerät, das wohl Erde nach Kontaminationsgrad trennen konnte. Dann kam der Zoll, prüfte Ladungen und Papiere, machte unsere Trailer dicht und die Carnet TIR waren eröffnet. In Immingham, wo wir nicht wirklich zu früh eintrafen, sahen wir Timo wieder, der mal wieder auf dem Weg nach Schleswig-Holstein war. Dann waren wir nachher im Restaurant wenigstens zu dritt.
Dienstag, 13.06.2017
Das Schiff legte bekanntlich erst um 15:30 an, also war der Tag schon so gut wie gelaufen. Hinter Esbjerg nahm Timo die Primärroute 24 Richtung Apenrade und wir die E20 nach Kopenhagen. Ich hatte noch Dominiks Transponder für die Brücken in der Zugmaschine. Dima musste mit Karte zahlen.

Wir machten 45 Minuten Pause in einem Gewerbegebiet direkt an der Autobahnabfahrt in Kopenhagen und schafften dann im letzten Licht noch die Öresundquerung. Gegen 21 Uhr ging die Sonne unter. Kurz nach Mitternacht und dicht an 9 Stunden Lenkzeit rollten wir nach Huskvarna rein. Das blaue Innenlicht war eine deutliche Verbesserung gegenüber dem gelben. Aber so dunkel wie heute Nacht würde es für den Rest der Tour sowieso nicht mehr werden.

Wir parkten bei Dominik auf dem Firmenhof ein und ich öffnete uns das Gebäude mit dem Zahlenschlosscode, den er mir aufs Handy geschickt hatte. Hier hatten wir Dusche, Toilette, Küche und sogar kleine Schlafzimmer.
Mittwoch, 14.06.2017
Wir konnten sowieso erst wieder nach 11 Uhr weiter, also konnten wir in Ruhe frühstücken. Dann gab ich Dominik die Transponder zurück und sagte ihm, dass gestern noch mal zwei Brücken dazu gekommen waren. Und apropos Brücke, ich fuhr aus reiner Neugierde mal auf die Brückenwaage, sie blieb bei 46.601 Kilo stehen. Also ein Transport der Vollfettstufe. Technisch 2,6 und rechtlich je nach Land bis zu 6,6 Tonnen überladen. Aber ich hatte ja einige Jahre in Köln gelebt – Et hätt noch immer jot jejange!
Statt der Transponder brachte ich jetzt die spätestens in Russland sowieso unvermeidliche Dashcam an. Bei Linköping konnte die gleich festhalten, wie uns ein ziemlich ambitionierter Viehtransport überholte. Dima jedoch entdeckte was anderes, wo wir vor einem halben Jahr in tiefster Nacht vorbeigefahren waren und fragte über Funk: „Warum sind hier eigentlich rund um die Stadt lauter Flugzeuge aufgeständert?“ „Hier sind die Saab-Flugzeugwerke. Das sind die Meilensteine aus deren Firmengeschichte.“

Unsere Fahrzeit reichte zwar in den Großraum Stockholm, aber nicht mehr zum Hafen. Also machten wir im Süden wieder 45 Minuten Pause in einem Gewerbegebiet am Straßenrand und fuhren dann durch die Stadt zur Fähre.

Donnerstag, 15.06.2017
Nach der Überfahrt verließen wir Turku und mein Volvo hatte Durst. Dima hatte schon mal zähneknirschend in Dänemark getankt, um es wenigstens ungeschoren durch Schweden zu schaffen und füllte auch wieder nach. 92 Pence je Liter war kein schlechter Preis, schon gar nicht für die nordischen Länder.
Der Foden hatte einen kleinen Tank und einen durstigen Motor. Aber sonst war er eigentlich für diese Tour ideal. Mit dem Hochdach der letzten Serie vor der Umstellung auf die Hütte vom DAF CF und einem kleineren Motortunnel als sein Nachfolger hatte er genug Platz im Innenraum, die Kabine aus GFK-Kunststoff war unverwüstlich und der Antriebsstrang mit Caterpillar-Motor und Fuller-Getriebe erst recht. Zwar war Foden nie meine Marke gewesen und auf der Insel war ich mehr der ERF-Fan, aber dennoch hatte die Zugmaschine so ihren Stil.
Zum Glück hatte die Polizei zweisprachige Warntafeln, so dass wir mit „Accident“ was anfangen konnten. Denn nur mit „Onnettomuus“ hätten wir wohl nie begriffen, warum wir jetzt nicht auf die E63 nach Jyväskylä abbiegen durften, sondern mitten durch Tampere zu fahren hatten.
Stellen, die wir im Januar nachts oder im Dämmerlicht passiert hatten…

…sahen wir jetzt bei strahlendem Sonnenschein.

Die 45er machten wir an einer Tankstelle und gönnten uns lokale Küche. Dima nahm Muikku, was ich mir kaum ansehen konnte. Das waren im Ganzen gebratene, kleine Fische mit Kartoffelspalten, Gemüse und einer Aioli nicht unähnlichen Soße. Ich nahm lieber Rentier mit Kartoffelbrei, Preiselbeeren und Gewürzgurke. Das war zwar so weit südlich Touristenfutter und erst weiter nördlich in Lappland wirklich als einheimische Küche zu betrachten, aber das war mir dann mal egal.
Der Tag endete im Wald, wo wir die Lastzüge gegen 17 Uhr einfach am Straßenrand abstellten. Heute Nacht hieß es, passend zu unseren urtümlichen Lastwagen Gaskocher, Klapptisch, Kanisterwäsche und Freilufttoilette.

Und als wäre das noch nicht genug Rückkehr in die frühen 2000er und meine TurboStar-Ausflüge hierher für Mahler, hielt kurze Zeit später noch ein zu unseren Fahrzeugen bestens passender Truck aus Norwegen – ein Scania Streamline. Aber nicht das rund gelutschte Bonbon aus der 6. Serie, sondern der originale 143M-SL450 und optisch im Neuzustand. Heraus stiegen ein Mann wohl in den 40ern und ein Jugendlicher und fragten, ob sie sich zu uns setzen durften. Natürlich rückten wir zusammen, damit sie mit ihren Stühlen noch an den Tisch passten. Das war so ein skandinavisches Phänomen. Durch die festgelegten Startzeiten nach einer Fährpassage hatte man auch immer Kollegen um sich, denen ungefähr an der gleichen Stelle die Lenkzeit ausging.
Sie waren Vater und Sohn und stellten sich als Leiv und Daniel vor. Leiv war in der Tat 47 Jahre, Daniel war 17. „Es ist ja schon ein merkwürdiger Zufall, dass ausgerechnet hier drei Fahrzeuge aus einer längst vergangenen Zeit aufeinander treffen. Ihr fahrt zusammen und den TIR-Schildern und alten Zugmaschinen nach Richtung Russland?“ „Ja.“ „Bin ich früher auch oft gefahren, aber da gibt es ja kaum noch sinnvolle Frachten rüber. Zumindest hier im Norden. Südlich von Sankt Petersburg geht es dann wieder besser.“ „Wir sind ja auch ein Hilfstransport. Wo wollt Ihr hin?“ „Rovaniemi und dann noch mal 130 Kilometer weiter nach Sodankylä.“
„Wie kommt es eigentlich, dass Du als Brite so eine schwedisch lackierte Zugmaschine hast? Schweden-Fan?“ „Nein. Erst mal bin ich Deutscher und nur nach Großbritannien ausgewandert. Die Zugmaschine habe ich von einem halb schwedischen Freund gekauft und will sie zusammen mit meinem Mann ein bisschen umgestalten, wenn wir mal zu Treffen fahren oder ich damit Urlaubsvertretung mache. Aber ich habe den erst vor 2 Wochen in Huskvarna abgeholt und in den paar Tagen zu Hause gerade mal mit glühend heißer Nadel verzollt und auf meine Firma zugelassen bekommen.“
„Also hast Du ein größeres Unternehmen, wenn Du nicht selbst fährst?“ „Derzeit 6 LKW am Standort Deeside, den ich leite. In Deutschland haben wir noch mal 11, aber da habe ich im Tagesgeschäft nichts zu tun außer dass zwei davon regelmäßig nach Großbritannien kommen und ich mit dem deutschen Kollegen deren Frachten koordiniere. Ein dritter bringt täglich einen Trailer zur Fähre, den einer von unseren dann austauscht und ins Umschlaglager holt.“ „Das wäre mir zu viel. Es gab immer nur zwei LKW im Alltag. Einen hat mein Vater gefahren, den anderen ich.“ „Und der 143 ist einer davon?“ „Nein. Der läuft außer Konkurrenz. Den hatte mein Vater mir zum 21. Geburtstag gekauft und das war mein erster. Den habe ich aus Sentimentalität behalten, aber den fahren wir nur noch zu Treffen oder in Ausnahmen.“ „Und welche Ausnahme verschafft uns dieses besondere Treffen?“ „Sein Geburtstag. Nächste Woche wird er 18 und bekommt den Führerschein ausgehändigt. Dann darf er den selbst für eine Tour fahren und bekommt dann für den Alltag seinen eigenen Scania S, so wie ich damals diesen.“
Freitag, 16.06.2017
Wir machten nur eine 9er Pause, denn je früher man an der Grenze war, umso besser. Um 20 nach 2 nachts schien die Sonne schon wieder über die Baumwipfel. Leiv und Daniel blieben noch 2 Stunden länger stehen, um keine kurze Nacht zu verschwenden, aber frühstückten mit uns zusammen.
Als wir wieder fuhren, dachte ich wehmütig 15 Jahre in die Vergangenheit. Damals hatte es so was öfter gegeben. Aber diese Zeit war heute endgültig Truckerromantik. Die normale Nacht fand heutzutage alleine statt, umgeben von Kollegen, die sich in fremden Sprachen unterhielten und sich teilweise nicht mal untereinander verstanden. Früher war auch das kein Problem. Wer kein Englisch konnte oder welche Sprache auch immer gerade die am Tisch gesprochene war, wurde irgendwie trotzdem in die Gemeinschaft eingebunden und man kommunizierte mit Händen und Füßen. Ich hatte am Anfang meiner Karriere noch einige altgediente Orientfahrer kennen gelernt, die erzählten, dass sie öfter mal je ein Deutscher, Brite, Franzose, Italiener, Tscheche und Niederländer an einem Tisch gesessen hatten ohne eine gemeinsame Sprache zu finden und bei einem Wirt ihr Essen bestellten, der auch nur Türkisch konnte.
Nun ging es durch eine Gegend, die auch mit Tageslicht nicht wirklich was zu bieten hatte. Links und rechts der geraden Straße stand dichter Wald. Als würde man zwischen zwei Palisadenzäunen durch fahren. Nur selten lockerte mal eine Ortschaft oder ein See die Einöde auf.
Schließlich erreichten wir die Grenze. Hier war um diese Jahreszeit deutlich mehr los als noch im Winter. Und so halfen die TIR-Schilder und Plastiktüten mit schottischen und überseeischen Spezialitäten zwar irgendwie schon, aber es dauerte dennoch länger. Aus Finnland raus kamen wir noch relativ schnell und ohne diese Hilfsmittel, knapp unter 30 Minuten nach der Ankunft wurden wir ins Niemandsland entlassen. Und dort dauerte es dann dummerweise fast auf die Minute genau 8 Stunden, bis wir an die Reihe kamen. Wenn man sich noch eine Stunde mehr Zeit gelassen hätte, dürften wir wenigstens wieder fahren.
Also führte uns der Weg nur noch aus dem Grenzstreifen raus bis hinter den letzten Schlagbaum und dann hieß es kurz nach 19 Uhr, noch mal 9 Stunden Pause einzulegen, was dann mit 3 der 8 vor der Grenze nach den Vorschriften eine vollständige Pause ergab.
Samstag, 17.06.2017
In Alakurtti, der ersten größeren Siedlung auf dem Weg stand wieder eine Tankpause an. Bei 38 Pence der Liter eine nette Sache. Obwohl es hier genug Platz gab, um die Straße zu trassieren, wartete sie mit der einen oder anderen scharfen Kurve auf, wo man mal gepflegt auf die Bremse treten musste. Damit er mir nicht wegfuhr, machte Dima den Schluss. Denn der Volvo war bei 90 km/h abgeregelt und der Foden erst bei 60 mph. Dennoch kamen wir schnell vorwärts, nachdem die Straße erst einmal vernünftig asphaltiert war. Die ersten Kilometer nach der Grenze waren nur festgefahrener Schotter gewesen.
Der Wald wurde hier oben immer dünner und auf den höheren Bergen hatte sich auch Schnee gehalten. Gegen 8:30 kamen wir nach Murmansk, das sollte noch so gerade mit der Lenkzeit zum Zoll reichen, um die Carnets zu schließen. Dort mussten wir dann sowieso erst mal wieder warten.
Allerdings kamen wir mit nur 2 Stunden recht glimpflich davon. Danach trennten sich unsere Wege. Dima fuhr zu einem Krankenhaus und ich zu einem Altenheim, die ersten Frachten abladen. Bei mir waren das vor allem Rollatoren, Rollstühle, ein paar orthopädische Spezialmatratzen und andere Dinge für die Altenpflege. Ich stand am Straßenrand und lud bei miesem Wetter über Heck mit der Bühne oder über die Seite von Hand mit Kletterpartie auf den Paletten ab. Der größere Teil meiner Fracht war aber wieder für das Kinderheim in Nikel.

Viertel nach 11 hatten wir abgeladen, ich hatte noch mit dem Pflegepersonal einen Tee getrunken und machte mich auf den Weg für die letzte Etappe. Hoffentlich schaffte ich es in der Zeit. Sonst musste ich noch mal 9 Stunden irgendwo rum stehen und kam dann auch noch mitten in der Nacht an. Auch die Fjordlandschaft hinter Murmansk hatten wir im Winter kaum wahrgenommen.

Dima kam ihr näher, als einem lieb sein konnte, denn er fuhr jetzt mit dem Strahlenschutzmaterial nach Poljarny. Das war eine geschlossene Stadt, in der atombetriebene Schiffe und U-Boote der russischen Marine im Fjord vor sich hin gammelten und auf die Verschrottung unter ähnlich kritischen Umweltbedingungen warteten.
Als zwischen der Handvoll schwermetallresistenter Bäume, die es schaffte, auch hier auszutreiben, die Schornsteine hinter der Kuppe auftauchten, war mir klar, dass ich wohl 5 bis 10 Minuten überziehen musste. Das war mir dann aber auch egal.
Als ich in die Straße einbog, spielten auf dem Streifen zwischen Bürgersteig und Haus ein paar Jungs Fußball. Plötzlich zeigte der eine mit dem Finger auf meinen LKW und sie fingen alle an wie wild zu winken und zu rufen. Bis ich vor dem Heim eingeparkt hatte, waren auch Vasya und ein paar andere Betreuer vor dem Haus.
Und die Wandplatten, die wir im Winter angeliefert hatten, hatten das Haus von außen deutlich aufgewertet. Dazu hatten sie neue Fenster in die Zimmer eingebaut und die Loggien verglast. Die waren vielleicht am Schwarzen Meer ganz nett, aber hier einfach nur Kältebrücken, die im Winter wieder ein Schimmelrisiko bildeten.

Samstag, 17.06. und Sonntag, 18.06.
Wir hatten noch am Nachmittag den LKW entladen und Vasya zeigte mir, was sich getan hatte. Die Fassade hatte ich schon bemerkt, die grauen Glasfaserzementplatten hatten wir ja im Winter hier rauf gekarrt. Auch die Küche machte mir keine Bedenken mehr, die hier zubereiteten Dinge zu essen. Die Wände und der Boden waren neu gekachelt und die neuen Küchengeräte aus Edelstahl machten auch einen hygienischeren Eindruck als das rostige Gusseisen vom Winter. Von der Edelstahl-Arbeitsfläche zur Vorbereitung der Speisen anstatt der alten Holzplatte mit ihren Kratzern, Schnitten und Rissen nicht zu reden.
Das Dach war auch abgedichtet, die obere Etage derzeit geräumt und die Wände waren trockengelegt und vor ein paar Tagen vom Schimmel befreit worden.
Ich bekam wieder ein freies Zimmer, diesmal aus einer Dreizimmerwohnung im ursprünglichen Grundriss und musste mir das Bad mit vier Jungen von den beiden anderen Zimmern teilen. Aber es war okay, vom Zustand wie vor einem halben Jahr. Ich telefonierte mit Luke und schickte ihm mal ein paar Fotos, weil er wissen wollte, wie es hier aussah. Er bekam sowohl das Zimmer zu sehen als auch das Panorama aus der Loggia, die diese Wohnung hatte. In die schöne Richtung auf dichter bewaldete Hügel genauso wie an der Nickelhütte vorbei auf die Berge mit einem Wald aus Zahnstochern ohne Zweige und Blätter, dafür kleinen Seen mit sonderbaren Farben am Ufer. Im Winter hatten wir das ja selbst vor Dunkelheit nicht richtig sehen können.
Abends ging ich mit Vasya auf den Sommermarkt. Sie feierten zwar die Sommersonnenwende nach ihrem kirchlichen Kalender erst in 2 Wochen und nicht schon in 4 Tagen, wenn sie astronomisch stattfand, aber dennoch gab es quasi die ganze Zeit schon irgendwelche Feierlichkeiten. Das Fest war im Prinzip nur ein großer Platz am Stadtrand mit Verkaufsbuden, Schankzelten mit Tischen, einem Kinderkarussell und einer Tanzbühne.

Da am Sonntag die pädagogische Arbeit im Heim sowieso ruhte, sprachen Vasya und ich nach einer Grundlage aus einer Portion Pelmini mit saurer Sahne dem Hochprozentigen gut zu. Die russische Kultur wollte immerhin, dass man unmittelbar nach jedem Wodka einen Happen essen musste. Deshalb hatte Vasya eine gemischte Platte für uns bestellt, auf der in Salzlake eingelegte Pilze, sauer eingelegtes Gemüse und Heringe, Fleischbällchen und Minipiroggen lagen. Und weil die Sachen alle so salzig und teils sauer waren, trank man dann auch gegen den Salzdurst immer wieder statt Wodka ein Glas Mors, was weitestgehend eine Saftschorle war. Das war wohl auch der Sinn dieser Häppchen, Durst auf Wasser oder Softdrinks zu steigern, um einen Kater zu vermeiden oder zumindest zu verringern.
Die Sonne ging nicht unter. Das war mir neu, denn ich war auch zu meinen besten Skandinavienzeiten bei Mahler nie zur richtigen Zeit so weit nördlich gewesen. In Narvik hatte ich damals mal Polarnacht erlebt, aber zweimal in Kiruna den Polartag 2 bis 3 Wochen verpasst. Es war damals zwar auch hell, aber die Sonne ging doch unter, jetzt nicht.

Vasya erzählte mir, wie froh sie über die Hilfe aus Großbritannien waren. Nicht nur, dass sich viele Dinge am Gebäude verbessert hatten. Auch die Kinder und Jugendlichen hatten sich verändert. Sie sahen, dass etwas passierte und sie nicht vergessen am Ende der Welt in einer schimmelnden Bude festsaßen. Und während letzten Sommer wohl Neid aufgekommen wäre, dass nun erst mal nur ein Teil der Zimmer komplett renoviert werden konnte, war es jetzt selbstverständlich, dass das in den oberen Etagen losging, wo es am schlimmsten war und weiter unten erst mal nur die Wände bei Bedarf desinfiziert und neu gestrichen wurden.
Als er beim Essen vor zwei Wochen verkündet hatte, dass wieder ein Lastwagen aus Großbritannien kommt, hatten die Kids sich gefreut wie lange nicht mehr. Und das Empfangskomitee mit Fußball war auch nicht irgendwie geplant oder abgesprochen gewesen. Sie wussten, dass ich den Tag ankommen sollte und hatten einfach beschlossen, vor dem Haus zu spielen anstatt dahinter, damit sie die Ankunft nicht verpassten.
Als die Sonne schon wieder deutlich anfing vom Horizont weg zu steigen, machten wir uns auf den Weg zum Heim und in unsere Zimmer. Am Sonntag war ich dann morgens oder eher vormittags besser zusammen, als ich es nach der Menge Wodka erwartet hatte. Den Tag über spielten Vasya und ich mit ein paar Jungs Fußball auf dem Rasen hinterm Haus.
Montag, 19.06.2017
Auch wenn ich erst gegen Mittag fahren durfte, hieß es nach dem Frühstück, Abschied zu nehmen, weil die Kinder in die Schule mussten und bis sie von dort zurück waren, wollte ich längst unterwegs sein. Vasya stand nach dem Essen auf und alle Augen richteten sich auf ihn, da schien was vorbereitet worden zu sein. Er sprach englisch, was die jüngeren wohl nicht verstanden, aber es war ja auch an mich gerichtet. An den Tischen übersetzten jugendliche Bewohner für die jüngeren. „Es ist jetzt fast ein halbes Jahr her. Da kamen zwei Fremde von weit weg zu uns und brachten uns Sachen. Wir wussten nicht, was wir davon halten sollten. Wer machte so was? Schließlich wussten wir, als Ihr nach zwei Tagen weggefahren seid, dass der Vater von Dima selbst hier gelebt hatte. Damals noch im alten Haus, das inzwischen nicht mehr steht. Er kann heute nicht hier sein, denn er bringt Sachen nach Poljarny und kommt dadurch den Wurzeln seines Vaters noch näher, denn der ist, wie ich in alten Unterlagen gesehen habe, dort geboren, auch wenn er die längste Zeit in Gadschijewo gewohnt hat, bevor er hier her kam.
Also bist Du, Eric oder Ricky, wie ich und die Jugendlichen, die englisch können, Dich rufen, an diesem Wochenende alleine hier gewesen. Und Du bist wie selbstverständlich hier her gekommen und wurdest von einer jubelnden Gruppe Kinder empfangen. Ich denke, Du hast nicht erst da verstanden, wie wichtig Du für uns bist als ein Gesicht der Hilfsaktion. Hier ist eine Speicherkarte mit Fotos, die zeigen, was wir mit der Hilfe aus Großbritannien und auch alleine geschafft haben. Außerdem sind welche dabei, die Dima und Dich im Winter mit den Kindern bei Brettspielen und unserer zünftigen Schneeballschlacht zeigen oder Dich gestern beim Fußball. Bitte gib die Fotos weiter an Dima und seinen Vater, damit sie sie in ihrem Verein verteilen können. Es soll jeder dort sehen, dass ihre Hilfe ankommt und dass wir hier viel Freude an Eurer Hilfe haben und dankbar sind.
Vor einem halben Jahr kamen zwei Fremde für zwei Tage hier her, aber heute macht sich nach den zweiten zwei Tagen ein Freund auf den Heimweg. Und Du sollst nicht ohne eine Erinnerung an uns nach Hause fahren. Ich weiß von Dima, dass Du gerne Tee trinkst. Unsere ältesten hier lernen in der Schule handwerkliche Fähigkeiten und einige haben ihre Talente zusammengetan. Chochloma ist ein altes russisches Kunsthandwerk und wir schenken Dir zum Dank eine mit dieser Kunst verzierte Teedose. Wenn Du demnächst irgendwo Deine Pause machst und aus dieser Dose Teeblätter in die Kanne löffelst, dann denk an Deine Freunde ganz im Norden von Europa.“ Danach sangen alle Kinder und Jugendlichen noch ein traditionelles russisches Abschiedslied und nun fiel es mir bei aller Freude auf zu Hause, auf Luke und meine Freunde in der Heimat doch etwas schwer, mein Zimmer zu räumen und gegen 13 Uhr nach einem kleinen Mittagsimbiss wieder in meinen LKW zu klettern.
Die Weite der Landschaft hier oben fand ich faszinierend. Im Winter hatten wir das im Dämmerlicht gar nicht so richtig mitbekommen, aber so was kannte ich nicht aus Deutschland, wo es entweder flach und weit war oder bergig und eng. Nur sehr begrenzt gab es das bei den britischen „Rolling Hills“, wenn man durch die Hügellandschaften fuhr und auf einer Kuppe auch mal die nächsten 2 oder 3 Ketten sehen konnte. Mir blieb die Luft weg und ich musste mich sehr auf die Straße konzentrieren.

Pünktlich zur Pause war ich wieder in Murmansk und traf mich mit Dima auf einem Platz. Er hatte eine Ladung bekommen, die sein LKW-Verleiher gefunden hatte. Da der ihn auch für diese Tour angestellt hatte, ging das wieder. Er war schon durch den Zoll und hatte das TIR-Schild dran.
Und dann merkten wir, warum die Dashcams so wichtig waren. Ich fuhr hinter einem LKW, uns kam einer der unvermeidlichen und meistens hoffnungslos untermotorisierten GAZelle Kleintransporter entgegen, den dann ein mindestens mal 160 Sachen schneller Skoda Fabia überholte. Als er merkte, dass sein Versuch, 30 Sekunden einzusparen frontal auf einen Renault Magnum zuführte, war es zu spät und es gab vor uns einen großen Knall. Ich ging in die Eisen und setzte den Warnblinker, auch Dima zog zur Seite, als der auf der Fahrerseite komplett zerstörte Skoda schon im Graben lag und in Flammen stand.
Dima jagte erst seinen eigenen und dann meinen Feuerlöscher auf den Skoda, während ich zu dem LKW lief. Der Fahrer hing im Beckengurt, aber dem merkwürdigen Gurtabdruck auf dem Oberarm nach und der Tatsache, dass er aus dem Schultergurt gerutscht war, hatte er scheinbar seinen Gurt seitlich von der Schulter auf den Oberarm genommen. Das war eine osteuropäische Unsitte und hatte ihm in der auf der Fahrerseite eigentlich komplett intakten Kabine einen starken Aufprall aufs Lenkrad beschert.

Ein BMW-Fahrer, der kurz nach uns an die Unfallstelle gekommen war, hatte den Notruf gewählt und so kam die Feuerwehr, die schließlich den Skoda gelöscht bekam und der Rettungsdienst für den Fahrerkollegen. Die Polizei kam natürlich auch und nahm die Aussagen von allen Zeugen auf und kopierte die Speicherkarte aus meiner Dashcam. Für den Skodafahrer kam jede Hilfe zu spät. So zusammen geschoben, wie das Auto auf der Fahrerseite war, wäre sie das auch ohne das Feuer. Vermutlich war er direkt nach dem Aufprall tot. Der Magnum-Fahrer wurde ins Krankenhaus abtransportiert, für seinen Lastzug würden sie schweres Gerät brauchen.
Eine knappe Stunde nach dem Unfall waren wir wieder unterwegs. Eigentlich wollten wir bis Kayraly, damit wir morgen ziemlich die ersten sein konnten, wenn die Grenze öffnete. Wir schafften es aber nur noch bis Alakurtti, tankten noch mal und stellten uns in eine Nebenstraße.
Ich wollte an sich mit Luke sprechen, aber Dima hielt mich davon ab und kam mich in meinem LKW besuchen: „Hast Du so was schon mal erlebt? Also dass jemand vor Deinen Augen tödlich verunglückt ist?“ „Ja. Das war der dritte in 17 Jahren. Aber man gewöhnt sich nicht dran. Ich glaube, das tun nicht mal Rettungskräfte, die fast jeden Tag zu solchen Szenen gerufen werden.“ „Wie bist Du beim ersten Mal damit fertig geworden?“ Er war echt mitgenommen. „Das war nicht einfach. Ich war damals auch alleine unterwegs, gar nicht so weit von hier auf finnischer Seite. Da hatte einer um die 20 gedacht, er wäre Tommi Mäkinen. Der hat seinen Subaru Impreza dermaßen in den Wald gedübelt, dass die Feuerwehr 4 Bäume fällen musste, um mit der Rettungsschere dran zu kommen. Da sitzt man dann 1650 Meilen von zu Hause, ungefähr in Deinem Alter, alleine mit seinen Problemen. Ich konnte damals nicht mal meine Mutter anrufen, weil man sich als Fernfahrer keine langen Auslandsgespräche vom Handy leisten konnte.
Die erste Nacht und der folgende Tag waren Mist, dann ist mir klar geworden, dass ich weder eine Schuld an seinem Tod hatte noch ihn verhindern konnte. Er hatte mich überholt, war schon ein paar hundert Meter vor mir mit voller Kontrolle über sein Auto gefahren und dann auf einer Bodenwelle aus einer leichten Kurve geflogen.
Wenn Du religiös bist, nenn ihn Gott, sonst nenn es Schicksal. Aber wenn wer oder was auch immer Dich den Tag auf der Liste hat, dann wirst Du ihn nicht überleben. Wenn Du zu schnell fährst, dann machst Du den Abflug. Wenn Du vorschriftsmäßig fährst, dann rauscht Dir ein Anderer rein. Und wenn Du meinst, es wäre sicherer, an dem Tag das Haus nicht zu verlassen, dann stolperst Du über den Wohnzimmerteppich und schlägst Dir den Schädel an der Tischplatte aus Granit ein. Ich befürchte, die kommenden Stunden werden hart für Dich. Aber mir hat es geholfen, einzusehen, dass ich nichts machen konnte, um den Unfall oder auch den zweiten und den heute zu verhindern. Ich war nur immer zufällig in der Nähe. Du brauchst emotionale Distanz zu dem Erlebnis.“
Dienstag, 20.06.2017
Am nächsten Morgen machte sich dann die Verzögerung bemerkbar und trotz kurzer Nacht waren wir erst um kurz vor 10 am russischen Grenzposten. Hier trennten sich unsere Wege, denn ich war mit einem leeren Truck relativ schnell durch, sie mussten ja nur schauen, dass er wirklich leer war. Dima jedoch musste seine TIR-Dokumente und das versiegelte Fahrzeug kontrollieren lassen. Das ging zwar schneller als ohne TIR, aber die Idee, ein Carnet zu eröffnen, hatte sein vorübergehender Chef nicht alleine gehabt und entsprechend lang war die Wartezeit mit den Papieren.
Fairerweise muss ich sagen, dass „schnell“ in meinem Fall 4 Stunden waren und später teilte Dima mir per Whatsapp mit, dass es bei ihm 6 Stunden gedauert hatte. Während der Wartezeit telefonierte ich endlich mit Luke über das Erlebnis gestern. Ich hatte die gewisse Distanz, aber auch dann ging es nicht so einfach an mir vorbei und es tat gut, die belastenden Gefühle mit ihm zu teilen. Meine Pause legte ich kurz vor Rovaniemi direkt auf den Polarkreis.

Zwar hätte ich noch ein Stück fahren können, aber es war egal, da ich es sowieso nur noch bis vor die verschlossene Ladestelle schaffen würde und ganz ohne Pause wäre es nicht gegangen. Auf einem abenteuerlichen Schotterweg kam ich zur ersten meiner Ladestellen für den Heimweg. Bei einem Holz verarbeitenden Betrieb mitten im Wald bei Juurssuo nahe Oulu stand ich um 21:40 Uhr vorm Tor. So was nannte man „rohstoffnaher Standort“.
Mittwoch, 21.06.2017
Am nächsten Morgen, nach der zweiten und letzten auf 9 Stunden verkürzten Nacht, bekam ich dann Bausätze für Saunakabinen aufgeladen, die an eine Baumarktkette in Großbritannien gingen. Ein Kollege hatte im Truckerforum die Sauna kürzlich als den besten finnischen Exportartikel bezeichnet, ich exportierte jetzt zur Bestätigung Saunen.
Der Tag war nun sehr spannend, denn ich musste ein Schiff kriegen. Zum Glück ging es in Finnland sehr viel geradeaus, so dass man das Gas stehen lassen konnte. Um die schwedischen Tankstellen zu umgehen, füllte ich in der 45er Pause noch mal auf. Dass er von der Motorentechnik nicht auf dem neuesten Stand war, war mir klar gewesen, aber die Trinksitten eines FH16 Baujahr 1995 waren dann schon nicht von schlechten Eltern. Bei flotter Gangart oder viel Stop and Go stand kontinental gerechnet die 40 vorm Komma. Auch wenn man nur auf der Autobahn unter eher günstigen Bedingungen dahinfuhr, nahm er um die 30 Liter auf 100 Kilometer, den Durchschnittsverbrauch des aktuellen FH16.
Es wurde sehr knapp und so wurde ich auch sehr nervös, als in Vaasa der Verkehr dicht und die Ampeln rot waren.

3 Minuten bevor der Check-In schloss, stürmte ich dann das Büro von Wasaline. Meine beiden kurzen Nächte waren weg und ich war im Fährenmodus vom Schiff gefahren, weshalb ich 11 Stunden voll machen musste, bevor ich in Holmsund meinen Stellplatz im Hafen verließ. Jetzt rutschte ich aus dem Tagesrhythmus raus und wenn Luke Feierabend hatte, war ich im Bett und wenn ich gerne nach der Arbeit telefonieren wollte, war er zwischen Deeside und Hull unterwegs. Also beschränkten wir uns auf kurze Telefonate.
Donnerstag, 22.06.2017
Auch wenn die Sonne südlich vom Polarkreis natürlich immer unterging, war es um 01:35 Uhr zur Sommersonnenwende doch recht hell.

Meine Fahrt ging über Schnellstraßen, die teils nur eine, alle paar Kilometer die Seite wechselnde, Überholspur hatten. Schon gestern auf dem Schiff hatte ich angefangen zu grübeln und musste die Gedanken immer wieder wegscheuchen und heute ging es so weiter. Offensichtlich hatte ich zuletzt zu viele Kollegen getroffen, die in ungefähr meinem Alter den Punkt unter den „Pflichten eines Mannes“ abgehakt hatten, der mir verwehrt blieb – einen Sohn zeugen.
Hatte ich Martin und Marvin in Geiselwind noch ein Bisschen trotzig gesagt, dass wir die Firma schon vererbt bekamen, war ich mir da auch nicht so sicher. Und bei Leiv und Daniel war es diese besondere Stimmung mit den 3 alten Trucks, Grill und Picknicktisch gewesen, bei der ich ihre Vater-Sohn-Emotionen während dieser für sie besonderen Tage wohl aufgesaugt hatte.
Es musste, um Erbe nicht nur des Kapitals sondern auch des Geistes der Firma zu werden, ja irgendein Kind von Lukes oder meiner Schwester ein Interesse an dem Thema entwickeln, ohne damit aufzuwachsen. Dass es keine Garantie war, in die Fußspuren der Eltern zu treten, wenn man mit einem Beruf aufwuchs, hatte ich selbst bewiesen. Selbst wenn ich einen passenden Schulabschluss hinbekommen hätte, wäre eine Ausbildung zum Steuerfachangestellten für mich so ziemlich die letzte Option gewesen. Aber es fiel einem doch leichter, ein Interesse an einem Beruf zu entwickeln, wenn ihn die Eltern ausübten und man damit groß wurde.
Auch die Freude der Kinder in Nikel hatten bestimmt ihren Teil dazu beigetragen, dass ich plötzlich über dieses Thema nachdachte, das vorher nie eine Rolle in meinem Leben gespielt hatte. Es war einfach keins. Ich war nie in der Situation. Bei der ersten Beziehung zu Luke waren wir zu jung. In Deutschland war das bis vor ein paar Tagen sowieso kompliziert, außerdem war Björn durch den großen Altersunterschied auch zu jung und mit Chris war ich nicht lange genug zusammen. Letztlich stand noch der Beruf im Weg, so lange ich selbst Fernverkehr gefahren war.
Andererseits war es gerade der Unfall in Russland gewesen, der einen Teil meiner Gedanken beeinflusste. Wie schnell konnte es vorbei sein? Und meine Eltern genauso wie Lukes Eltern hatten Enkelkinder von unseren Schwestern. Und doch waren das keine Kaiser-Leightons, es waren Wolanskis und Owens. Mit uns kamen zwei männliche Linien zum Ende. Das war veraltetes Denken, das mir sonst so fern war, aber plötzlich doch zum Nachdenken anregte.
Jetzt hatte ich überwiegend einen Bürojob und Luke Tagestouren. Kam dieser Gedanke an Familienleben mit der Sesshaftigkeit, die sich eingestellt hatte? Wir hatten auch beschlossen, dass wir jetzt mit der Suche nach einem eigenen Haus anfangen wollten und aus der Miete raus wollten. Andererseits wusste ich ja nicht mal, wie Luke darüber dachte.
Nicht einmal die teilweise wirklich beeindruckenden Bilder der Strecke konnten mich so richtig da raus reißen, auch wenn ich zum ersten Mal seit 14 Jahren hier lang kam. Wem konnte ich solche Eindrücke schon weitergeben? Okay, Luke natürlich. Aber der kannte das ja auch selbst. Leuchtende Augen würde der schon nicht bekommen.

Erst ein VW CC, der noch so gerade am Ende eines dieser Überholspur-Abschnitte zwischen Mittelsperre und meinem LKW durchschlüpfte, brachte mich wieder in die Realität.
Dann erreichte ich auch schon bald meinen zweiten Ladeort in Sundsvall, wo ich bei einer Firma, die so was herstellte, Baustellenabsperrungen laden musste. Weil auch die ersten viereinhalb Stunden rum waren, bot man mir an, mich einfach an den Zaun zu stellen und die Plane zu öffnen. Dann könnte ich dort auch stehen bleiben, nachdem fertig geladen war und meine Pause machen.
Bei Söderhamn schauten dann nach Tagen zwischen Wäldern, Tundra und Seen die ersten Anzeichen von Zivilisation hinter den Bäumen hervor.

Da ich es verpennt hatte, in Uppsala einen Platz in einem Gewerbegebiet zu suchen und keine Lust auf einen Stellplatz neben einer Tankstelle direkt an der Hauptstraße hatte, machte ich einen 10er aus dem Tag und fuhr weiter nach Västeras, wo ich einen Stellplatz in einem Gewerbegebiet fand.
Freitag, 23.06.2017
0:44 Uhr durfte ich weiterfahren. Auch hier war es noch nicht richtig dunkel, dennoch kam das blaue Innenlicht schön zur Geltung. Dazu spielte Avantasias „The Tower“ auf der erstklassigen, nachgerüsteten Audioanlage.

Ich hatte keine Chance, die Strecke bis Göteborg in einem Rutsch zu schaffen. Also machte ich eine Pause am Wegrand. Die Vormittagsfähre war dann weg, also musste ich am späten Mittag übersetzen.
So hatte ich zwar die Chance, während seiner 45er mit Luke zu sprechen, aber der merkte wohl, dass mich Gedanken umtrieben. Er fragte, ob es noch wegen des Unfalls war. Ich bejahte das erst mal, denn das Thema Familienzuwachs auf welchem Wege auch immer war eins, das definitiv nicht fürs Telefon taugte. Da müssten wir zusammen sein und die Situation am besten auch stimmen.
In Dänemark hatte ich dann noch Fahrzeit und sah zu, dass ich so weit kam, dass ich nicht am kommenden Tag noch mal eine Pause machen musste. Schließlich musste ich auch noch tanken, denn bis nach Hause würde es nicht reichen und Dänemark war günstiger als Großbritannien. Leider hatte die Tankstelle in Viborg keine Stellplätze, weshalb es wieder auf Wildcampen im Gewerbegebiet hinauslief.
Samstag, 24.06.2017
Ich konnte schon mitten in der Nacht wieder losfahren, aber lieber in Esbjerg am Hafen stehen als hier im Gewerbegebiet. Vielleicht konnte ich da in die Stadt. In Sunds, kurz vor Herning, leistete ich mir dann den skurrilsten Rotlichtverstoß meiner Karriere. Die Ampel war ausgeschaltet und blinkte gelb, als ich auf sie zu fuhr. Offenbar wurde sie aber um Punkt 4 Uhr aktiviert und es war Punkt 4 Uhr als ich 20 Meter vor der Kreuzung war. Also sprang die Ampel auf Rot und ehe ich merkte, wie mir geschah, blitzte es hinter der Kreuzung noch mal rot. Wenn das ein Strafmandat gab, würde ich diese Kuriosität aber mitsamt Dashcam-Video dem Anwalt übergeben.

Esbjerg war noch nicht so richtig wach, als ich den Hafen erreichte. Also checkte ich ein, stellte den LKW auf der Wartefläche ab und machte mich erst mal auf den Weg in die Stadt. Es gab hier allerdings wenig zu sehen, dafür konnte ich in einer Bäckerei anständig frühstücken, nachdem es vorhin nur ein Müsli gegeben hatte.
Auf dem Weg zum Hafen zurück erkannte ich, wie die markante Silhouette eines Foden 4000 die Straße an einer Kreuzung überquerte. Und ich bezweifelte pauschal, dass davon gerade mehr als einer in Dänemark, wenn ich sogar in ganz Europa internationalen Fernverkehr fuhr. Das bedeutete, ich konnte mir am Hafen mit Dima die Wartezeit zusammen vertreiben und hatte auch auf der Fährpassage jemanden zum Quatschen.
Sonntag, 25.06.2017
Die Fähre legte um 15:30 Uhr in Immingham an. Hier trennten sich unsere Wege. Dima fuhr in den Süden, wo er erst morgen früh in London entladen und dann den LKW beim Besitzer an der Südküste abliefern musste. Ich war gegen 19:30 Uhr in Deeside und wurde von Luke an der Firma empfangen. Ich musste noch abkuppeln, den Trailer sollte morgen Davey zum Baumarktzentrallager fahren, für das beide Partien gedacht waren.
Dann fuhren wir nach Hause, wo wir uns noch die Bilder von dem USB-Stick anschauten, den Vasya mir gegeben hatte und den ich mir auf den Laptop kopiert hatte. Auch wenn da Kinder zu sehen waren und Luke manchmal sehr amüsiert über die Bilder von Schneeballschlacht im Januar oder Fußballspiel jetzt war, passte die Situation nicht. Ich war einfach zu fertig nach dieser Tour, um jetzt ein solches Gespräch anzufangen.
