In diesem Kapitel…
…muss Philip einige wilde Frisuren ertragen…
…kann Luke froh sein noch am Leben zu sein…
…und Ben wird Taxifahrer!
Anfang Juli 2017
Die erste Aufgabe nach meiner Rückkehr aus Russland wurde es, den Azubi für das Büro zu finden. Ich hatte zusammen mit Philip sofort die eingegangenen Unterlagen studiert und wir trafen eine Auswahl. Woran ich mich bisher noch nicht gewöhnt hatte, waren die Bewerbungen ohne Fotos und ohne persönliche Daten. Der Grund war natürlich, dass so niemand aufgrund Rasse, Alter oder irgendwelcher „Nasenfaktoren“ ausgeschlossen wurde oder anders rum sich optisch so gut in Szene setzte, dass damit fachliche Defizite überdeckt wurden. Jeder hatte theoretisch die gleichen Chancen, eingeladen zu werden. Man konnte allenfalls bei Leuten mit Berufserfahrungen versuchen, aufs Alter zu folgern. Aber auch dann konnte man an jemanden geraten, der seine Firma jährlich gewechselt hatte und den ignorieren, der 20 Jahre im gleichen Unternehmen gewesen war. Bei Schulabsolventen wie hier gab es aber nur die Noten und bei so einem kleinen Unternehmen wie uns die Namen dazu. In größeren Unternehmen mussten die Briefe im Vorzimmer geöffnet werden und dann wurden die Anschreiben mit Namen und die anonymen Bewerbungsunterlagen per Nummerncodes verbunden, so dass die Entscheider wirklich nur eine Nummer mit Qualifikationen vor sich hatten.
Wir luden am Ende vier Kandidaten ein. Lewis Thomson und Kevin Colman hatten ein GCSE hingelegt, das ganz gut war, aber mit dem sie sich dann wohl doch nicht auf ein BTEC und Studium einlassen wollten. Damit würden sie bei Ausbildungsbeginn also 16 oder 17 sein. Paul Taylor und Laura Stanley hatten dagegen ihre BTEC abgeschlossen und waren somit logischerweise 2 Jahre älter. GCSE entspräche in Deutschland einem Realschulabschluss und BTEC dem Abitur.
In der Woche darauf ließen wir sie zu Vorstellungsgesprächen kommen. Und ich war mir nicht sicher, ob sie es mit Fotos alle hier hin geschafft hätten. Bei den beiden GSCE-Kandidaten merkte ich, dass Philip schon verwundert war, wer da rein kam. Mir war so was bekanntlich egal.
Und nachdem alle vier Gespräche durch waren meinte er, allerdings eher scherzhaft: „Die beiden jüngeren waren ja echt eine haarige Angelegenheit.“ Denn Kevin Colman war halbschwarz und trug fast hüftlange Rastazöpfe. Lewis Thomson, Waliser durch und durch, hätte ohne Probleme als unauffälliger Junge durchgehen können, wenn er nicht seine schwarzen Haare über der Stirn strähnchenweise violett gefärbt hätte. Mit mehr Reife durch ihr Alter waren Paul Taylor und Laura Stanley weniger optisch aufgefallen.
Wir diskutierten dann natürlich doch vor allem über die fachlichen und menschlichen Eindrücke, die sie hinterlassen hatten. Und da stellte sich dann am Ende raus, dass die Bewerbung ohne Fotos für den endgültigen Kandidaten wohl bei Philip wie vorgesehen ein Vorteil gewesen war. Denn da wir uns beide keine Illusionen machten, dass Paul und Laura das hier nur als Durchgangsstation zum Ansparen für ein hier recht teures Studium oder als Sprungbrett in ein großes Logistikunternehmen mit Karrierechancen betrachteten, war bei Kevin und Lewis zu hoffen, dass sie nach der Ausbildung bleiben würden. Persönlich hatten beide den Eindruck gemacht, ins Team zu passen. Kevin hatte den besseren Zeugnisschnitt, Lewis war besser in den Fächern, auf die es ankam. Also würde, nachdem wir uns einig geworden waren, das Büro ab September etwas violette Farbe bekommen.
Am nächsten Tag heiterte ich dann nicht nur Philip noch mit einem Foto auf, das einen Teenager mit blauen Haaren und zu allem Überfluss auch noch Nackenschwänzchen zeigte. Also gleich zwei Sünden in einer Frisur: „Wer kennt diesen Jungen? Sachdienliche Hinweise an die Geschäftsführung!“ Luke kam mit seinen Frachtpapieren vorbei: „Ich glaube, ich weiß es!“ „Personen, die im gleichen Alter einen weißblond gebleichten Irokesenschnitt bei ansonsten normaler Haarfarbe hatten, sind von der Teilnahme ausgeschlossen!“ „Bei so eindeutigen Hinweisen auf Insiderwissen denke ich mal, dass der scheinbar einem japanischen Trickfilm entlaufene Junge mit der auffälligen Haarfarbe heute mein Chef ist.“ „Der Kandidat gewinnt 100 Punkte und einen Kaffee zum selber kochen.“
Mitte Juli 2017
Mitte des Monats dann kam der bisher schlimmste Tag in meinem Leben. Philip hatte die Tür geöffnet, nachdem es um den Mittag geklingelt hatte und stand mit einem sehr ernsten Gesicht in der Tür: „Ricky, hier ist die Polizei für Dich.“ Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie wegen mir persönlich kamen. Damit war der nächste Gedanke ein Unfall mit einem unserer Trucks.
Ich bat die Beamten einzutreten und sie stellten sich kurz selbst vor, um dann die Routinefrage zu stellen, dass ich der war, der ich sein sollte: „Sind sie Eric-Simon Kaiser-Leighton?“ „Ja.“ „Dieses Unternehmen besitzt einen Iveco Stralis mit dem Kennzeichen DH66 KXT?“ „Ja…“ Mir wurde schwindlig, das war Lukes Zugmaschine, wir hatten sowieso nur den einen Iveco. „Es gab einen Unfall, der Fahrer wurde in Hull ins Krankenhaus eingeliefert. Die persönlichen Dokumente des Fahrers scheinen bei der Bergung im Fahrzeug verblieben zu sein. Deshalb liegen uns diese Daten noch nicht vor.“ Aber mir…
Die Herrschaften verabschiedeten sich und Philip sah besorgt in mein Büro: „Was ist passiert?“ „Luke hatte einen Unfall und ist im Krankenhaus. Ich muss nach Hull.“ „In dem Zustand fährst Du nirgendwo hin.“ „Mein!! Mann!! Liegt!! Im!! Krankenhaus!!!!“ „Ja, das habe ich verstanden. Aber lass Dich in Gottes Namen von Ben fahren. Wenn Du in diesem Zustand in eins Eurer übermotorisierten Autos steigst, liegst Du weit vor Hull in einem anderen Krankenhaus!“ Damit hatte er allerdings Recht. Philip sagte also Ben was passiert war, während ich mir entgegen meiner Geschmacksnerven einen Kaffee eintrichterte, um dem Kreislauf ein Bisschen Starterpilot zu geben, und kurz danach gab ich unserem Mechaniker den Schlüssel für meinen BMW und ließ mich an die Nordseeküste bringen.

Das Krankenhaus lag so dämlich in einer Einbahnstraße, dass wir einen Umweg fahren und über die viel befahrene Hauptstraße müssten, bis wir am Haupteingang wären. Also ließ ich mich von Ben in der Parallelstraße absetzen. Dann konnte er in Ruhe einen Parkplatz suchen.

Ich fragte mich zu Luke durch und erfuhr, dass man ihn gerade operierte. Ein Polizist aus dem Fall war allerdings gerade da und klärte mich in einem Besuchszimmer auf, was passiert war: „Zuerst einmal die gute Nachricht, Ihr Mann ist nicht lebensbedrohlich verletzt. Wir führen es als schwere Verletzung, letzten Endes hat er beide Beine gebrochen.“ Das beruhigte mich, denn so was war vielleicht schmerzhaft und langwierig, aber in der Tat nicht lebensbedrohlich. Die genauen medizinischen Folgen würde mir sowieso noch ein Arzt erklären.
„Es kam weiter vorne zu einem Unfall mit 2 PKW. Ihr Mann und zwei weitere LKW sind auf einen LKW mit Pritschenanhänger aufgefahren beziehungsweise aufgeschoben worden. Wir wissen noch nicht, wer wie lange stand oder wie schnell aufgeprallt ist. Die Kollegen ermitteln.“
Als nächstes rief Marlon an. Natürlich hatte Philip in Deutschland angerufen. Einerseits aus menschlichen Gründen, dort kannten alle Luke und er war ein Jahr lang für die meisten direkter Kollege gewesen.
Außerdem gab es mehrere dienstliche Gründe für Philip, schnellstens mit Bochum zu reden. André musste wissen, dass morgen kein Trailer in Holland ankommen würde und vielleicht auch keiner in Hull abgeholt werden konnte. Da kümmerte sich Philip mit unseren Subunternehmern drum. Und Marlon oder Julian mussten sich um den Schaden an der Ladung deutscher Kunden kümmern, die Kunden und unsere als Subunternehmer agierenden Partner Steven und Felix informieren und der Trailer, den Luke gezogen hatte, war auch ein deutscher.
Marlon wollte natürlich nur wissen, wie es Luke ging. Ich konnte ihm natürlich nur die noch eher vagen Informationen geben, bevor ich selbst mit einem Arzt gesprochen hatte. Eine Ärztin rief mich dann auch kurz danach in ihr Zimmer: „Ihr Mann hat beide Beine an Schien- und Wadenbein gebrochen, mit umfangreichen Gewebeschäden. Wir haben die Knochen operativ gerichtet und verschraubt, Muskeln und Bänder wieder verschweißt. Er wird aber 4 Wochen lang Schienen oder Gips tragen müssen und die Beine nicht bewegen können. Danach wird eine mehrwöchige Rehabilitation notwendig sein, um die Beinmuskulatur wieder aufzubauen und – für den eher unwahrscheinlichen Fall – bleibende Schäden zu erkennen.“ Das verdrängte man in der ersten Erleichterung. Aber es war natürlich nicht gesagt, ob alle Muskeln, Bänder und Nerven wieder funktionieren würden wie vorher.
Ich wurde zu dem Zimmer geführt, wo Luke noch schlief. Noch vor der Tür kam aber wieder ein anderer Polizist auf mich zu: „Sind Sie Eric-Simon Kaiser-Leighton?“ „Ja.“ „Können Sie sich bitte kurz ausweisen?“ Ich hatte natürlich immer den deutschen Personalausweis und meinen EU-Führerschein dabei, beides wurde hier akzeptiert. „In Ordnung. Hier sind die Wertsachen Ihres Mannes, die wir aus der Zugmaschine geborgen haben. Außerdem die Adresse, wo das Fahrzeug steht. Den Fahrtenschreiber und das Motorsteuergerät haben wir zur Beweissicherung beschlagnahmt und ausbauen lassen.“ Er gab mir Lukes Handy, Schlüssel und Geldbörse, dazu die Visitenkarte eines Abschleppdienstes.
Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete Luke die Augen. Er machte aber einen verwirrten Eindruck, konnte kein sinnvolles Wort sprechen und ich war mir nicht mal sicher, ob er mich erkannt hatte. Die Arztin bat mich dann auch schnell, zu gehen: „Das sind Folgen der Narkose. Die Messwerte zeigen, dass er sich sehr aufregt, möglicherweise, weil er sich verständlich machen will, aber nicht kann. Kommen Sie am besten morgen früh zur Besuchszeit wieder, bis dahin sind die Narkosemittel komplett abgebaut. Wir müssen gleich ohnehin noch umfangreiche Untersuchungen durchführen.“
Ich griff Lukes Hand, in der keine Kanüle steckte: „Ich komme morgen wieder. Keine Sorge. Dann wird es Dir auch besser gehen.“ Der Puls auf dem Überwachungsgerät verlangsamte sich etwas.
Vor der Station wartete Ben. Ich gab ihm die Visitenkarte: „Einmal dahin, bitte.“ Nach 15 Minuten kamen wir bei einem großen Platz voll mit Fahrzeugen an, relativ dicht am Eingang standen vier Zugmaschinen. Ein Scania, laut Werksverzierung ein Streamline, mit ziemlich plattem Fahrerhaus, Lukes im unteren Bereich der Kabine stark eingedrückter Iveco, ein Scania 124 mit abgerissener Frontschürze und ein abgesehen von dem Schriftzug auf der Tankverkleidung nicht mehr als Volvo zu erkennender Klumpen Altmetall. Dahinter waren auch die entsprechenden Trailer abgestellt.
Nachdem wir vom Pförtner gefragt worden waren, was wir wollten und ich den Fahrzeugschein des Iveco vorgelegt hatte, wurden wir rein gelassen. Ben kletterte in den zerstörten Stralis und sammelte die Dinge ein, die die Polizei nicht raus genommen hatte, also Rucksack mit dem Pausenbrot und Getränken, den Inhalt der Ablagefächer, Dekoration wie das Wimpel von Cardiff City und das Betttuch der Llanelli Scarlets. Immer wieder, wenn er was raus reichte, fiel mein Blick in den blutverschmierten Fußraum auf der Fahrerseite.
„Wir haben sowieso keinen Stralis mehr, ich kann also nicht wirklich was davon gebrauchen. Reifen und Felgen würde ich nach einem Unfall nicht wo anders aufziehen. Wenn Du meinen Rat hören willst, sollen sie die Zugmaschine komplett verschrotten lassen. Die Kabine ist leer.“ Ben machte ein paar Fotos, um den Zustand des Sattelzugs zu dokumentieren. Ich gab also die Verschrottung nach Abschluss der Ermittlungen und Begutachtung durch unsere Versicherung in Auftrag und sagte, dass ein LKW von uns oder einem Subunternehmer kommen würde und den Trailer umladen sollte. Was aus dem danach werden sollte, müsste die deutsche Niederlassung sagen.
Ben fuhr uns zu einem Hotel, wo ich uns über die Nacht Zimmer buchte. Am nächsten Morgen sahen wir in der beim Frühstück ausliegenden Zeitung dann auch die ganze Bescherung. Von dem PKW-Unfall weiter vorne wussten wir, dort hatte es drei leicht Verletzte gegeben. Bei dem Unfall mit insgesamt 4 Sattelzügen war von einem unverletzten die Rede, das war der in dem Stahltransporter ganz vorne, dem 4er Scania. Luke war einer der beiden schwer verletzten, der andere hatte den letzten LKW, den Streamline, gefahren. Der Fahrer zwischen Luke und dem letzten war tot, beim Anblick des Volvo FH kein Wunder. Ich fuhr Ben zum Bahnhof. Er nahm den Zug zurück nach Deeside.
Im Krankenhaus war Luke heute in der Tat klarer. Er erkannte mich und konnte sprechen. An den Unfall selbst hatte er keine Erinnerungen. Der LKW vor ihm, mit Stahlteilen auf der Ladefläche, hatte eine Vollbremsung gemacht und er hatte seinen Sicherheitsabstand ziemlich aufgebraucht und 2 Fuß dahinter angehalten. Danach war er im Krankenhaus aufgewacht und sah verschwommene Gestalten um sein Bett, von denen eine meine Stimme hatte. Dazwischen fehlte alles.
Ich blieb die folgenden 2 Tage in Hull, bis Luke transportfähig war und nach Chester verlegt werden konnte. Dort machte ich in der Firma nur das nötigste, fuhr meistens um die Mittagszeit nach Chester und blieb bis zum Ende der Besuchszeit.
Irgendwann nach einigen Tagen stellte mir Luke eine überraschende Frage, direkt nachdem ich in sein Zimmer gekommen war: „Wusstest Du eigentlich, wie viele Kinder im Vereinigten Königreich ohne Eltern in Heimen aufwachsen?“ „Nein.“ Er nannte die Zahl und ich war mir nicht sicher, ob ich von der Frage selbst oder von der Zahl in der Antwort mehr überrascht sein sollte.
„Durch den Unfall ist mir erst mal so richtig klar geworden, dass wir hier zwar was für uns aufbauen, aber keinen Plan haben, wie es mal weiter gehen soll.“ „Was meinst Du damit?“ „Ich denke logischerweise gerade auch über meinen Unfall nach. Ich habe keine Ahnung, wie mein Truck aussieht und bin auch wahrscheinlich noch gar nicht bereit, es zu erfahren. Aber ich habe wohl Glück gehabt. Wenigstens habe ich Gefühl in den Füßen und Unterschenkeln, also keine offensichtlichen Nervenschäden.
Ich hätte aber auch im Rollstuhl enden oder tot sein können. Auch Du wolltest wieder mehr fahren, vor allem als Urlaubsvertretung. Auch wenn wir da nicht gerne dran denken, es kann uns jederzeit treffen, auch wenn wir selbst unschuldig sind. Und natürlich hoffe ich, dass wir beide ohne schwere Unfälle durch den Rest unseres Berufslebens kommen, aber in 30 Jahren bist Du fast 70 und ich mitten in meinen 60ern. Vielleicht wollen wir dann noch was von unserem Leben haben und nicht im Büro vom Stuhl in die Holzkiste fallen.
So oder so, es wird der Tag kommen, wo Du dieses Unternehmen nicht mehr leiten wirst und ich es auch nicht übernehmen kann oder will. Unsere Angestellten brauchen eine Zukunft nach uns. Und da es mit leiblichen Nachkommen bei uns bis auf merkwürdige Leihmutter-Konstrukte Essig sein wird, habe ich mich entschlossen, Dich zu fragen, ob wir vielleicht einem dieser tausende unglücklicher Kinder ein besseres Zuhause geben wollen?“ Es war ihm schwer gefallen, diesen Satz zu sprechen. Vermutlich rechnete er mit großem Widerstand von meiner Seite.
„Und es lässt sich nicht erzwingen, aber zumindest besteht die Hoffnung, dass wir so auch eine neue Generation für die Nachfolge in der Firma bekommen.“ Im Prinzip waren das genau meine Gedanken in Skandinavien gewesen. Und auch wenn die Zustände hier sicherlich besser waren als in einem von Moskau fast vergessenen Zipfel Russlands, kannte ich doch die schwere Situation, in der sich Kinder in einem Heim befanden und wie sie sich an jeden Strohhalm klammerten, der ihnen Freude, Hoffnung oder einfach nur ein Bisschen Abwechslung versprach.
Bei den Kindern meiner Schwester brauchten wir nicht nach der Nachfolge zu suchen. Meine Nichte Lena hatte an Zahlen einen Narren gefressen und löste mit 9 Jahren schon einfache Sudokus, rechnete mit Vorliebe den Kassenbon aus dem Supermarkt nach und wenn sie sich am Ende auch noch fürs Steuerrecht erwärmen konnte, dann war sie die nächste Generation im Betrieb meiner Schwester, die das Steuerbüro schon in dritter Generation seit meinem Großvater führte.
Mein Neffe David interessierte sich für LKW auch nur, so lange sie Spielzeug waren. Der baute mit 7 Jahren Lego Technic, für dessen einfachste Modelle er laut Bauanleitung eigentlich 3 Jahre älter werden müsste. Und er baute sie nicht nur nach Plan, er erfand auch eigene Sachen. Bei meinem Vater hatte er kürzlich die elektrische Eisenbahn entdeckt und fing jetzt auch da dank Märklins kindersicherem Mittelleitersystem an, verrückte Gleisbilder zusammenzustecken. Wenn das anhielt, würde der bestimmt Ingenieur, die Frage war da dann nur noch in welcher Fachrichtung.
Und die Kinder von Lukes Schwester waren nicht mal sonderlich an LKW interessiert, also wahrscheinlich fand sich auch da keine familiäre Nachfolge. Irgendwo hatte Luke Recht und ich selbst ja auch. „Lass uns da noch mal ein paar Nächte drüber schlafen und uns dann informieren. Aber ich hatte schon ähnliche Gedanken.“ „Echt? Wann?“ „Ja, in Skandinavien und Russland in den letzten Wochen. Es hatte sich nur nach meiner Rückkehr noch nicht die richtige Gelegenheit ergeben, Dich darauf anzusprechen.“ „Ernsthaft informieren können wir uns sowieso erst, wenn ich hier raus und mit der Reha durch bin. Dazu müssen wir ja mal mindestens zum Children and Family Court Advisory and Support Service.“ Das war das hiesige Gegenstück zum Jugendamt.
Und am letzten Montag im Juli sprach mich Timo dann im Büro beim Abholen der Papiere an: „Denkst Du, die werden sich noch irgendwann mal mit unseren Rechten einig? Bis auf „Brexit heißt Brexit“ und „Besser kein Abkommen als ein schlechtes“ haben die Briten ja in einem Jahr nichts auf die Beine gestellt bekommen. Und inzwischen sollte auch der letzten Pfeife mal aufgefallen sein, dass der EU nicht viel an abtrünnigen Inseln gelegen ist! Und die neue Regierung sieht so aus, als würde sie noch weniger hinkriegen als die alte.“ „So abgrundtief ich die DUP hasse, die werden uns eher helfen, weil sie Nordirland beim Vereinigten Königreich halten wollen, aber nicht mal gerade eben von der Insel Irland rüber schieben können. So, hier sind Deine Papiere.“
Ich nahm in dem Moment Timos enttäuschtes Gesicht nicht wahr, das wohl mit meiner gleichgültigen Haltung zu der Situation zusammenhing. Eigentlich sollte ich besser wissen, dass ich auf mein bereits vorhandenes „Sorgenkind“ ein Auge haben musste.
Mitte August 2017
Nachdem Luke den Gips abgenommen bekam und alle Tests positiv verlaufen waren, wurde er immer noch im Rollstuhl und per Krankentransportwagen in die Rehaklinik, ebenfalls in Chester, verlegt. Nun musste er wieder laufen lernen. Nicht dass er es vom Ablauf verlernt hatte, aber durch die Verletzungen und die schwere Operation, um die Knochen zu richten, hatte er große Schäden an der Muskulatur davongetragen und nach 4 Wochen in Gips waren die Muskeln auch noch zu schwach. Die Maßnahme sollte auch entsprechend 4 Wochen dauern.
In der Firma hatte sich alles eingespielt, dachte ich zumindest. Davey war auf den Pendelverkehr gesetzt worden und fuhr nach Hull und zurück. Philip kümmerte sich um die Belange im Büro. Ich dagegen half durch meine täglichen Besuche Luke zumindest moralisch mit auf die Beine.
Meine Antennen waren aber ansonsten wohl eingefahren, bis zu dem Tag, an dem ein Vertreterbesuch zeitlich etwas ausgeartet war und ich mich dann schnell auf den Weg machte ins Krankenhaus. Philip wollte mich auch noch aufhalten, als ich auf dem Weg raus war: „Ricky, ich muss mal mit Dir sprechen.“ „Ich bin spät dran. Morgen bitte!“
Während der Besuchszeit am Nachmittag tauchte Philip dann auch in der Rehaklinik auf. Er fragte Luke, wie es ihm geht und plauderte ein Bisschen über dieses und jenes. Also schien es ja im Büro alles glatt zu laufen – dachte ich, bis dann Philip die Kehrtwende einlegte und zu Luke meinte: „Ich entführe Dir jetzt mal Deinen Mann auf einen Spaziergang im Krankenhauspark.“
Kaum waren wir vom Gebäude und den gut besuchten Parkbänken direkt daran etwas weg, fing er auch an: „Tut mir leid, Ricky. Aber es kann nicht bis morgen warten. Ich bin selbst verheiratet und ich weiß, was es bedeutet, Verantwortung für den Ehepartner zu haben. Das kannst Du mir glauben. Aber Du hast auch Verantwortung für die Firma. Und da musst Du mehr machen.“ „Jetzt…“
„Als der Unfall frisch passiert ist, habe ich da noch drüber gesehen und es geschultert! Das geht aber nicht ewig!“ Nein, ewig sollte es das auch nicht. In 3 Wochen kam Luke ja raus. „Ich komme doch abends nach der Besuchszeit noch mal rein.“
„Das reicht wohl nicht. Das Tagesgeschäft läuft, Du disponierst die Trucks durch und arbeitest Deine Mappe mit Schriftkram ab, aber bist sonst nicht mal für den Innendienst erreichbar. Sogar von Ben höre ich Klagen, dass die alten DAF inzwischen nur noch mit extremem Aufwand am Laufen zu halten sind und Du Dich nicht kümmerst. Ob ich nicht mal was sagen könnte. Er traut sich wohl nicht. Jung wie er ist, kann ich ihm das nicht mal krumm nehmen. Wir alle haben vermutlich erst im Laufe des Arbeitslebens gelernt, dass man auch mal seinen Standpunkt beim Chef vertreten muss.“ Ben hatte davon gesprochen. Das hatte ich in der Tat verschoben. „Du wolltest sie eigentlich selbst schon längst weg haben. Daveys und Timos Zugmaschinen haben 700.000 Meilen Plusminus runter und nicht immer unter Duncan ein gutes Leben gehabt.
Und Davey verhungert seit Wochen zwischen Deeside und Hull. Wir haben einen praktischen Lehrauftrag angenommen. Er müsste wieder mal begleitet werden und seine Arbeitsweise überprüft und wenn nötig korrigiert werden. Apropos Ausbildung! Du musst Dich auf Lewis vorbereiten. Der kommt in gerade mal etwas mehr als einer Woche und wir haben keinen Schreibtisch, keinen PC und keinen Plan, was wir ihm wann beibringen wollen und sollen. Und ich kann es nicht alles machen. Ich laufe derzeit bei 150%, auch um Dir den Rücken freizuhalten, weil Du ein Chef bist, der das eine Zeit lang verdient hat!“
„Aber…“ „Kein aber! Jeden Tag bringe ich meine Frau nach der Arbeit zur Dialyse. Das ist schon seit Jahren so. Derzeit komme ich allerdings morgens schon vor 5 ins Büro, um den Rest zu erledigen. Die Niereninsuffizienz meiner Frau geht Dich an sich nichts an, aber jetzt muss sie das wohl! Ich komme an meine Grenzen. Und wenn ich die Verantwortung für meine Frau wahrnehmen will, dann muss die Firma wieder auf eine einzelne Vollzeitstelle zurückgefahren werden.“ „Und wenn…“
„Wenn Du erwartest, dass ich das noch 3 Wochen durchziehe und auch noch die unaufschiebbaren Dinge für Lewis Anfang mit mache, dann tut es mir leid. Wenn ich auch nur annähernd so viel Zeit der Krankheit meiner Frau widmen wollte wie Du es bei Luke machst, dann wäre die KFL Intertrans Ltd. in den letzten 5 Wochen mit Anlauf vor die Wand gefahren. Ich habe noch nie meinem Chef die Pistole auf die Brust gesetzt und ich weiß nicht, ob das jemals ein Angestellter mit Dir gemacht hat. Aber entweder Du bist ab morgen wieder einen vollen Arbeitstag im Büro, plus die Zeit, die dringenden und aufgelaufenen Dinge zu erledigen oder ich werde Dienst nach Vorschrift machen, auch auf die Gefahr hin, dass wir dann alle in kürzester Zeit arbeitslos auf der Straße sitzen, weil der Laden den Bach runter geht! Bitte komm zur Besinnung! Ich schaffe es nicht alleine! Und ich habe eine chronisch kranke Frau, die nicht wie Luke mit 4 Wochen Gips und 4 Wochen Reha wieder gesund ist. Wenn keine Spenderniere gefunden wird, dann wird sich das noch über Jahre hinziehen, zusätzlich zu den fast 2 Jahren, die es schon so ist.“
„Ich…“ „Und wo wir schon mal dabei sind. Ich glaube wenn Du nicht mal schleunigst mit Timo sprichst, dann haben wir einen der alten Trucks kurzfristig frei zur Ausmusterung. Der ist mit der politischen Lage hier noch unglücklicher als wir alle und Du als nahe liegende Bezugsperson, sowohl als Chef als auch als ebenfalls deutscher EU-Ausländer, nicht erreichbar, um ihm eine Perspektive zu geben! Ich an seiner Stelle würde mir da ein weiches Kissen auf dem Kontinent suchen, um nicht am Ende mit nichts in der Hand aus dem Vereinigten Königreich ausgewiesen zu werden, wenn es „No Deal“ gibt. Denk darüber nach, ich will jetzt keine Antwort. Außerdem muss ich meine Frau abholen. Morgen sehen wir uns sowieso.“ Er ging und ließ mich im Park stehen.
Als ich wieder zu Luke kam, war ich entsprechend durch den Wind und er merkte es: „Was ist los mit Dir?“ „Nichts.“ „Wenn Du denkst, dass Du mir keine Sorgen aufhalsen willst, dann ist das nett gedacht. Aber es bringt nichts. Ich sehe doch, dass was mit Dir ist und wenn ich weiß, dass Du das in Dich rein frisst, dann regt mich das nur noch mehr auf.“ Also gab ich in kurzen Worten Philips Standpauke wieder.
„Ich befürchte, da hat er Recht. Natürlich freue ich mich, wenn Du bei hier mir bist. Aber als Geschäftsführer hast Du wirklich eine Verantwortung für die Firma und alle Angestellten. Einschließlich Lewis, der ja schon einen Vertrag hat, sind das ohne uns immer noch 10 Leute, wir machen das Dutzend voll. Dazu kommen die Familien der Angestellten, die ja am Ende auch von der Firma abhängig sind. Und wir zwei haben beschlossen, uns zu informieren, ob wir ein Kind annehmen, das dann auch von der Firma ernährt werden muss. Ich habe „nur“ gebrochene Beine und kriege ein Aufbautraining für meine Beinmuskeln. Ich schaffe das schon mit weniger und kürzeren Besuchen von Dir. Die Jungs brauchen Dich mehr als ich!“
Am nächsten Morgen war ich dann auch früher im Büro. Als erstes entschuldigte ich mich bei Philip und bedankte mich für die offenen Worte. Dann ging ich ans Tagesgeschäft, bis Ben in die Werkstatt kam. Ich ließ mir von ihm die Wartungsberichte von Daveys und Timos Trucks geben. Bei Timo war ein Anstieg zu erkennen, aber es ging noch einigermaßen. Als Ben mit der Aufstellung der Reparaturen an Daveys XF fertig war, setzte er hinterher: „Wenn das Ding das nächste Mal mit einem schwereren Defekt hier rein kommt, leite ich die Notsprengung ein!“ Bei der Anzahl von Defekten und auch manchen ärgerlich zu reparierenden konnte ich das sogar ganz gut verstehen.
Als nächstes war Lewis an der Reihe. Ich bestellte einen Schreibtisch bei einem Büroeinrichtungshaus hier im Gewerbegebiet und einen Computer mit allen nötigen Lizenzen bei unserem IT-Dienstleister. Danach rief ich bei der Chamber of Commerce an und forderte einen praktischen Ausbildungsplan für Speditionskaufleute an. Der sollte dann in der kommenden Woche und immerhin vor Ausbildungsbeginn bei uns eingehen. Wenigstens in der Berufsschule hatte ich ihn vor Lukes Unfall noch angemeldet, sonst hätte ich jetzt ein mittleres Problem.
Davey kam abends von einer Zweitagestour zurück. An sich sollte Timo einen neuen Truck bekommen und Davey auf dessen DAF gesetzt werden, dann Alex einen neuen und Davey dessen DAF kriegen, bevor dann mal er selbst an die Reihe gekommen wäre. Diesen Plan hatte ich verworfen, nachdem ich vorhin den Reparaturbericht gesehen hatte. Davey bekam sofort einen neuen Truck, und zwar einen, der beim Händler auf Halde stand.
Sobald ich es von der Arbeit schaffte, was wohl in Lewis erster Schulwoche sein würde, wollte ich dann den alten DAF auf seine letzte Tour für uns selbst fahren. Das Ziel war eine Werkstatt in Bochum, in der ein in Afrika geborener KFZ-Mechanikermeister scharf auf alles war, das das Steuer rechts hatte, weil seine Kumpanen in Kenia das besser bezahlten.
Ich nahm die Frachtpapiere und bat unseren Fahrer-Azubi in mein Büro. „Also, Davey. Was für einen Truck hättest Du denn gerne als nächsten. Du hast den ältesten, Du bist dran.“ „Oh. Da habe ich gar nicht mit gerechnet. Was darf ich denn aussuchen?“ „Die Marke der 7 Westeuropäer. Um Motorisierung und Ausstattung kümmere ich mich dann. Wobei Deiner von der Halde kommt. Je nach Hersteller kann es also passieren, dass Du ein Vor-Facelift-Modell bekommst.“ „Hm. Auf jeden Fall keinen DAF mehr. Und Scania Streamline auch nicht. Ansonsten kenne ich ja nur Iveco.“ „Tja, kannst ja mal bis morgen drüber nachdenken.“
Am nächsten Morgen kam er dann, um seine Papiere für den Tag zu holen: „Guten Morgen.“ „Guten Morgen. Hast Du gut geschlafen trotz der schweren Entscheidung?“ „Ja. Iveco.“ Mir wäre lieber gewesen, wenn er den unkomplizierter bekommen hätte. So sehr wie Luke sich in letzter Zeit mit ERF- und MAN-Fanartikeln – ab und zu zur allgemeinen Verwirrung einen von Volvo – eindeckte, würde er wohl eher keinen Iveco mehr fahren und wäre, hätte man seinen nicht in den Vordermann gehämmert, sicher einem Tausch nicht abgeneigt gewesen.
„Ooookay.“ „Was denn? Sollte Dir als Fan der Marke doch recht sein.“ „Ist es grundsätzlich auch. Aber irgendwie bin ich doch immer überrascht, wenn sich einer outet. Im Truckerforum oder auf Rastplätzen hatte ich immer das Gefühl, der einzige Iveco-Fan nördlich der Alpen zu sein. Zumindest der einzige, der keinen italienischen Nachnamen hat.“
„Einen mit russischem Namen solltest Du auf jeden Fall noch kennen. Maxim macht ja in seinen Videos genug Werbung für die Marke. Der hat mich auch ein Bisschen beeinflusst. Außerdem fand ich schon interessant, wie viel besser Luke sein 460er Stralis gezogen hat als mein 460er XF105.“ „Okay. Ich schaue mal, was ich kriegen kann. Dass es ein XP wird, kann ich aber nicht versprechen. Vielleicht noch mal ein normaler Hi-Way. Wie gesagt muss ich schauen, dass ich schnell einen kriege. Wenn es nach mir geht, wechselst Du kommende Woche. Dann kann ich auch mit Dir auf eine kleine Einweisung fahren. Wenn Lewis erst mal hier ist, wird es schwerer, weil ich dann hier mehr gebraucht werde, um ihn auszubilden.“ „Okay.“
Für mindestens die verbleibenden 3 Wochen vergab ich den Trailershuttle nach Hull an unseren Subunternehmer Adrian Malone, Davey sollte wieder mehr Dinge tun, die ihn weiter brachten. Wenn Luke wieder arbeiten konnte, sollte er aber lieber mal lackieren, also würden da noch 2 oder 3 Wochen mehr drauf kommen.
Dann fuhr ich nach Manchester zu Iveco Northern Commercials, eine ziemliche Anreise. Für Neuwagen ließ man in Großbritannien den Außendienst antreten, aber ein Spontankauf ging eben nur vor Ort bei dem dünnen Händlernetz. Ich sah mir die Fahrzeuge an, die dort standen und am Ende entschied ich mich für einen Stralis Hi-Way ohne XP, dafür mit 500 PS, Handschaltung, der obligatorischen Vorlaufachse und für den Verkauf von Halde verträglichem Lack in Mausgrau, dafür ein paar blinkenden Zubehörfelgen.
Davey würde ihn erst einmal so fahren müssen, bis Luke ihn während einer Schulwoche lackieren konnte. Allerdings sollte Ben einen Lampenbügel mit ein paar Zusatzscheinwerfern und zwei Rundumleuchten bestellen. Gefahrgut ging hier zwar auch ohne Feuerwerk, das brauchte man eher in den Alpen. Aber es sah auch gut aus und da der Truck länger halten würde als Daveys Ausbildung, würde er damit sowieso noch die Berge sehen.
Letzte Augustwoche 2017
Am Montag früh war dann Timo an der Reihe. Anstatt ihm seine Frachtpapiere zu geben, holte ich ihn in mein Büro. „Es tut mir leid. Ich habe in den letzten Wochen etwas zu wenig an Euch in der Firma gedacht und insbesondere an Dich. Du haderst mit dem Brexit?“ „Ach, der Flurfunk ist im Chefbüro angekommen?“ Ich konnte ihm die Spitze nicht übel nehmen. „Ich bin halt besorgt. Ich habe ja nichts außer Nachrichten von schlecht verlaufenden Verhandlungen.“ „Wenn es so weit ist, dass Du wirklich um eine Aufenthaltserlaubnis kämpfen musst, dann werde ich Dir eine Erklärung geben, dass Du für das Unternehmen wichtig bist. Und mehr wollen die dann auch normalerweise nicht. Fahrermangel haben wir hier auch, trotz Insellage. Und wenn sie auch noch großflächig Einwanderer vergraulen würden, wird der nur noch größer.“
„Na ja, es würde Dich ja auch betreffen.“ „Ich bin aber Unternehmer und damit Investor, bin mit einem Briten verheiratet und ein halbes Jahr nach dem Brexit ist der Ärger eh vorbei. Ich werde Ende 2019 die britische Staatsbürgerschaft beantragen.“ „So schnell? Ich müsste 5 Jahre warten.“ „Wenn man verheiratet ist nur 3 Jahre. Das dann aber ohne Rücksicht, mit wem man verheiratet ist. Auch eine gewisse Meghan, zukünftige Duchess of Sussex, noch Markle, wird sich 3 Jahre ab der Hochzeit gedulden müssen, bevor sie den Pass bekommt.“ Wenn man damals schon geahnt hätte, dass es auch noch einen Megxit geben würde… „Ach so. Bei „wenn man mit einem britschen Staatsbürger verheiratet ist“ habe ich mich natürlich nicht informiert. Nur dass ich durch den Beruf von den 450-und 90-Tage-Regeln für Auslandsaufenthalte ausgenommen bin.“ Das war auf jeden Fall trotzdem eine tief greifende Information. „Ja. Aber ich werde, nachdem ich es weiß, dass Du an einen britischen Pass denkst, mal wenigstens aufpassen, dass ich Dich in den 5 Jahren nicht über 730 Tage raus schicke. Sonst kriegst Du meistens trotz Reisejob 8 Jahre Wohnsitz zur Auflage.“
„Das ist nett von Dir. Ich weiß aber echt noch nicht, wie es weiter gehen soll. Dass Du mir helfen wirst, wo Du kannst, wenn ich hier bleibe, ist auf jeden Fall ein Argument. Ich denke mal diese Woche drüber nach.“ „Nimm Dir ruhig die Zeit, die Du brauchst. Du weißt, dass ich auch für Dich da war, als Du aus weniger verständlichen Gründen KFL mit dem Gedanken gespielt hast, die Firma zu verlassen. Wenn Du zu lange brauchst, kriegt allenfalls Alex vor Dir einen neuen Truck. Oder hast Du wieder ein Angebot von Patrick Schütz beziehungsweise David Haider?“ „Ich habe gesagt, dass ich besorgt bin und nicht, dass ich verzweifelt bin.“ „Keine weiteren Fragen!“ Lachend schob ich ihm die Frachtpapiere rüber. „Weil Du es rein rechtlich nicht fragen darfst, kann ich die ungestellte Frage aber noch unter Freunden beantworten. Ich habe derzeit nicht nur bei Haider sondern überhaupt keine Bewerbungen auf dem Kontinent draußen und gucke mir bisher nur die Entwicklung an.“
Danach bekam Davey eine kleine Einweisung in das neue Bedienteil von Isotrak, das jetzt keine On-Board-Unit mehr war sondern ein Outdoor-Tablet, was es ermöglichte, das Ding auch mit aus dem Fahrerhaus raus zu nehmen, wenn es erforderlich sein sollte.
Und am Dienstag gab ich nicht nur Davey Papiere, ich fuhr auch selber mit. Die ersten Teile der Tour hatte ich noch selbst geplant, aber irgendwo musste dann Philip mal übernehmen. Davey sah sich die Papiere nur flüchtig an, ob sie vollständig waren und die entscheidenden Daten drin waren. Bei mir saß das mit dem Prüfen noch drin, wenn ich fuhr. Die Daten in den Papieren entsprachen aber zwangsläufig denen in Isotrak, insofern würde er die Daten, die er jetzt nicht prüfte, gleich sehen. Ich gab ihm eine kurze Einweisung in den Stralis Hi-Way. Und kaum startete er den Motor, hörte ich das System schon piepsen, als es die Daten empfing. Ich schloss hinter der Zugmaschine das Tor und stieg dann auf den Beifahrersitz. Im Display stand der Auftrag.
PICKUP: UKDES-KFL
DESTIN: UKWIK-MBA
TRAILER: 104
LOAD: MACHINE PARTS
WEIGHT: 20300
SUPPLY PORT / BAY: 4
REMARKS: PRELOADED
DISPATCH: UKDES-KFL-ERK
Bei Isotrak waren Start und Ziel mit 2 Buchstaben für das Land und drei für die Stadt verschlüsselt, die Firma mit 3 weiteren. UKDES-KFL waren wir selbst, im Vereinigten Königreich (UK), in Deeside (DES) und KFL sprach für sich. Es ging in die Nähe von Wick in Schottland, in einen Steinbruch der Mibau-Stema-Gruppe, die Ladung waren Maschinenteile und sie lagen auf Trailer 104, was der vierte von den seinerzeit 5 Fruehauf-Trailern mit Heckbühne gewesen war. Die Ladung wog 20,3 Tonnen und der Trailer stand an Rampe 4, war am Freitag oder Samstag von Gary oder Rafal vorgeladen worden und der Auftrag kam aus unserer eigenen Dispo und zwar von mir selbst, ERK waren die ersten zwei Buchstaben vom Vornamen und der erste vom Nachnamen.
Die Bedienung auf dem Tablet war etwas anders als bisher, aber da fand Davey sich schnell rein. Es war noch dunkel, als wir los fuhren, denn zu zweit konnte man einiges schaffen. Da Zweimannbesatzung auch das neue Thema für Davey war, erklärte ich ihm dazu einige wissenswerte Dinge rund um Fahrtenschreiber und Vorschriften, aber auch, dass ihn heute eine Tour bis in den äußersten Norden Schottlands und wieder zurück ins Herz der Highlands erwarten dürfte. Alleine hätte er es eher nur in den Süden der Highlands geschafft, so gerade an Glasgow vorbei auf dem Hinweg.

Auf der Autobahn ging Davey dann erst mal erfolgreich Scanias jagen. Leider wurde er auch gejagt und beim Einscheren blitzte es im Rückspiegel. „Oh Mist, gerade mal 6 Wochen vor Ende der Probezeit.“ „Dann musst Du Dich 6 Wochen anstrengen, nichts mehr anzustellen.“ Die 6 mph abzüglich Toleranz zu viel brachten ihm schon, wie jeder Verstoß, der auch nur eine einzige Meile zu schnell nach Abzug aller Toleranzen war, 3 Punkte ein. In der Probezeit war bei 6 Punkten der Lappen weg, danach bei 12. Was war Deutschland doch ein Paradies in Sachen Strafen. „Na ja. Erst mal muss was kommen. Wenn Du Glück hast, warst Du zwischen den Spuren oder der Scania war schon ins Bild gefahren. In beiden Fällen ist die Messung ungültig.“
Gegen 8 machten wir für ein zweites Frühstück Pause. Meins zu Hause hatte nur aus einem Apfel und einer Mandarine bestanden. In der Zeit klarte es dann auch auf, so dass ich nun bei deutlich besserem Wetter die Reise in den Norden fortsetzen konnte und die Grenze nach Schottland passierte.

Hinter dem Großraum Glasgow war dann meine Lenkzeit zu Ende. Immerhin kam man inzwischen noch besser voran als früher, seit man auf Landstraßen 50 mph und auf allen dual carriageways unabhängig vom Status der Straße als M, A oder B route 60 mph fahren durfte.
Wo genau es dann zum Halt mit Fahrerwechsel kam, entlockte mir ein kleines Lachen. Ich schickte Timo ein Foto unseres Trucks mit der Frage: „Erinnerst Du Dich noch an diesen Rastplatz?“

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, offenbar stand er auch gerade. Sie war aber entweder eine bewusste Steilvorlage oder unüberlegt. Sogar das Foto von damals hatte er gefunden: „Ja, der war beschissen!“

„Bevor oder nachdem Du da Pause gemacht hast?“ Okay, es war eine bewusste Vorlage gewesen. „Schon vorher und erst recht hinterher! Pun intended!“
Davey und ich ließen uns hier eine halbe Stunde Zeit, aßen in Ruhe ein Sandwich, kochten und tranken Tee und missbrauchten den Weidezaun wieder als Toilette, aber nicht ganz so ausgiebig wie Timo seinerzeit.
Weiter ging es durch die immer wieder beeindruckende Landschaft der Highlands. Dass Tomas damals im U25-Interview vom Magazin Fernfahrer gesagt hatte, dass hier seine Lieblingsrouten wären, konnte ich gut verstehen.

Davey kam von hier mit fast genau seiner Blockfahrzeit von viereinhalb Stunden ans Ziel. Wir wurden im Steinbruch mit einem Gabelstapler abgeladen. Es waren 3 Kisten und eine Palette, von denen eine besonders lang war und ein Förderband enthielt. In den anderen waren die Antriebe und Trichter, die Stützen lagen auf der Palette. Entsprechend dauerte es keine 30 Minuten von Einfahrt bis Ausfahrt, einschließlich Abladen, schnelle Sichtprüfung der Ladung durch den Vorarbeiter und Papierkram.
Wie es hier weiter ging, wusste ich noch, aber das war nur eine Teilladung. Entsprechend meldete sich Isotrak mit zwei Meldungen.
PICKUP: UKINV-SIT
DESTIN: NLAMS-TNT
TRAILER: 104
LOAD: WINDSCREEN ANTIFREEZE
WEIGHT: 16000
REMARKS: TRANSSHIP DEESIDE
DISPATCH: UKDES-KFL-ERK
PICKUP: UKABD-BAY
DESTIN: UKDES-TOY
TRAILER: 104
LOAD: BRAKE FLUID
WEIGHT: 8000
DISPATCH: UKDES-KFL-PHK
Ich hatte am Montag schon die Ladung Frostschutzmittel von Inverness nach Amsterdam gefunden. Die sollte in Deeside umgeladen werden, wobei eher ein anderer Fahrer diesen Trailer bekommen würde und noch was dazu für den Kontinent. Philip hatte also noch eine Restladung Bremsflüssigkeit für das Toyota-Werk quasi direkt neben unserer Firma gefunden.
Ich fuhr also leer zurück nach Inverness, wir ließen uns beladen und ich fuhr noch aus der Stadt raus auf einen Rastplatz außerhalb der Stadt. Da wir um 20 Uhr schon standen, konnten wir um 5 Uhr weiter. Wir hatten die Fahrzeit eher locker angehen lassen, aber dennoch waren wir eine Stunde später als gestern. Das war auch der Grund für den frühen Start und eine Lektion für Davey. Während man alleine immer früher wurde, da man 9 oder 10 Stunden fuhr und dann 10 oder 11 Stunden Pause machte, waren die Tage selbst mit Ladezeiten im Fernverkehr meistens nur 21 bis 22 Stunden maximal von Start bis Start.
Zu zweit konnte man 18, mit Verlängerung bis zu 20 Stunden fahren, bis zu 21 Stunden mit Ladezeiten arbeiten und musste immer nur 9 Stunden Pause machen. Auch wenn die wenigsten Zweimannteams das ausreizten, war ich mit Luke im Schnitt um die 16 Stunden am Tag gefahren, plus Ladezeiten und Pausen waren es also meistens 28 Stunden von Start bis Start. Das sollte man schon berücksichtigen, wenn man seine Zeiten und Termine plante.
Die Sonne kämpfte sich über die Bergspitzen und eröffnete uns wie am Vortag schon ein Panorama auf die wundervolle Landschaft hier oben.

Nun brauchte der Stralis auch mal wieder Futter, an der Landstraße war es aber billiger als an der Schnellstraße, deshalb hatten wir gestern Abend nicht mehr getankt.
In Aberdeen war auch die Stadt schön. Hier in den Highlands hatte sich die Stadt einiges von ihrem urigen Charme bewahrt. Der Aufstieg durch das Nordseeöl kam spät genug. In den Midlands und London, aber auch Glasgow und Teilen von Edinburgh hatte man alles platt gemacht und die Innenstädte „modern“ neu gebaut.

Die Einfahrt zu Bayer ging durch einen sehr schmalen Weg zwischen alten Schuppen, Worker Cottages und einer hohen Steinmauer.

Wir bekamen die Restladung und waren dann auf dem Heimweg. Nach einer ereignislosen, aber am Ende wieder verregneten Fahrt kamen wir wieder in Deeside an, lieferten noch eben die Paletten mit der Bremsflüssigkeit bei Toyota ab und fuhren mit dem Frostschutz zu unserer Halle.
Am Donnerstag fand ich einen Brief für Luke in der Post. Also fuhr ich an dem Nachmittag in der Besuchszeit zu ihm. Er öffnete das Schreiben und schien sehr erleichtert, als er mir den Brief gab.
Das Verfahren gegen ihn war eingestellt worden, vermutlich ebenso gegen den Fahrer vor ihm, der noch auf die PKW davor aufgedrückt worden war, bei denen es aber nur Blechschaden gegeben hatte. Der Brief enthielt den kompletten Unfallhergang. Sie hatten beide schon stillgestanden, als zuerst der Volvo auf Lukes Sattelzug aufgefahren war und dann der Scania Streamline auf den. Damit wurde nur noch gegen den Fahrer des Streamline ermittelt und Luke war Zeuge und sowohl er als auch ich als Geschäftsführer und Fahrzeughalter Geschädigter. Also sollte auch ich persönlich demnächst einen Brief bekommen, wenn das Verfahren eröffnet wurde. Gegen den Volvo-Fahrer konnte nicht mehr ermittelt werden, da er ja tot war.
Am Freitag war der 1. September und wegen dieser Konstellation hatte ich Lewis gesagt, dass sein offizielles Programm erst am Montag starten würde, er durfte aber gerne schon am Freitag mal vorbei kommen. Ich war gespannt, wie er sich entscheiden würde.
Als unsere offizielle Bürozeit um 7:30 Uhr anfing, waren Philip und ich schon längst da und hatten erste Dinge erledigt. Von Lewis keine Spur. Der tauchte dann aber gegen 20 nach 8 auf. „Guten Morgen. Hast Du gut her gefunden?“ „Ja, der Weg vom Bahnhof zieht sich doch.“ Er kam aus dem ziemlich weit entfernten Prestatyn und musste noch ungefähr ein Jahr warten, bis er Auto fahren konnte, denn er war als einer der jüngsten im Schuljahrgang erst kürzlich 16 geworden und Auto ging hier immerhin mit 17, aber auch so ein Jahr konnte lang sein. „Ja, wie lange bist Du gelaufen?“ „Etwas mehr als 30 Minuten.“ Das war für 2 Meilen wiederum ziemlich flott.
Beibringen wollte ich ihm heute sowieso noch nichts. Dadurch, dass er freiwillig hergekommen war, hatte er gezeigt, dass er motiviert war. Dass er dafür eine Stunde länger geschlafen hatte, war geschenkt. Mit Fußweg auf beiden Seiten war er dann auch in einer Richtung knapp anderthalb Stunden unterwegs. Das waren Opfer für den Wunschberuf.
Da sein Schreibtisch bis auf den PC und ein paar Basics leer war, konnte er sich dort erst mal einrichten und im Büromaterialschrank bedienen. Dann führte ich ihn über das Gelände, stellte ihn bei Ben in der Werkstatt sowie bei Gary und Rafal im Lager vor. Danach zeigte ich ihm eher ein paar interessante Dinge. Dass wir sehen konnten, wo unsere Fahrer gerade waren, wie lange sie noch zu ihrem Ziel brauchten und so. Dabei erwähnte ich schon mal so Dinge wie Lenkzeitregelung oder dass auf dem Kontinent der Fahrer oft selbst abladen musste und Arbeit verbrauchte, es hier aber nicht durfte und daher an der Rampe Pause machte.
Nachmittags kamen dann der Reihe nach die Fahrer rein und so lernte er die auch gleich kennen. Am Montag, wenn er gegen 7:20 Uhr hier ankam, könnte der eine oder andere Frühstarter schon raus sein.
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Damals wurde ich mutiger mit Mods. Als Luke den Iveco bekam, wollte ich keine Mod-Trucks einsetzen. Wie Seans RJL-Scania beweist, war es damit inzwischen nicht mehr so weit her. Bei dem hat mich seinerzeit einfach die Möglichkeit gereizt, jede Schraube skinnen zu können. Außerdem hat man im Notfall immer noch die Möglichkeit, „nach einem leichten Unfall“ einen Standardgrill einzubauen und auf den SCS-Streamline zurückzufallen.
Für Luke allerdings soll es dann ein Mod-Truck werden, bei dem damals keine Rückfallebene existierte. Ich hoffte einfach, dass der Modder auch weiter einigermaßen aktuelle Fahrzeuge raus bringen würde.
