Kapitel 107 – G7-Konferenz



In diesem Kapitel…
…Vergreift sich Ricky im (Farb-) Ton…
…Timo lernt noch eine Fremdsprache…
…und Julians Witz geht nach hinten los!

Erste Septemberwoche 2017

In der Tat waren Sean und Timo schon weg, als Lewis am kommenden Montag seinen ersten offiziellen Ausbildungstag antrat. Heute musste er dann auch Dinge behalten, die wir ihm zeigten. Wobei es natürlich mit eher einfachen Sachen wie dem Zusammenstellen von bereits vorliegenden Frachtpapieren los ging und Philip oder ich alles noch mal nachprüften.
Der erste Eindruck enttäuschte aber nicht, Lewis hatte hinter seiner von lila gefärbten Haaren überdeckten Stirn genug „Brains“, um schnell Zusammenhänge zu erfassen und Dinge zu verstehen. Also gab es schon die erste Lektion Isotrak, die sich allerdings darauf beschränkte, in der Livekarte die Trucks zu verfolgen und deren Tourdaten und Fahrzeuginformationen abzurufen. Wenn er mal nichts zu tun hatte, aber Philip und ich ein paar Minuten brauchten, bis wir für ihn da waren, sollte er die anschauen und aus seinen Beobachtungen lernen.

Als ich am Nachmittag einen Anruf entgegen genommen hatte, blinkte plötzlich mein Skype for Business, mit dem wir bürointern kommunizierten, wenn man nicht in ein Telefonat unterbrechen wollte oder den Fahrern Nachrichten hinterließen, wenn wir sie nicht ans Telefon bekamen. Lewis schrieb mir „Ich glaube, David bekommt gleich Probleme.“
Ich klickte also nebenher mal auf Daveys Truck in Isotrak und in der Tat, mit der aktuellen Verkehrslage dürfte der es nicht rechtzeitig zum Kunden schaffen. Da ich wegen Lewis im Dispo-Büro saß, wo auch sein Schreibtisch war, zeigte ich ihm über die Bildschirme hinweg einen Daumen hoch.
Nachdem das Telefonat fertig war, sah ich, dass Davey wohl der Umleitung seines Navis gefolgt war. Das brachte einen mit unseren Truck-Navis zwar nicht in Schwierigkeiten wie für Lastwagen ungeeignete Brücken, aber im Berufsverkehr von Glasgow brachte es einen auch nicht schneller weiter. Isotrak, das mit seiner teuren Lizenz auch Verkehrsdaten von den Nebenstrecken zog und ins Navi einspeiste, hatte also gerade mal 2 Minuten Ersparnis da lang gefunden. Zwei Ampeln, die einem vor der Nase auf rot sprangen und man hätte auch drauf bleiben können.

Aber ich hatte den Jungs gesagt, dass sie sich nicht für schlauer halten sollten, als die Stauberechnung von Isotrak. Bei ihrem privaten Navi und dem eher primitiven TMC sollten sie es meinetwegen versuchen und würden vermutlich auch oft Recht behalten. Timo und Luke hatten es jeweils einmal gegen Isotrak versucht und Schiffbruch erlitten, Merwyn war der Meinung, Erfahrung schlägt jeden Computer und hatte drei Schiffe auf Grund gesetzt, bevor er einsah, dass Isotrak besser war als er.
Beim dritten Mal hatte ich ihn seine Verspätung selbst ankündigen lassen, da ich dem Kunden noch 5 Minuten bevor er von der Route abgewichen war, eine Verspätung von ca. 20 Minuten für eine eilige Fracht avisiert hatte. Nachdem er dann dem von der plötzlichen Verdreifachung der Zeit verwunderten Kunden von Angesicht zu Angesicht erklären durfte, dass er selbst daraus die 55 Minuten gemacht hatte, indem er das Navi ignoriert hatte, war auch der geheilt.

Ich rief Daveys Kunden an und gab ihm die Verspätung durch. Eine der unangenehmeren Arbeiten in der Dispo. Aber inzwischen hatte ich da genug Routine drin, sodass das für mich nichts Schlimmeres mehr war als Pizza zu bestellen.

Am Ende der Woche hatte Lewis sich für einen Schulabgänger ohne Vorkenntnisse schon gut bewiesen. Luke wurde am Freitag aus dem Krankenhaus entlassen, war nicht mehr grundsätzlich krank geschrieben, aber durfte dann eine Woche noch nicht Auto oder LKW fahren. Stattdessen beschloss er, kommende Woche Daveys neuen Truck zu lackieren, was mit dem Hydrauliklift mit Arbeitskorb, den Ben sich für Arbeiten an Dächern, Dachspoilern und Edscha-Planen hatte bestellen lassen, auch ohne Gefahr für die frisch verheilten Beine möglich war.

Luke hatte sich ein gewöhnungsbedürftiges Motiv ausgesucht. Bei Davey drängte sich das Thema aber nun mal auf.


Zweite Septemberwoche 2017

Davey durfte somit noch mal eine Abschlusswoche mit seinem rumpeligen DAF XF feiern. Am Freitag kam dann Davey rein und gab seine Schlüssel von dem DAF für immer ab. Der fuhr noch einmal für Geld und zwar mit mir. Dann führten wir Davey in die Fahrzeughalle. Philip interessierte sich nicht wirklich für Fahrzeugübergaben, Lewis kam mit Davey, Luke und mir runter, auch Ben legte die Arbeit nieder. „Wow!“ Davey blieb mit offenem Mund vor seinem neuen Stralis stehen. Aus die graue Maus!
Trotz der Firmenfarben, die nicht so ganz zum Thema passten, hatte Luke sich mal wieder selbst übertroffen und die thematisch falsche Farbe unserer Firma einfach Einbezogen und zum Thema des Trucks gemacht. Airbrush-Motiv auf dem Dach war eine schwarze Gestalt in einem blauen Kathedralengewölbe, die üblichen Sterne waren durch Pentagramme ersetzt worden. Und in der Ahnengalerie von Iveco hatte sich mit Seddon Diesel sogar ein britischer Hersteller fürs Extra-Logo gefunden. Davey war natürlich kein Satansanbeter, aber er las für sein Leben gerne düstere und gruselige Fantasyromane, die im besten Fall im Mittelalter stattfanden und spielte auch entsprechende Spiele.

In der darauf folgenden Woche erklärte ich mich zu Andrés Opfer, der mich mitsamt dem alten DAF nach Bochum disponieren sollte. Um zu verhindern, dass eine Terrororganisation im nahen Osten in Zukunft Werbung für uns oder unter walisischer Flagge fuhr, wie es schon einem amerikanischen Klempner und einem dänischen Supermarkt passiert war, die Fahrzeuge mit Firmenaufschrift in den Afrika-Export verkauft hatten, hatte ich mit der Zeitung vom Vortag um die Firmennamen und Anschriften sowie das walisische Wappentier abgeklebt und zur erstbesten Dose grüner und weißer Farbe gegriffen. Während reinweiß bei so was dankbar war, lag der Grünton dann doch sichtbar daneben. Das dürfte in Ostafrika aber auch keinen stören.


Dritte Septemberwoche 2017

Meine „Befehle“ hatte ich von André bekommen. Also kamen sie nicht über Isotrak rein sondern über das System in Deutschland. Auf meinem Tablet lief das aber auch noch, also kein Problem. Nur umständlich, da man die Adressen nicht ins Navi des Trucks überspielen konnte. Und mir ging diese doppelte Logistik im grenzüberschreitenden Verkehr langsam auch auf die Nerven.
Die erste Fuhre ging mit Würstchen von Deeside nach Manchester, eine harmlose Tour, wobei es auf der Strecke einen Milchlaster erwischt hatte. Das Unfallrisiko hatte nichts mit der Entfernung zu tun. Was allerdings ein in Polen zugelassener Lastwagen im britischen Nahverkehr zu suchen hatte, blieb mir verschlossen.

Solche Auswüchse der EU, sogar die eigentlich im Land anzusiedelnden Arbeitsplätze unter dem Deckmantel der vier Freiheiten in den Osten auszuflaggen, hatte uns letzten Endes den Brexit beschert. Auch wenn ich den Brexit für unsere Arbeit nicht mochte und keinem Kollegen an sich was Schlechtes wünschte, ertappte ich mich bei einem Gedanken, der in Richtung „wenigstens einer weniger“ ging.
Gesellschaftsliberal mochte ich immer noch kurz vorm Extremismus sein, wirtschaftlich sah ich mittlerweile manches eher konservativ. Da war einem der eigene Teller dann doch näher als offene Zugänge für die, die von ihm essen wollten, ohne dafür Steuern zu bezahlen. Hätten sie polnische Fahrer zu britischen Tarifen auf britischen LKW beschäftigt, wäre nichts dagegen zu sagen. Hier wollten sowieso zu wenige diesen Job machen. Aber die komplette Flotte auszuflaggen und mit einem britischen Briefkasten die polnische Firma als Subunternehmer los zu schicken gefährdete Unternehmen wie unseres. Hier hatte die EU in der Tat versäumt, einige Mechanismen zu unterbinden.

In Manchester gab es dann Phosphorsäure nach London. Toll sah der komplett entschmückte Truck nichts mehr aus. Das war einfach nur eine Arbeits-Tour. Mich störte, dass die Sonnenblende weg war und ich dauernd die Sonnenbrille brauchte, aber die Blende und andere Anbauteile konnte Ben ganz gut so verkaufen. Im Export brachten die Teile nichts. Bei Coventry machte ich meine Mittagspause.

Am Nachmittag erreichte ich London, wo ich den Trailer absattelte und im gleichen Gewerbegebiet eine Ladung Leerpaletten nach Dortmund. Solche Trailer voll davon sammelten sich immer an, wenn ein Kunde stark asymmetrischen Ladungsverkehr hatte, weil er zum Beispiel seine Produkte in Transportbehältern der Automobilindustrie, vor allem Gitterboxen und den genormten Kunststoffbehältern versendete, aber seine Rohstoffe und Halbzeuge auf Europaletten bekam. Oder wenn er volumenmäßig viel mehr Halbzeuge bekam als Fertigprodukte raus gingen. Wenn er Gehäuse für seine Geräte und das Innenleben getrennt bezog, dann blieben logischerweise hinterher die Paletten mit den Bauteilen übrig, da das Versandvolumen genau den angelieferten Gehäusen entsprach und die gleiche Menge Paletten brauchte.

Damit war das für DE08 XNH auch der letzte Auftrag. Ich fuhr noch bis Folkstone und hinter einem LKW von Stobart auf das Gelände. Allerdings wollte ich erst in der Nacht den Zug nehmen und hier meine lange Pause auf britischer Seite machen.

02:45 Uhr BST fuhr mein Zug dann in Richtung Kontinent ab. Das hieß, ich kam 04:20 Uhr MESZ in Calais an. Bei Sonnenaufgang und noch ausreichend vor dem dicksten Berufsverkehr umrundete ich Brüssel.

Meine Pause musste ich gegen 9 Uhr einlegen, schon stramm auf Lüttich zu. Und auch wenn ich nie ein Freund von DAF gewesen war und es von Anfang an klar war, dass gerade diese alten Dinger von Duncan weg mussten, packte mich nun doch ein Bisschen Wehmut. Bis in den frühen Sommer hatten die 105er alle gute Arbeit geleistet, Alex seiner tat das immer noch. Bei Timo ließ die Zuverlässigkeit auch langsam nach und tausend Kleinigkeiten gingen Ben in der Werkstatt auf die Nerven. Aber auch der Truck hat in der letzten Augustwoche die 700.000 Meilen gerissen.
Jetzt begann der endgültige Umbruch von Duncan auf KFL. Damals hatte ich zugesagt, dass alle Trucks ihre grüne Farbe behalten sollten, bis sie ausgemustert wurden. Vielleicht würde keiner der beiden noch verbleibenden mehr das Neujahrsfeuerwerk 2018 sehen. Einer ganz sicher nicht.

Gegen Mittag war ich dann in Dortmund und lieferte die Paletten ab. Dann ging es Solo in die Nachbarstadt. Früher war das Kraftwerk immer ein Zeichen, dass ich gleich zu Hause war. Jetzt war es nur noch ein Zeichen, dass ich gleich bei unserer Niederlassung war, in der unser kleines Imperium begonnen hatte. Wobei klein relativ war. Immerhin kamen Bochum und Deeside zusammen auf stolze 17 Zugmaschinen, von denen über die Hälfte für uns selbst fuhr und der Rest als Subunternehmer von Talke in der Chemielogistik.

Ich fuhr in die Coloniastraße und packte das ADR-Zubehör und was sonst noch zurück zu uns sollte, aus dem Truck. Außerdem fragte ich Julian, ob er den Diesel absaugen wollte. Er hatte aber weder ein Fass oder die benötigten Kanister noch eine Absaugpumpe da. Obwohl hier mehr LKW unterwegs waren, gab es noch keine eigene Werkstatt sondern das wurde alles bei den Gebrüdern Lahrmann gemacht. Genau da fuhr ich dann auch den DAF hin.
Mahad war begeistert von dem Rechtslenker. Den konnte er besser verkaufen als die Linkslenker, weil sein Geburtsland Kenia nun mal Linksverkehr hatte. Er machte mir einen guten Preis, der aber grob schon im Vorfeld abgesprochen war und ich nahm noch die Nummernschilder ab. Die brauchte die Behörde zwar nicht zurück, aber ich wollte sie nicht in den Export schicken. Mahad steckte sie kurzerhand in einen auch für CDs geeigneten Aktenvernichter. Mit den Plastikschildern aus Großbritannien wurde der dreimal fertig. Entscheidend für die Behörden war nur, dass ich eine SORN-Erklärung abgab, dass das Fahrzeug nicht mehr im Vereinigten Königreich zugelassen und betrieben werden sollte und das V963 Export Salvage Certificate, dass das Fahrzeug im EU-Ausland verkauft worden war, um dort verschrottet oder aus der EU in ein Drittland weiterverkauft zu werden.

Das Stück zur Firma konnte ich theoretisch auch zu Fuß gehen, aber der Lahrmannsche Azubi musste gerade was mit dem Citroen Berlingo abholen fahren und so nutzte ich die Mitfahrgelegenheit. Marlon und Julian waren heute auch im Büro. Ich ließ mich informieren, wie der Stand der Dinge war. Finanziell sah es gut aus. Im Gegensatz zu Deeside, wo doch mehr zu konsolidieren war, als ursprünglich gedacht, waren die Einnahmen hier konstant hoch. Das lag aber auch an dem sicheren und für einen Subunternehmer dank der Gefahrgut-Spezialisierung gut bezahlten Vertrag mit Talke. Die Verluste von Lukes Iveco und Shawns DAF als recht neue Fahrzeuge hatten auch nicht geholfen.

Bei der Bochumer Flotte waren der zweite PEMA-DAF zurück an den Vermieter und nach deutlicher Überziehung der eigentlich vorgesehenen Zeit „mein“ Iveco Stralis aus den Anfangstagen von KFL in den Export weggegangen. Der MAN und der Scania R500 wären langsam fällig, dürften aber eine Heimat in einem deutschen Kleinunternehmen oder im EU-Ausland finden. Sebastian lernte jetzt aber noch auf dem MAN, einem von derzeit noch drei Schaltwagen in der deutschen Flotte, wie man „anständig“ LKW fuhr.
Julian dachte darüber nach, wenn der R500 weg ging, Lennart auf den „Celtic Legend“ FH16 zu setzen, den er gerade selbst fuhr und stattdessen einen Renault T Standard Sleeper zu holen und nur noch Zweitagestouren zu fahren. Auch er musste inzwischen eine Menge im Büro regeln und außerdem wollte Celia nicht mehr jedes zweite Wochenende irgendwo hin reisen, um ihn zu sehen.
Bei den Trucks für uns, wo als nächstes Maxims Stralis fällig war, wollte Julian die Farben umkehren, so dass die Trucks von Bochum und Deeside gleich aussehen würden, also beige unten, dunkelblau auf der Kabine und weiß am Dach mit hellblauem Dekor. Mir war das nur Recht, wenn er die Auflieger dann mit anpasste. Denn die umgedrehten Kombinationen aus Zugmaschine und Trailer in Großbritannien regten mich schon eine Weile auf.

Am Abend besuchte ich noch ein paar alte Freunde in Köln und am Mittwoch flog ich aus dem Landeshauptdorf an der Düssel zurück nach Manchester. Die Strecke wurde mit einer Turboprop von Flybe bedient. In Manchester nahm ich den Zug zurück nach Hause.


Vierte Septemberwoche 2017

In dieser Woche hatten wir dann schließlich einen Termin beim Children and Family Court Advisory and Support Service bekommen. Es gab erst einmal nur eine Beratung. Trotz der hier deutlich besser gelebten Antidiskriminierungspolitik bekamen wir die Warnung, dass wir im Alltag als gleichgeschlechtliche Eltern auch von kleinen Hindernissen über Skepsis, versteckter Diskriminierung und offen diskriminierender Politik zum Beispiel bei Auslandsreisen in islamische Urlaubsländer oder nach Osteuropa bis hin zur fast schon schlimmeren, versteckten Diskriminierung im Inland zu tun bekommen würden.
Das glich der Staat durch die Auswahl des entsprechenden Kindes aus, aber die dazu nötige, starke Persönlichkeit war nicht nur eine Erleichterung auf der Seite sondern könnte im Gegenzug dazu führen, dass für uns ungeübte Neueltern die Erziehung dann schwerer würde. Generell war, sofern wir nichts anderes wollten, der Normalfall, dass wir mit unserem Alter Mitte bis Ende 30 dann ein ca. 10 Jahre altes Kind vermittelt bekommen würden, damit wir ungefähr das gleiche Alter wie die meisten Eltern gleich alter Kinder hätten. Uns kam dieses Alter und die entsprechende Selbstständigkeit aber gelegen.
Zum Schluss bekamen wir die Antragsunterlagen mit und man empfahl uns, die Sache gut zu überdenken. Sollten wir den Antrag abgeben, würde es normalerweise ein halbes Jahr dauern, bis eine Entscheidung gefällt wurde, uns als Eltern zuzulassen. Wie lang dann die Wartezeit war, konnte man nicht genau sagen. In der vorgeschlagenen „Altersklasse“ aber wahrscheinlich sehr kurz. Die meisten Eltern wollten ein Baby oder Kleinkind adoptieren und daher gab es bei denen Wartelisten. Je älter die Kinder wurden, umso schwerer bekam das Amt sie überhaupt noch unter.

Bedenken von unseren beiden Eltern wegen unserer Berufstätigkeit blieben aus, insbesondere erfreulich auf Lukes Seite, war seine Mutter doch als Lehrerin „vom Fach“. Ein Kind war in dem Alter selbstständig und dank des britischen Schulsystems sowieso erst einmal bis nachmittags in der Schule, bekam dort ein Mittagessen und hatte danach noch eine Stunde mit Hausaufgaben zu tun. Dann war die Arbeitszeit der Eltern, die hier schon seit den 60ern meistens beide berufstätig waren, auch schon mehr oder weniger rum. Das war ja Sinn und Zweck der Sache mit der Nachmittagsschule hier.
In den Ferien galt dann eben, dass ich nicht den Springer für alle machte, wie im Sommer noch angedacht, sondern bevorzugt dann Urlaub hatte und Luke gleich mit. Einziger Familienvater unter unseren Fahrern war derzeit sowieso Merwyn. Und letzten Endes konnte, da es nun mal mehr Ferientage für Schüler als Urlaubstage für Berufstätige gab, ein Kind in dem Alter auch in eine Zugmaschine einsteigen und mitfahren, wenn die Begeisterung für LKW da war. Dann wurde eben ein entsprechendes Ziel gesucht, Stichwort „mein interessantestes Ferienerlebnis“ – Spanien, Italien oder Skandinavien waren ungefährlich, schön anzusehen, eine interessante und längere Tour und blieben Brexit hin oder her hoffentlich unbürokratisch erreichbar.

Im Internet fand sich am nächsten Tag mal wieder Russkij vons Berge alias Maxim Stanjaslov auf Youtube. Neben seinem üblichen Einblick in den Alltag ging es auch um seinen Truck. „Ich befürchte ja, dass es bald vorbei ist. Der hat jetzt fast 300.000 Kilometer runter und das ist der Moment, wo sie hier normalerweise weg gehen. Ich bin ja fast am überlegen, ob ich fragen soll, ob ich ihn behalten darf. Neu gibt es bei uns ja nur noch Volvo, Renault und Mercedes. Eure Meinungen dazu sind eher Volvo als Mercedes. Und ich sehe das genauso. Wenn ich also nicht mehr Iveco fahren darf, dann nehme ich einen Volvo.“ Maxim sah direkt in die Kamera und wurde vom Akzent zu Ivan dem Schrecklichen: „Ich weiß, dass Du das meistens guckst, Julian. Also – entweder diesen Iveco behalten oder neuen Volvo! Neuen Iveco wird der Ivan wohl nicht kriegen! Wobei, vielleicht hole ich meine Freunde von die Russisch Mafia und dann kriegt Ivan auch neuen Iveco!“

Am Freitag dann war ich gerade dabei, Lewis in breitestem Walisisch zu erklären, was man mit zurückkommenden Frachtpapieren von den Fahrern machte, als der nächste mit einem Stapel Papiere rein kam und sich sprachlich anpasste. „Helo!“ „Helo! Rydw i yno i chi mewn munud!“ Die Minute musste er mir jetzt dann mal geben, bis ich für ihn da war. Ich hatte, obwohl auffällig genug, gar nicht auf die Stimme geachtet, bis jetzt die holprige Antwort kam, in gestelzter Sprache, wie sie nur im Sprachkurs vorkam. „Cw… Cymery… Cymerwch eich amser, os gy… gwelwch yn da… dda.“ „Cymerwch eich amser“ hätte es in diesem Umfeld auch getan, mir mitzuteilen, dass ich mir Zeit lassen sollte. Der Rest war förmliches Blabla.
„Hallo Timo. Ich glaube, wir bleiben noch ein paar Wochen oder sogar Monate bei Englisch oder Deutsch? Reichen Dir zwei Muttersprachen, zwei Fremdsprachen fließend und eine dritte auch irgendwie so ein Bisschen noch nicht? Warum lernst Du denn Walisisch?“ „Okay. Von mir aus gerne. Für eine längere Unterhaltung reichen die paar Floskeln noch nicht. Konnte es mir nur eben nicht verkneifen, habe den Satz aber auch aus der letzten Lektion noch in Erinnerung gehabt. Warum hast Du es denn gelernt?“ „Weil ich zu der Zeit schon mal in Wales gelebt habe und eine Beziehung mit einem Waliser hatte.“
Wenn die Ohren nicht im Weg gewesen wären, hätte er im Vollkreis gegrinst: „Na also!“ „Länger als vier Wochen habe ich aber schon gebraucht, um damit anzufangen. Vor 4 Wochen warst Du Dir jedenfalls noch nicht sicher, ob Du hier bleibst.“ „Er sich auch nicht. Einer von uns wird nach dem Brexit ein Problem im Land des anderen haben, wenn sie sich nicht einigen. Wir sind immerhin schon zwei Monate ein Paar. Aber ich habe mich in der Tat letztes Wochenende zum Bleiben entschieden. Erstens gefällt es mir bei Dir in der Firma immer noch am Besten. Zweitens ist es auch noch der einfachere Weg für uns.“
„Na dann erst mal alles Gute mit Deinem Freund. Und die Entscheidung freut mich. Dann bekommst Du jetzt aber auch eine Sprachlektion von mir. Unter uns warmen Klosterbrüdern kannst Du Dir „Os gwelwch yn dda“ sparen und Dir für eine Einladung zur formellen Teatime bei Deinen Schwiegereltern in spe aufheben.“ „Ja, das scheint das Problem von den Sprachkursen allgemein zu sein. Iestyn korrigiert mich da auch immer wieder, dass ich zu hochgestochen rede.“ „Das wird schon. Das meiste lernst Du, wenn Du BBC Cymru oder andere Programme aus Wales hörst und im Fernsehen anschaust. So ein paar neu gelernte Sätze kannst Du gerne auch mit Luke oder mir sprechen. Lewis wird sich vermutlich auch über ein Begrüßung oder Verabschiedung auf Walisisch freuen.“ „Klar! Ich freue mich über jeden, der Walisisch lernt.“

Der Aufnäher mit dem Davidskreuz auf Lewis Rucksack war ja nicht zu übersehen. Und das benutzten eher die Radikalen in der Unabhängigkeitsbewegung, denen der rote Drache zu angepasst an die Engländer war und der mehr von denen benutzt wurde, die sich einfach nur eine stärkere Stimme in Westminster und mehr regionale Befugnisse für den Senedd in Cardiff wünschten. Außerdem hatte Lewis in der Mittagspause mal versucht, schnell das Heftchen des Plaid Ifanc, der Jugendbewegung der linksnationalistischen Partei Plaid Cymru, wegzupacken, als ich ins Dispo-Büro kam.
Ich hatte mit der Unabhängigkeitsbewegung in Wales aber kein Problem. Erstens war man hier in Wales allgemein und gerade als Mitglied von Plaid Cymru und Plaid Ifanc nicht automatisch ausländerfeindlich, wenn man Nationalist war. Das unterschied Wales von vielen anderen Ländern. Im Gegenteil, war insbesondere Plaid Cymru ausgesprochen weltoffen, Respekt und Toleranz gegenüber jeder Person unabhängig von Nationalität, Geschlecht, Hautfarbe, Religion, Sexualität und so weiter stand sogar ausdrücklich in den Parteigrundsätzen.
Das Ziel von ihnen war ein unabhängiges Wales als Mitglied in der EU. Damit könnte ich mich arbeitsseitig sehr gut anfreunden, besser als mit einem starken Wales in einem Vereinigten Königreich außerhalb der EU oder zumindest ihrer Freihandelszone. Privat fand ich es jetzt nicht so schlecht wie man denken könnte. Wenn mich als eher gut betuchten Unternehmer an Plaid Cymru etwas störte, war das ihr je nach Drehrichtung der politischen Großwetterlage und Zusammensetzung des Parteivorstands latent oder offen ausgelebter Hang zum Sozialismus. Es war aber eine demokratische Partei und ob er in deren Jugendbewegung Mitglied war, hatte mich nichts anzugehen.

Es ging aber gerade eher um Timos sprachliche Neuausrichtung und weniger um Lewis politische Ambitionen. Timo trumpfte auch gleich mal mit einer Anekdote aus der Vergangenheit auf: „Rhosllanerchrugog“ und „Bwlchgwyn“ kann ich inzwischen auch.“ „Sehr gut, der Mann lernt dazu. Hast ja auch 3 Jahre dafür gebraucht.“ „Ha, ha!“ Ich schob Lewis mal die Papiere aus Timos Wochenmappe rüber.
„So Timo. Nach Deinem Bekenntnis zu Wales darfst Du Dir dann ja doch noch eine Marke für Deinen nächsten Truck wünschen.“ „Ich denke, ich gehe zurück zu den Wurzeln.“ „Renault?“ Natürlich nicht, das war mir auch klar. Aber der Spruch musste sein. „Nein, noch tiefer verwurzelt. Bis zu meinem Onkel und zu MAN.“



Erste Oktoberwoche

Meine erste Amtshandlung wurde es, den Außendienst von MAN einzubestellen. Immerhin wollten hier gleich zwei Leute so einen Truck.

Der Alltag lief die Woche über so vor sich hin. Lewis bekam seine praktische Ausbildung, der Rest war Routine. Luke war inzwischen wieder unterwegs, mangels eigener Zugmaschine erst einmal mit dem alten FH16. Als er sich in der inzwischen dritten Woche morgens die Papiere holte, meinte er: „Schöner Truck. Würde ich ja am liebsten öfter fahren. Schenkst Du ihn mir komplett?“ „Nur wenn Du mir einen Iveco Turbostar oder Serie T schenkst.“ Damit war er weg.

Am Nachmittag kam der Vertreter von MAN. Timo sollte ein Neufahrzeug bekommen in Standardausführung. TGX XXL 26.500 mit D26-Maschine und Vorlauf-Liftachse, das war hier so das obere Ende vom Standard und mit 5 bis 6 Wochen Lieferzeit ganz gut verfügbar. Zwar wurde der erst noch gebaut, aber dieses Modell war wegen der guten Absatzzahlen in Großbritannien und Irland als Rechtslenker „auf Vorrat“ in München in die Fertigung eingeplant und der bei Bestellung nächste noch nicht verkaufte, der fertig wurde, war dann eben unserer.
Für Luke wurde es ein beim Händler noch nicht zugelassen herumstehender 26.480 XLX D26 Euro 6 von vorm Facelift, logischerweise auch als 6×2/4 fürs Finanzamt. Der hatte den charmanten Vorteil, dass er in Dundee bei einem Händler stand und innerhalb von knapp einer Woche hier sein sollte. Das Pure Black Metallic sah nach meiner Erinnerung ganz toll aus, würde er aber nur ein paar Wochen fahren. Sobald Timos Maschine auch da war, sollte Luke eine Woche freigestellt werden und beide synchron lackieren. Dann musste doch mal wieder Davey in der Zeit nach Hull pendeln.
Damit begann in der Firma aber noch ein weiterer Umbruch. Während Luke noch mal die Zahnräder wunschgemäß von Hand umrühren durfte, hatte Timo keine Wahl mehr – seinen Facelift Euro 6 gab es nur noch mit Automatik, die erste Zugmaschine bei der Ltd. ohne Schaltknüppel.


Zweite Oktoberwoche 2017

Am Montag erreichte mich ein überraschender Anruf. Erst einmal erreichte er nicht mal mich, sondern Lewis, der sich erst einmal ordnungsgemäß meldete: „KFL Intertrans, Sie sprechen mit Lewis Thomson.“ Danach entgleisten ihm die Gesichtszüge und er wurde ziemlich bleich. Er schaffte es irgendwie, die Stummschaltungs-Taste zu drücken: „Ricky, wenn ich das richtig verstanden habe, dann ist hier Andrew Tinkler von Eddie Stobart dran. Ist der nicht Konzernvorstand bei denen?“ „Ja. Stell ihn mal durch.“
Nachdem ich mit Mister 200 Prozent, wie ihn die Fernsehserie dargestellt hatte, schon im April auf dem Evesham Truckfest Bruderschaft getrunken hatte, konnte ich Lewis gleich noch mal dumm gucken lassen. „Eric Kaiser-Leighton hier, Hallo Andrew.“ „Hallo Eric. Ich habe gerade an Dich und Deine Truppe gedacht. Es geht ja auf Weihnachten zu.“ Ja, nur noch zweieinhalb Monate bis da hin. „Das ist mir nicht entgangen.“ „Wir sind in der Zeit immer auf der Suche nach zuverlässigen Subunternehmern. Wir kennen Deine Firma zwar noch nicht als Dienstleister, aber Eure Rangiermanöver mit Zollstock haben mich damals beeindruckt. Wie sieht es denn aus mit Kapazitäten in den kommenden Wochen?“
„Müsste ich mit unserer deutschen Niederlassung klären. Unsere Fahrzeuge sind theoretisch ausgelastet. Praktisch fahren in Deutschland aber welche in der chemischen Industrie und da lässt es in den Winter rein dann langsam nach. Wenn wir dort Maschinen in den Stückgutverkehr abziehen können, dann werden hier Kapazitäten frei, die wir in Eurem Auftrag bereitstellen könnten.“ „Wie viel wäre das ungefähr?“ „Ich denke mal, dass wir 2 Maschinen frei kriegen sollten. Wenn ich selbst mir den Ur-FH Showtruck schnappe, dann auch 3.“ „Nicht viel, aber besser als nichts. Wir nehmen gerne noch mehr. Aber schon klar, Ihr müsst ja auch Euren eigenen Kundenstamm bedienen.“ „Eben. Ich melde mich in den nächsten Tagen mit der endgültigen Zahl. Vielleicht bekommen wir noch ein paar Partner mobilisiert, unsere Leistungen zu fahren.“ „Was habt Ihr eigentlich für ein EDV-System?“ „Hier in Deeside haben wir Isotrak.“ „Das ist ja ideal. Trailer mit GPS oder nur die Zugmaschinen?“ „Trailer teilweise, aber ausreichend viele.“ „Wenn Ihr uns die Trailer zur Dispatch und für unsere Maschinen überlassen würdet, integrieren wir die Fahrzeuge vollkommen in unseren Ablauf.“ „Das heißt?“ „Unsere Maschinen können mit Euren Trailern laufen und Ihr könnt von uns welche bekommen. Dann muss nicht immer unbedingt geladen werden. Die einzige Zwangslage wäre dann, dass wir am Ende der Laufzeit Eure Maschinen und Trailer wieder vereinigen müssten.“

Wir vereinbarten für den nächsten Tag einen Termin im Appleton Depot. Also setzte ich mich in meinen BMW M5 und fuhr rüber. Weit war das ja zum Glück nicht, aber für diese Chance wäre ich auch zur Stobart-Hauptverwaltung nach Carlisle gefahren. Das Gespräch mit William Stobart als Chef der Transportsparte und dessen Schwager Andrew Tinkler als Konzernchef war eher eine Formsache.
Am Vortag hatte ich schon mit Julian geklärt, dass wir am Ende von unseren 6 Trucks in Deeside bis zu 3 Stück freistellen könnten. Julian würde 2 Trucks bei Talke abziehen können und den dritten würde er durch Verlagerung auf Steven und Felix gewinnen können. Bei der Gelegenheit hatte ich schon mal anklingen lassen, dass ein einheitliches System von Vorteil wäre und das im Idealfall Isotrak heißen sollte.
Setzte ich mich selbst dann noch auf den FH16, hätten wir zeitweise sogar 4 Zugmaschinen bei Stobart unter Vertrag. Dann sollte Luke aber, wenn er am Lackieren war, wenigstens mal einfarbig über den FH16 gehen. Der ranzige Originallack war nach 22 Jahren fertig mit der Welt. (Nein, in Wirklichkeit hat der Modder den Truck komplett verändert, auch die Art, wie er gefärbt wurde…)

Und zum Ende der Woche fand sich mal wieder ein Video aus Deutschland im Internet. Es war ein Bisschen auf Verarsche der sich krankhaft verbreitenden Werbespots für Wertpapierhandels-Portale gemacht, bei denen irgendwelche Prolls Anfang 20 mit Sportwagen angaben: „Hey Leute! Das glaubt Ihr nicht! Quasi im Handumdrehen! Nagelneu und nur vom Feinsten! Iveco!!! Stralis!!! XP!!! Es ist echt kaum zu glauben! Vollausstattung! Mikrowellenherd! 50 Liter Kühlschrank! Vollintegrierte Standklima! Mit Doppelbatterie! Beheizbarer – und – belüfteter Fahrersitz! Ledersitze! Teillederlenkrad!“ Okay, im Prinzip hatte er mit ein paar Ausnahmen, die heute aber im Fernverkehr jeder wählte, die Serienausstattung des XP runtergerasselt, was die meisten Scania-Anbeter aber nicht mal raffen würden.
„Und jetzt… kommt erst das Beste!“ Er hielt die Kamera aus dem Fenster, so dass die Zahl sichtbar wurde. „Das ist doch der Knaller, oder? Fünf!!! Hundert!!! Siebzig!!! P!!! S!!!“ Damit reihte er sich direkt hinter Jan und dem Actros 2558 und noch vor dem Volvo FH16 ein. „So was gibt es mit keinem Aktientrade! So was gibt es nur mit richtig coolen Chefs! Danke Julian und Marlon!“ Ich wüsste aber trotzdem gerne mal persönlich, wie sich der Stralis XP 570 so fuhr, während Maxims Video damit endete, dass er auf einem riesigen, leeren Platz mit ausgeschalteter Traktionskontrolle und einer leichten, blauen Rauchfahne von den Hinterreifen im kontrollierten Drift am Kamerastativ vorbei dübelte und das Video ausblendete.
Maxim hatte zwar manchmal einen kleinen Knall, aber inzwischen auch einiges an Reichweite mit seinen Videos und war ein Imageträger für uns in der Fanszene. Sollte da mal ein Kunde rein gucken, war es dem hoffentlich auch egal. Maxim machte keine Dauerwerbesendung draus, hatte durch seine Kommentare und Einspieler mehr Unterhaltungswert als reine Dashcam-Fahrvideos und zeigte auch seine Schwächen, wenn er mal die Geduld verlor, sich beim Sprechen verhaspelte oder so. Das wusste auch Julian als sein Personalchef, ließ ihm dafür auch mal so Sachen wie den kleinen Drift auf einem leeren Platz in der Schlussszene durchgehen und hatte ihm auch deshalb wohl gegen die eigene Markenpolitik und Leistungsbegrenzung diesen neuen Truck hingestellt. So lange er sich damit nicht bei den anderen in Erklärungsnot brachte, sollte mir das aber egal sein. Es war seine Personalführung und nicht meine.


Zweite Novemberwoche 2017

Die letzten vier Wochen waren Business as usual gewesen. Der erste Sattelzug war schon recht bald aus unserer Dispo raus und an Stobart abgeordnet. Die Wahl war auf Merwyn und seinen DAF XF 106 gefallen. Zum Monatwechsel war Alex als zweiter auf deren Dispo rüber gewechselt.

Ich erlebte dafür eine kleine Überraschung, als die angemeldete Ladung aus Deutschland mit Maxims altem Iveco, geliehenem Trailer und Serkan am Steuer ankam. „Hallo, wer macht denn um die Jahreszeit Urlaub in der Transportbranche und ich dachte, den Iveco sollte Sebastian kriegen? Oder hat der Schule?“ „Keiner fehlt, ich bin jetzt fest in Bochum. Jetzt bekommt irgendwann Julian einen Nahverkehrswagen und macht mehr Büro, dann darf ich mich mit Lennart um den Scania R500 und den Volvo FH16 prügeln, Sebastian kriegt den hier und der MAN geht weg.“
„Und was ist mit Björn?“ „Der fährt jetzt fest in Bielefeld für seinen Schulfreund, derzeit auf Mack-Renault AE Magnum, demnächst Renault T. Seine Freundin ist schwanger, sie wollen heiraten und ein Haus bauen. Da war ihm eine feste Anstellung lieber und wir haben mit dem Springerdienst aufgehört. Und ich bin lieber zu Euch gekommen als Stadtbusfahrer in Hamm zu werden. Julian war ganz froh, einen LKW mehr zu haben. Du ziehst bis Weihnachten wohl ordentlich Kapazität für Stobart? Mir ist eben ein grüner DAF von Dir mit einem Stobart-Trailer entgegen gekommen. Sieht fast so aus, als sollte das so.“ So eine Kombination von Alex hatte ich die Tage auch schon mal im Internet gesehen.

Schließlich rief noch Dominik an. Da er jetzt eine freie schwedische Spedition hatte, suchte er Kooperationspartner in Mitteleuropa. Dabei hatte er sich an Steven gewendet, der aber gesagt hatte, dass da auch noch andere hinter hingen. Also rief er den vermeintlichen Strippenzieher an und das war ich. Ich schlug stattdessen vor, dass wir uns in zwei Wochen mal alle in Bochum treffen sollten.


Dritte Novemberwoche 2017

Schließlich kam auch Timos MAN an und Luke machte sich mit der Lackierpistole an die Arbeit. Dass bei Luke der walisische Drache auf einem Davidskreuz saß, gefiel mir optisch, aber nur bedingt von der Bedeutung. Auch beim Motto hatte er sich radikalisiert. Stand auf dem Iveco noch „Cymru am byth“, was so viel wie „Wales über alles“ hieß, hatte er nun das andere Staatsmotto genommen. „Y Ddraig Goch ddyry cychwyn“ hieß so viel wie „Der rote Drache rückt vor“ und war deutlich nationalistischer. Keine Überraschung dagegen das Logo der Traditionsmarke.

Auch Ben war aktiv. Er baute die Seitenscheiben aus Timos neuer Maschine aus und schickte sie zum Ätzen ein, baute von mir bestellte LED-Lichter, Scheinwerfer mit schwarzem Käfig, verchromte Deflektorhalter und eine verchromte Scheibenwischerblende, Lampenbügel und Stoßstangenbügel an.

Schließlich hatte Luke beide Trucks fertig, auch Ben war mit den Umbauten an Timos Truck durch und am Freitag kam Timo mit dem DAF rein zur Übergabe. Es gab für Timo nicht nur eine neue Zugmaschine sondern auch einen neuen Kühltrailer in Firmenfarbe. Der Name „Far Side of the World“ war ein Filmtitel, in Deutschland bekannt als „Master and Commander – bis ans Ende der Welt“ und spiegelte Timos ausgeprägtes Fernweh wider. Passend dazu segelte auf dem Dachbild ein Schiff auf ein Unwetter zu.

Da blieb ihm dann wirklich der Mund offen stehen. Es dauerte eine kleine Ewigkeit und eine schnelle Bewegung mit dem Handrücken über die Augen, bis er wieder sprechen konnte: „Das… Er ist großartig. Als ich vor dreieinhalb Jahren angefangen habe, da habe ich von genau so was geträumt. Die anderen Trucks waren auch okay. Aber mit diesem geht alles in Erfüllung, was ich mir jemals gewünscht habe.“


Letzte Novemberwoche

Natürlich bedeutete das, dass nun der nächste DAF XF105 nach Bochum zu Mahad musste. Ich wollte wieder mit dem alten DAF, dieses Mal also Timos, dorthin fahren, dann das Treffen mit den anderen Geschäftsführern haben.

Los ging es mit Leerpaletten vom Stobart-Depot in Appleton nach Folkestone. Nun fuhr ich also selbst auch mal für unseren saisonalen Kooperationspartner. Es war eine Routinefahrt, bis auf etwas dickere Luft beim Wechsel vom M25 London Perimeter auf die M20 zur Kanalküste.

Gegen 17:30 Uhr lieferte ich die Ladung Paletten ab. Dass um Weihnachten die Ladungen stark asymmetrisch liefen und daher leere Ladungsträger keine Seltenheit waren, hatte ich schon in meinem ersten Jahr als Unternehmer gelernt. Damals fuhr ich leere Containerchassis oder welche mit leeren Containern drauf aus dem Landesinneren an die Küste, mit denen zuvor importierte Weihnachtsgeschenke ins Landesinnere gebracht worden waren.

Nachdem die Bürokratie erledigt war, stellte ich die Zugmaschine im Gewerbegebiet am Straßenrand ab. Also mal wieder eine Nacht mit wildem Campen.

Am nächsten Morgen gab es dann nach dem normalen Erwachen noch ein böses. André hatte mir eine Fracht nach Duisburg gesichert, aber nachdem ich beim Kunden ankam, musste ich erfahren, dass die schon jemand anders abgeholt hatte. Entweder Mehrfachvergabe über verschiedene Plattformen oder „man kennt sich und man hilft sich.“
Es war 6:18 GMT, also 7:18 MEZ, entsprechend war André schon im Büro. Ich rief ihn an und er wollte was Neues suchen. Nach 10 Minuten rum rief er zurück und schickte mich zu Tesco, wo es ebenfalls keine auf den ersten Blick sinnvolle Fracht gab, nämlich Verpackungsabfall nach Osnabrück.
Aber noch waren wir in der EU und in der galt das Verursacherprinzip. Also wurde gewerblicher Abfall nicht vor Ort entsorgt, sondern wer zu faul war, in seiner Firma selbst ein Abfallmanagement aufzubauen, hatte das Recht, erst einmal seinen Müll mit LKW quer durch die Union zum Versender des Inhalts oder seinem Vertragspartner zurück karren zu lassen, damit der ihn entsorgt.

Man merkte jetzt doch deutlich, dass die Tage kürzer wurden. Als ich endlich um 7 und eine Stunde später als geplant in Richtung Shuttlezug unterwegs war, war es immer noch ziemlich dunkel.

Das zu Unrecht so genannte „englische Wetter“ fand sich dann in Calais. Man sollte es vielleicht „Küstenwetter“ nennen. Der Nachteil an Großbritannien war allenfalls, dass es als Insel eine Menge mehr Küste hatte als zum Beispiel Deutschland, das eher „Binnenland mit seitlichem Meerblick“ war.

Mir war klar, dass ich es heute nicht mehr bis Bochum schaffen würde. Also sagte ich Marlon und Julian das Abendessen ab und machte an der ehemaligen Grenzanlage Bentheimer Wald meine Nachtruhe. Da ich sie früh angefangen hatte und auf 9 Stunden verkürzt hatte, war ich dann schon um 4 Uhr morgens wieder unterwegs. Vertragspartner für die Entsorgung war DB Schenker und um viertel nach 5 war ich dort meine Ladung los. Nun ging es nur noch solo das letzte Stück nach Bochum.

Gegen 7:30 Uhr war ich dort, um 9:00 war die Besprechung angesetzt. Also blieb noch ein Bisschen Zeit, mich mit Marlon und Julian abzustimmen und mir Zahlen und andere Informationen zur Niederlassung in Bochum anzuschauen.

Wir setzten uns schließlich in den Besprechungsraum, Julian machte mal wieder den Klassenkasper: „Ich begrüße die Teilnehmer der G7-Konferenz, das Treffen von 7 Geschäftsführern. Wie in der EU bestimmt Deutschland mit der größten Delegation, wo es lang geht.“ „Dann erkläre ich den Brexit und trete aus!“ Felix war zu meiner Überraschung nicht alleine angereist und sein tschechischer Begleiter Petr wusste auch, wie die EU (dys-) funktionierte: „Und ich nutze das Visegrad-Prinzip, kassiere nur ab, aber verweigere die Mitarbeit.“

Julian rief dann doch zur Form auf: „Okay, genug der Scherze, mit Euch kann man wohl keine Europapolitik betreiben. Zumal hier sich viele kennen, aber außer Ricky, Felix und mir kennt niemand alle anderen. Deshalb würde ich vorschlagen, dass wir uns mal kurz reihum vorstellen.“ Neben uns drei KFL-Geschäftsführern waren natürlich Felix und Steven als die anderen Geschäftsführer unseres bisher namenlosen Zusammenschlusses da. Geplant gewesen war, dass Dominik ebenfalls hier sein sollte, denn er wollte unserer Kooperation beitreten. Petr war bisher im Hintergrund schon dabei, weil er als Subunternehmer für Felix gefahren war. Aber auch er wollte jetzt eigenständig mitmachen und war deshalb persönlich mitgekommen.

Steven und Dominik waren beide auf Skandinavien ausgerichtet. Das würde sich in Zukunft so äußern, dass Stevens Flotte weniger nach Schweden fuhr, sondern sich mehr auf die Verbindung von Dänemark, Norwegen, Finnland und Baltikum mit Mitteleuropa konzentrierte. Dominiks Flotte würde von Schweden aus ins Ausland fahren, sowohl mit 40 als auch mit 60 Tonnen schweren Zügen, je nach Zielland. Das konnte in Skandinavien, Mitteleuropa und Großbritannien sein.
Die nicht für Talke eingesetzten LKW von KFL in Bochum fuhren aus Deutschland nach Mitteleuropa, Großbritannien, Frankreich und Spanien, gelegentlich auch mal Italien oder Osteuropa.
Felix und Petr deckten vor allem Transporte aus Süddeutschland, Österreich und Tschechien nach Italien, Frankreich und auf den Balkan ab.
Daneben gab es auch die Möglichkeit, zur lokalen Zustellung oder Abholungen die Lagerhallen an unseren Niederlassungen zum Umladen zu nutzen. Zwischen Neuss und Deeside durch KFL GmbH und Ltd. sowie zwischen Neuss und Perchtoldsdorf durch Scandinavia Express und Transalpin fuhr außerdem ein täglicher Pendel. Nach Deeside mit einem Trailer wegen der Fähre, nach Österreich allerdings ein Wechselbrückenzug, der aber als Fremdkörper in beiden Flotten keine große Zukunft hatte. Hier würde wohl doch demnächst mal eine Umstellung auf Sattelzüge anstehen. Weiteren Bedarf an ständigem Linienverkehr sahen wir vorerst keinen.

Außerdem gab es einen generellen Trend zu mehr Kühlern. In Bochum sollte Serkan einen zweiten Kühler kriegen. Steven wollte entsprechende Trailer in die Flotte aufnehmen, dazu an jedem Standort einen weiteren Zug in Betrieb nehmen.
Julian wollte außerdem für das deutsche Kältezentrum sorgen und ein Kühllager aufbauen, was wohl das Ende der Coloniastraße bedeuten dürfte, denn auf diesem Grundstück war mit der sechsreihigen Fahrzeughalle das Ende erreicht und inzwischen war das auch schon zu wenig. Patrick hatte als Trailerschubser für Dachser ein Hoftor weiter auch nicht wirklich auf ein Grundstück mit viel Platz wert gelegt, mit der nicht temperaturgeführten Stückguthalle, die wir schon fleißig nutzten, war da das Ende der Fahnenstange erreicht.

Dominik kaufte entsprechende Trailer und Wechselbrücken als Ersatz für alte Fahrzeuge, die zur Ausmusterung anstanden. Die Wechselbrücken kamen in Skandinavien traditionell auf die Zwischentrailer der 60-Tonner.
Felix und Petr wollten das Thema ganz elegant lösen. Da Felix kein Kühlhaus auf seinem Grundstück neben der vorhandenen Stückguthalle in Perchtoldsdorf bauen konnte, hatte Petr sich den Zugriff auf ein kleines Kühllager in Modrice am südlichen Rand des Großraums Brno gesichert, wo dann unsere temperaturgeführten Frachten für Südosteuropa laufen sollten.

Blieb nur noch ein weiteres Thema, ein gemeinsames Logistiknetz brauchte ein gemeinsames Dispositionssystem. Und derzeit gab es da von Exceltabellen über drei verschiedene Systeme aus dem Bereich eher kleiner Unternehmen bis zu einem System für komplexe Unternehmen und Unternehmensverbünde nur Einzellösungen. Julian hatte inzwischen auch ein Angebot von Isotrak vorliegen, das weltweit angeboten wurde, auch wenn die Firma nur Niederlassungen in Großbritannien, den USA und Australien hatte. Steven hatte ein System, das mit unseren zukünftigen Anforderungen nicht so toll klar kommen würde, da es auf Einzelunternehmen abzielte. Dominik war aufgrund des total veralteten Systems aus den Werksverkehr-Zeiten für alles offen, Felix und Petr hatten sowieso keine echte Dispo-Software und hangelten sich durch MS Office.

Am Ende waren wir dann mit Julian, Marlon, Steven, Dominik, Felix, Petr und mir wirklich 7 Geschäftsführer, deren 5 Unternehmen KFL Intertrans, Scandinavia Express, Transalpin, Transvysocina und Nordic Logistic an den 7 Standorten Bochum, Deeside, Paderborn, Neuss, Perchtoldsdorf, Modrice und Huskvarna demnächst zusammenarbeiten würden. Und mit Europe Logistic Network hatte das Kind auch einen Namen.

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