Kapitel 30 – Wie ein Engel

Der Wecker piepste, heute war ein besonderer Tag. Aber warum war der Wecker so langsam? Ein Piepser in der Sekunde. War die Batterie alle? Ich schlug die Augen auf und presste sie gleich wieder zu. Es war hell. Hatte es wieder geschneit, ich hatte vergessen, die Rollos runter zu machen und nun spiegelte es die Sonne in mein Zimmer?
Die Tür klapperte. Das hier war ein gottverdammter Singlehaushalt. Einbrecher? Der Wecker wurde schneller. Oder war das etwa gar kein Wecker? Die Neugier siegte und ich zwang mich, die Augen wieder zu öffnen. Weiße Decke mit Neonröhren, weiße Wände, weiße Bettwäsche. Ich drehte den Kopf, was ganz schön anstrengend war und bekam die schreckliche Gewissheit. Zwei Personen in weißer Kleidung mit weißen Gesichtsmasken und weißen Hauben. Die Quelle der Piepgeräusche konnte ich nicht sehen, aber ich ging davon aus, dass ich mit ihr verbunden war und dies ein Zimmer auf der Intensivstation eines Krankenhauses war.
„Guten Morgen. Wie heißen Sie?“ Ich ging davon aus, dass sie das sowieso wussten. „Brandon Ridley.“ „Gut, Mr. Ridley. Wissen Sie auch, der wievielte heute ist?” Das befürchtete ich wiederum, würden sie besser wissen als ich. „Der 12. Januar.“ Das war zumindest der Tag, von dem ich eben dachte, er wäre angebrochen. „Welches Jahr?“ Wollten sie mich jetzt verarschen oder war etwas so schlimmes passiert? „2019.“ „Okay.“ Wenn das Datum an irgendeiner Stelle falsch war, ließen sie es sich zumindest nicht anmerken.
„Spüren Sie etwas an Ihrer linken Hand?“ „Ja.“ „Druck oder Stich?“ „Druck.“ „Und jetzt an der rechten?“ Ich wollte sie zurückziehen, was mir aber nicht wirklich gelang: „Au! Ein Stich!“ Und so drückten und stachen sie mich an diversen Körperstellen, machten Notizen und verschwanden schließlich wieder aus dem Zimmer.

Wenn man in einem Krankenhaus etwas auf der Intensivstation verlor, dann war es das Zeitgefühl. War Tag oder Nacht? Waren 6 Stunden vergangen oder waren es 2 Tage? Ich lag wach, ich schlief, ich wurde untersucht. Das einzige, was ich nicht tat, war aufs Klo müssen. Vermutlich wurde ich über Infusionen ernährt. Und ich war nicht in der Lage, komplexere klare Gedanken zu fassen.
Irgendwie schoss mir alles irgendwann mal durch den Kopf. Dass ich ursprünglich aus Kalifornien war und dort Familie hatte, wovon mir mein Vater aber gestohlen bleiben konnte. Dass ich seit Jahren in Philadelphia wohnte. Dass ich dort Freunde hatte und wen. Dass ich Unternehmer war und wer mein Auftraggeber war. Dass ich in meiner Freizeit Autorennfahrer, Motorradfahrer nicht im Wettkampf und Urban Explorer war.

Nach welcher Zeit auch immer tauchte dann ein anderer Arzt auf: „Guten Tag Mr. Ridley. Ich bin Dr. Hoffman. Körperlich sind Sie in der Lage, auf eine normale Station verlegt zu werden. Spätestens dann werden wir auch regelmäßig zusammenarbeiten. Aber so lange Sie noch hier sind, werde ich Sie mit einigen dann unausweichlichen Dingen konfrontieren müssen. Fangen wir damit an, dass heute der 23.03. ist.“ Ich konnte hören, wie mein Puls sprunghaft schneller wurde. Nun war es an mir, die dumme Frage zu stellen. „Welches Jahr?“ Dr. Hoffman zuckte um die Augen als hätte er kurz gelächelt: „2019.“ Der Puls verlangsamte sich etwas. Also fehlten mir immerhin „nur“ über 2 Monate und nicht gleich Jahre.

„Auch dort drüben werden Sie noch unbeholfen und bettlägerig sein. Um das körperliche wird sich ein Kollege aus der Chirurgie kümmern. Und Sie sind hier im Evangelical Community Hospital in Lewisburg, Pennsylvania.“ Das war irgendwo nördlich von Harrisburg. „Und wie bin ich hier her gekommen?“ „Das ist der Teil der Reha, den wir zwei erarbeiten müssen. Sie wurden am 02.03. stark unterkühlt von Pfadfindern am Campingplatz im nächsten Ort Flussabwärts von hier aus dem Susquehanna River gezogen. Haben Sie eine Idee, wie Sie da hingekommen sein könnten?“ „Nein.“ „Okay. Dann werden wir das auch herausfinden.“

Ich war erstaunt, wie gefasst ich auf diese Informationen reagiert hatte. Oder ich hatte von diesem Apparatismus etwas gespritzt bekommen, was mich so reagieren ließ. Schließlich kam ein Arzt mit einem Pfleger und sie trennten mich von den Maschinen. Lediglich der Infusionsbeutel blieb. Der Pfleger hob mich in einen Rollstuhl und ich war dabei schlaff wie ein Sack. Da hatte ich noch gar nicht dran gedacht. Was funktionierte alles noch an meinem Körper? Konnte ich noch laufen? War ich gelähmt oder so? Immerhin hatte ich meine Füße bei den Tests gespürt, ein gutes Zeichen aus meiner laienhaften Sicht.
Der Pfleger schob mich die Gänge entlang. Ich sah Fenster und ich sah, dass es Frühling und ein sonniger Tag war. Schließlich wurde ich in ein Zimmer gefahren. Ein Jugendlicher lag in dem zweiten Bett. Der Pfleger hob mich aus dem Rollstuhl und legte mich ins Bett. Dann holte er ein paar Utensilien, zog mir den bademantelähnlich geschnittenen Krankenhausfummel aus und fing an, mich zu waschen. Es war zwar einerseits unangenehm, so eine Prozedur über mich ergehen lassen zu müssen, aber andererseits machte der nur seine Arbeit und außerdem konnte ich mich selbst schon riechen. Ich wollte meinem neuen Zimmergenossen ja nicht die Luft verpesten.

Nachdem der Pfleger gegangen war, sprach mich mein unfreiwilliger Mitbewohner an: „Ich bin James. Und Du?“ „Brandon.“ „Wie alt bist Du?“ „24.” „Ich bin 16.” In amerikanischen Krankenhäusern waren Teenager irgendwie weder Kinder noch Erwachsene. Meistens wurde anhand ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung und den für das Zimmer zur gemeinsamen Belegung verfügbaren Patienten entschieden, ob sie auf die Kinderstation oder auf die Erwachsenenstation kamen.
„Was hast Du?“ „Wenn ich das wüsste. Einen Filmriss jedenfalls. Man hat mich vor 3 Wochen unterkühlt am Flussufer gefunden. Ich habe aber keine Ahnung, was ich in den fast 2 Monaten davor gemacht habe oder wie ich da hingekommen bin. Es ist lediglich klar, dass ich unter einer Stunde in dem eiskalten Wasser gewesen sein muss, sonst läge ich jetzt dunkler und weiter unten.“ „Klingt auf jeden Fall spannender als ‚angeborener Herzfehler‘!“

Am nächsten Tag kam dann als erstes ein Physiotherapeut, der sich als Anthony vorstellte. Durch meine Zeit im Koma und auf der Intensivstation hatte ich Muskelmasse verloren. Ich sollte erst einmal meine Arme und Beine als Gewicht benutzen. So was hatte ich noch nie gehört, aber nach einer halben Stunde wusste ich, wie schwer Arme sein konnten und dass Beine sogar zu schwer sein konnten, um sie anzuheben.

Später kam Dr. Hoffman, als James gerade in Behandlung war. Ich sollte aus der letzten Zeit erzählen, an die ich mich noch erinnern konnte. Heute konnte ich auch erstmals wieder einen klaren Gedanken fassen, was auch nicht so förderlich war, wie ich dachte, denn es verkürzte die Sitzung ungemein, als ich als erstes an die materiellen Dinge dachte: „Ich habe eine Firma und muss mich um sie kümmern!“ „Dazu sind Sie derzeit gar nicht in der Lage. Also erzählen Sie mir bitte von Ihrem Leben vor dem 12 Januar. Wo auch immer Sie anfangen wollen, aber je früher desto besser.“ „Ich habe keine Zeit für so was. Ich brauche ein Telefon!“
Er stand auf, nahm eine Spritze und steckte sie auf einen Dreiwegehahn am Infusionsschlauch. Es dauerte nur wenige Sekunden, nachdem er die Spritze geleert hatte und ich war ruhiger, aber auch verwirrter. „Sie haben eine Erinnerungslücke von mehreren Wochen, das gilt in der Psychologie als kritischer Zustand des Patienten. So lange ich nicht der Meinung bin, dass Sie mit der Ihnen bekannten Außenwelt kommunizieren sollten, werden Sie das nicht tun. Und so lange Sie nicht kooperieren, kann ich nicht an den Punkt kommen. Und so lange ich nicht dahin komme, bleiben Sie hier liegen. Und wenn wir hier psychisch keine Fortschritte machen, aber Sie körperlich genesen sind, werden Sie automatisch in die Nervenklinik verlegt. Und dort haben wir andere Mittel zur Behandlung und andere Kriterien zur Entlassung als hier. Bis morgen!“

Und auch für den Rest der Genesung war das ein kleiner Rückschlag. Sollte ich doch an sich ab heute wieder an Nahrung gewöhnt werden, war das mit dem Beruhigungsmittel von Dr. Hoffman auch nicht möglich und so gab es für weitere 24 Stunden Nährlösung in den Arm.

Also kooperierte ich ab dem nächsten Tag noch eher widerwillig, nachdem Dr. Hoffman mich über seine Schweigepflicht gegenüber jeglichen Privatpersonen, den Behörden und auch allen anderen mich behandelnden Ärzten informiert hatte. Und ich fing zwar irgendwo letzten Sommer an, aber durch seine Nachfragen kam ich dann doch in meiner schwierigen Jugend an. Weil er entweder an meinem Verhalten sofort oder an irgendwelchen späteren Aussagen, die Fragen aufwarfen, sowieso merkte, wenn ich was weg ließ, rückte ich neben meinem Alltag und den normalen Hobbys in den kommenden Tagen auch mit Streetclimb und Urbexing raus.

Und auch körperlich gab es zaghafte Fortschritte. Für das Armtraining brachte Anthony einen Baseball als Gewicht mit und ich konnte meine Beine zwar noch nicht anheben, aber schon wieder kontrolliert ablegen, wenn er sie angehoben hatte. Anfangs waren sie aufs Bett zurückgefallen wie ein Brett.

Die Ernährungsumstellung ging genauso zögerlich vonstatten wie der Rest. Den Anfang machten Früchte- und Kräutertee und klare Gemüsebrühe ohne Einlage. Dann folgten mit Apfelkompott und Weißbrot auch nicht eben wirklich Dinge, bei denen ich von fester Nahrung sprechen wollte. Dennoch blieb mir dadurch der nächste peinliche Auftritt vor James nicht erspart. Denn weil meine Muskeln noch nicht stark genug waren, um irgendwie sinnvoll zur Toilette zu kommen und diese zu benutzen, musste ich nun regelmäßig nach dem Pfleger klingeln und um Flasche oder Schieber bitten.

Mit all den Rückfragen von Dr. Hoffman hatte ich dann auch mal die Vorweihnachtszeit 2018 erreicht. Während meine Arbeit zu der Zeit zumindest hier naturgemäß weniger wurde, nahm sie bei vielen meiner Freunde zu. Und so verbrachte ich auch viele Wochenenden vor Weihnachten in den Südstaaten. Über Weihnachten und Neujahr war ich dann traditionell zu Hause, feierte Weihnachten alleine und Neujahr mit meinen Freunden.
Je näher ich dem letzten mir bekannten Tag kam, umso schwerer tat ich mich, zu reden. Sogar ich merkte, dass ich da auf eine psychische Blockade zusteuerte. Ich war mir im neuen Jahr darüber klar geworden, dass ich in Wesley verliebt war. An diesem 12. Januar wollte ich ihm das sagen. Nach unserer ersten und ziemlich plumpen Begegnung am Schalter von Delta im Sommer war ich mir nicht sicher, ob es ihm genauso ging und er mir ernsthaft auf den Flirt geantwortet hatte oder ob er mich nur mir selbst gegenüber entlarvt hatte und ich mich furchtbar blamieren würde. Und dann kam eine Wand, die ich nicht passieren konnte.

Auch wenn Dr. Hoffman alles versuchte, mir zu helfen, über diesen Punkt hinaus zu kommen, so gelang mir das zwei Tage lang nicht. Ich verzweifelte daran auch aus einem anderen Grund. Da draußen hatte ich ein Leben, das davon abhing, Geld zu verdienen und meine Bank zu bedienen. Und das ging ohne mich nicht weiter, ganz im Gegensatz zur Zeit, die sich nicht aufhalten ließ, während ich hier drin war und nicht raus oder an meine Außenwelt kam.
Dafür machte ich Fortschritte auf der körperlichen Seite. Nachdem ich meine Physiotherapie in einem entsprechenden Praxisraum bekam, wo mich ein Pfleger noch im Rollstuhl hin fuhr, lief ich auch bald meine ersten Schritte an einem Rollator. Ich hatte laut den Ärzten keinerlei körperlichen Schaden davongetragen, bei was auch immer mit mir passiert war. Aber alle 14 Tage baute der Körper zwischen 25 und 35 Prozent der zu dem Zeitpunkt vorhandenen Muskelmasse ab, die nicht benötigt wurde. So hatte ich in 5 Wochen über die Hälfte meiner Arm- und Beinmuskeln verloren. Und das reichte, nachdem ich die Intensivstation verlassen hatte, nicht mal mehr aus, um das natürlich auch deutlich reduzierte Gewicht meines Körpers auf den Beinen zu tragen.

„NEIN!“ Mitten in der Nacht hatte ich einen lichten Moment und im Traum einen kurzen Blick hinter die Mauer. Den schrie ich so laut raus, dass ich gar nicht wissen wollte, was das schwache Herz meines Bettnachbarn davon hielt. Scheinbar nicht viel, denn noch bevor ich so richtig die Orientierung hatte, standen zwei Krankenschwestern im Zimmer und spritzten uns beiden etwas. Der Alarmknopf bei James leuchtete rot, er hatte ihn wohl ausgelöst.
Beide Mittel schienen aber nicht sonderlich hoch dosiert zu sein. Bei mir war es sowieso nicht möglich, mir ein wirklich wirksames Psychopharmakon rein zu hauen, ohne dass Dr. Hoffman dabei war und es angeordnet hatte, also war es ein normales Beruhigungsmittel. Und auch bei James schien es vor allem den Puls und die Atmung zu verlangsamen und ihn zu entspannen. Ich konnte jedenfalls nicht einschlafen und die Erkenntnis geisterte mir immer noch im Kopf rum. Leise heulte ich vor mich hin.
Und auch James wollte wissen, was ihn aus dem Schlaf und an die Leistungsfähigkeit seines schwachen Kreislaufs gebracht hatte: „Was ist los? Wenn Du darüber reden willst natürlich.“ „Ich kriege das nicht hintereinander. Wesley ist tot.“ „Wer war Wesley?“ „Ein Freund. Ich weiß nicht, was passiert ist. Und ich habe Angst, dass ich es verschuldet habe.” „Gib mir Deine Hand.“ Unsere Betten standen nur 1½‘ auseinander in dem schmalen Zimmer, Zugang jeweils von der Wandseite. da ging das. Es war irgendwie beruhigend zu spüren, dass ich nicht allein in diesem Zimmer war und so schlief ich dann doch irgendwann ein.

Immerhin hatte nun Dr. Hoffman einen neuen Ansatzpunkt, um meine Gedächtnislücke in den kommenden Sitzungen zu schließen. Und so fand ich in den kommenden Tagen heraus, was passiert war. An dem besagten 12. Januar hatte ich Wesley gestanden, dass ich in ihn verliebt war und wir waren ein Paar geworden. Eine Beziehung, die nur 3 Wochen hielt, in denen wir uns beruflich bedingt nur zweimal sahen.
Eigentlich hatte ich gedacht, dass wir uns am 03.02. auch sehen würden, aber Wesley kam nicht zum Treffpunkt. Und während wir in einem ehemaligen Busdepot unterwegs waren, klingelte Jamies Telefon. Der fror in der Bewegung ein und wurde bleich. Dann stammelte er die Worte, die auch mich aus der Bahn warfen: „Wesley ist tot.“ Als ich wieder einigermaßen aufnahmefähig war, erklärte Caleb mir, dass Hayden und Wesley eine Tour als Trainsurfer gemacht hatten. Dabei war Wesley trotz Haydens eindringlichem Verbot auf den Wagen geklettert und bekam einen Stromschlag von der mit 12,500 Volt geladenen Oberleitung.

In der Folge gerieten so einige Leben aus den Fugen. Ich wurde unzuverlässig, hatte keine Motivation und meldete mich manchmal für mehrere Tage bei Caterpillar ab, um nichts zu tun oder allenfalls sinnlose Dinge. Die Explorer-Gruppe zerfiel. Hayden machte sich Vorwürfe, Wesley mitgenommen zu haben. Jamie als Wesleys Freund und Kollege bekräftigte ihn darin, schuld zu sein, weshalb das Verhältnis zwischen ihnen zerbrach. Außerdem versuchte Jamie, mich auf seine Seite zu ziehen, was aber an meiner Passivität scheiterte. Daraufhin kam es zum Streit zwischen Caleb, der zu mir stand und mich davon abhielt, mich in den Streit rein ziehen zu lassen und Jamie. David schlug sich auf Haydens Seite. Ich hielt aber dennoch nur sporadisch Kontakt zu Caleb.
Wie immer stand mir mein Bruder Randy zur Seite, er konnte aber leider nicht her kommen. Halt vor Ort in Philadelphia versuchte mir dafür Tristan zu geben.

Es dauerte einige Gespräche mit Dr. Hoffman, um alle freigelegten Erlebnisse und Erinnerungen bewältigen zu können. Was allerdings noch blieb, war die Mauer vor dem Ereignis, wie ich in den Fluss gekommen war. Hatte ich versucht, mich umzubringen?

Ob diese Fortschritte in der psychologischen Therapie nun positiv oder negativ waren, konnte ich nicht beurteilen. Positiv war dafür auf jeden Fall meine körperliche Entwicklung. Ich konnte zumindest mit Hilfe des Rollators als Stütze und Notfall-Sitzgelegenheit wieder sicher laufen. Damit war ich einerseits mit einem gewissen Aktionsradius mobil und konnte alleine auf die Toilette, zur Therapie, zum Getränkeautomaten oder Snackautomaten. Meine Ernährung war schon wieder komplett normal.

Und auch das letzte Rätsel meiner jüngsten Vergangenheit konnte ich mit Dr. Hoffmans Hilfe lösen. Mit Caleb und Connor war ich nach Lewisburg gefahren. Eine Hinterlassenschaft der eingestellten Philadelphia and Reading Railroad war die Brücke über den Fluss.

Und auf genau der wollten wir den Fluss auch überqueren. Ich war an dem Tag wie an den meisten zu der Zeit nicht so ganz bei der Sache und musste, als ich bei einem Element oben auf dem Fachwerkkasten ging, eine vereiste Stelle oder so übersehen haben.
Die Erinnerung an meinen Sturz kam zurück. Ich hatte keine Gleichgewichtsprobleme und ich hatte nicht die Absicht, mit Vorsatz von der Brücke zu springen. Auf einmal rutschte mein Bein weg und im nächsten Moment sah ich die Brücke nach oben kleiner werden und hörte meine beiden verbliebenen Explorer-Freunde schreien, während ich rücklings in den Susquehanna River stürzte.

Dr. Hoffman schien zufrieden zu sein, denn er eröffnete mir nach weiteren zwei Tagen der Verarbeitung die Rückkehr in die Gesellschaft: „Sie werden noch bis übermorgen hier bleiben und dann kann ich Sie entlassen. Die Kollegen aus der Chirurgie waren schon vor drei Tagen an dem Punkt und aufgrund unserer Fortschritte und dem erwarteten Durchbruch hatte ich Ihre Verlegung in die Nervenklinik abgelehnt, um keinen Rückschlag zu riskieren. Morgen können Sie auch Besuch empfangen.“
Und auch wenn ich ein Problem damit hatte, das ich durchaus in der Psyche verortete, konnte er mir da auch nicht helfen: „Ich war jetzt 7 Wochen hier drin. Was ist da draußen mit meinem Leben passiert? Ich war selbstständiger Unternehmer und von meinen Einnahmen abhängig.“  „Tut mir leid, aber das kann ich nicht sagen. Ich bin kein Vertreter für Verdienstausfallversicherungen. Wenn Ihnen die Realität einen Tiefschlag versetzt und Sie denken, dass Sie meine Hilfe brauchen, gebe ich Ihnen auf jeden Fall mal meine Karte. Da stehen meine Praxiszeiten in der Nervenklinik für ambulante Patienten drauf. Oder Sie können einen Kollegen von mir aufsuchen, wovon ich aber, wenn es nur eine einzelne Sitzung sein sollte, abrate. Erstens müssten Sie mich dann von der Schweigepflicht entbinden, damit ich die Akte versenden kann und zweitens sind in der Psychotherapie Erfolge erst nach einigen Sitzungen zu erwarten, wenn sich Patient und Arzt nicht kennen. Diese Phase würde bei mir entfallen und die Behandlung effektiver machen. Aber natürlich können Sie nicht für eine längere Behandlung jedes Mal von Philadelphia nach Lewisburg fahren.“

Bei nur einem Tag und 180 Meilen Anfahrt kam natürlich niemand zu Besuch. Als ich mich am Entlassungstag noch fragte, wie ich denn wohl wieder nach Hause kam, stand dann doch Besuch in der Tür. Tristan und Caleb waren von Philadelphia hier rauf angereist. Es war ein durchaus emotionales Wiedersehen. Insbesondere Caleb, der mich hatte abstürzen sehen, war den Tränen der Erleichterung nahe. Connor hatte es wohl, zumindest nachdem ich aus dem Koma erwacht war, auch gut weggesteckt, wollte aber nicht ins Krankenhaus kommen. Er kletterte auch wieder mit Caleb – Unkraut vergeht nicht.
Als ich sie fragte, was denn mit meinen Sachen und meiner Firma passiert war, gab mir Tristan eine Antwort, die mich trotz der handelnden Person nicht unbedingt beruhigte: „Das soll Dir Dein Bruder nachher alles erklären. Randy sitzt gerade im Flieger.“

Ich hatte nicht wirklich was zu packen, war ich doch ohne irgendwas eingeliefert worden, nachdem sie mir die eiskalte, nasse Kleidung im Rettungswagen runter geschnitten hatten. Ich konnte den Trainingsanzug des Krankenhauses anbehalten.Als mich James nach einer Handynummer fragte, musste ich passen. Ich hatte sie beide dabei gehabt und die Polizei hatte mir zwar beide Handys in die Box mit meinen Sachen gelegt, aber sie waren unbrauchbar, voll Wasser, zerstörte Akkus, das Display am Smartphone gerissen und ausgeblühte SIM-Karten. Mir blieb nur, ihm meinen Youtubekanal zu geben und wenn er mich kontaktieren wollte, mir eine PN zu schicken. Ich nahm mal lieber den BKR Truck Driving dafür.

Wir gingen zu Tristans Auto. Er war inzwischen Projektingenieur bei einer Brückenbaufirma und hatte einen neuen Ford Explorer als Dienstwagen. Vorhin hatte er auf dem Weg von einer Baustelle in West Virginia Caleb nur in Harrisburg am Bahnhof aufgesammelt und war hier her gekommen. Caleb setzte sich nach hinten.

Wir fuhren zurück nach Philadelphia, aber an Roxborough vorbei, setzten Caleb zu Hause ab und es ging weiter nach Springfield, Delaware County, wo Tristan im Herbst mit seiner Freundin in einen ruhigen Vorort gezogen war. Als er die Straße rauf fuhr, kam uns ein Taxi entgegen und vor seiner Tür stand Randy mit Reisegepäck. Tristan parkte das Auto und wir begrüßten Randy. Tristan musste aufschließen, seine Freundin schien nicht zu Hause zu sein. Die Wohnung war ziemlich kalt. „Kommt in die Küche, die ist warm.“

Nun war erst einmal ich an der Reihe und erzählte, was mir passiert war. Aber irgendwann kam der Moment der Wahrheit: „Und was ist mit Euch in der Zeit gewesen?“ Ich traute mich noch gar nicht, nach meinen Sachen zu fragen, Randy fing an. „Wir fangen wohl am besten mal vorne an und erklären Dir alle Sachen parallel. Mir ist ja mit David ein Anlaufpunkt nach hier drüben verloren gegangen, nachdem Eure Gruppe auseinander ist. Aber da hatten wir zwei ja dafür regen Kontakt.“ Das war dann Tristans Stichwort: „Ich bekam einen Anruf von Caleb, dass Du von der Brücke gestürzt wärst. Auch weil Connor dabei war, wüsste er nicht, was er machen sollte, um selbst keinen Ärger zu bekommen, aber Dich zu retten versuchen. Ich habe ihm dann geraten, anonym den Notruf zu wählen. Er ist dann nachdem sie wieder am Auto waren, den Fluss entlang gefahren und hat Deine Bergung aus der Ferne gesehen. Über eine Vermisstenmeldung bei der Polizei hier in Philadelphia haben wir schließlich herausgefunden, wo und in welchem Zustand Du warst. Ich habe dann Randy informiert, der sofort her gekommen ist.“
Der erzählte mir dann von seinen Gefühlen, als er mich nur durch die Scheibe sehen konnte. Und irgendwann, nachdem es eher in eine Art Smalltalk abrutschte, rutschte es mir dann doch raus: „Und was ist mit meiner Firma?“ Randys betretener Gesichtsausdruck sprach Bände: „Ich habe sie verkaufen müssen.“ „Ach ja? Und dazu habe ich Dir eine Vollmacht gegeben? Retten solltest Du sie, wenn ich nicht in der Lage bin, aber noch lebe! Schöne Unterstützung warst Du!“
Ich stand auf und ging zur Tür. In meiner immer noch eher schwachen Verfassung schaffte es Tristan locker zwischen die Tür und mich: „Nein, mein Freund! So nicht! Wir zwei und noch mehr Leute, haben sich den Arsch aufgerissen, um das zu verhindern. Leider ohne Erfolg, aber mit vielen persönlichen Verlusten. Du wirst Dich da wieder hin setzen und Dir anhören, was wir Dir zu berichten haben. Und wenn ich dafür die Tür zu spaxen muss!“ Aus körperlicher Unterlegenheit blieb mir nichts anderes übrig. Ich setzte mich mit verschränkten Armen auf den Stuhl.
„Den Grundstein für den Verkauf hast Du sowieso selber gelegt. Als ich hier ankam, habe ich mir erst mal 3 Tage Urlaub genommen und bin in Dein Büro. Die Statistiken sprachen Bände. Ab Wesleys Todestag hattest Du Deine Einnahmen um über 30% reduziert, parallel zu Deinen Frachtraten bei Caterpillar logischerweise. Noch während ich mir einen Überblick verschaffte, kam mit der Tagespost ein Brief von denen, dass Du umgehend Deinen Vertrag erfüllen sollst und Deine entsprechenden Mahnungen im Isotrak bitteschön auch lesen solltest. Da saß ich nun, ohne LKW-Führerschein, ohne die Zeit, dauerhaft hier die Dinge zu organisieren und unter dem Zwang, Einnahmen zu generieren, um Deine Firma zu retten. Sowohl Caleb als auch Tristan hatten als erstes den spontanen Gedanken, den LKW-Führerschein zu machen und sich beurlauben zu lassen, um Dein Lebenswerk zu retten. Aber dazu hätte die Zeit nicht gereicht, bei Caleb das Geld erst recht nicht. Sogar Christian wollte helfen, aber um als Deutscher mit kanadischer Aufenthaltserlaubnis in den USA zu arbeiten hätte der die Mühlen der Bürokratie auch nicht rechtzeitig gemeistert.“
„Und als ich diesen Gedanken zu laut ausgesprochen habe, hat mich meine Freundin verlassen!“ „Echt? Oh nein, das tut mir leid.“ Ich fühlte mich mit dieser Information echt bescheiden. „Das war eigentlich nur noch der letzte Funken für die Explosion. Es hatte schon länger gekriselt, weil ich so viel für die Firma reisen muss. Wenn nicht wegen dem LKW-Schein, dann hätten wir uns vermutlich mittlerweile getrennt, weil der Kaffee nicht heiß genug war oder irgend so ein Scheiß.“

„Apropos Trennung, den Entschluss hat sie schon in den Tagen vor Deinem Unfall gefasst. Mum wird die Scheidung von Dad einreichen.“ „Wow!“ Mehr fiel mir nicht dazu ein. „Weiß sie, was passiert ist?“ „Ja. Nach meiner Rückkehr habe ich ihr alles erzählt, was Du in den letzten Jahren und ich noch viel länger in irgendwelchen stillgelegten Gebäuden oder auf Landmarken getrieben haben.“ „Und jetzt müssen wir aufhören?“
„Das ist Dein erster Gedanke zu dem Thema? 7 Stunden, nachdem Du aus dem Krankenaus entlassen wurdest?“ 
Randy lachte. „Du bist genauso unverbesserlich wie ich! Nein, müssen wir nicht. Sie hat mich angesehen und gefragt, ob sie mich daran hindern kann, weiter zu machen. Ich habe das verneint und dann hat sie nur gemeint, ich soll meine Limits kennen und einhalten. Und ansonsten – Schau mal, wo sie vergangenes Wochenende „zum Einstieg und Kennenlernen ihrer eigenen Limits“ war. Randy zeigte mir ein Foto einer Berglandschaft.
„Wo ist das?“ „Der San Jacinto Peak in den San Bernardino Mountains. Sie hat zum ersten Mal seit ihrer Verlobung mit Dad wieder einen Berg bestiegen. Und der war mit Trail bis kurz unter den Gipfel nur zum warm werden meinte sie. Ich habe, als wir mit unseren Sorgen und Nöten zusammen saßen, Fotoalben gesehen, wo sie als Studentin im Yosemite Park Hochgebirgstouren gemacht hat.” Seit Randys Entlassungsfeier war unsere Mutter scheinbar ausgewechselt und hatte Dad erst zeigen wollen, dass er sich aus einigen Aspekten ihres und Randys Leben auch mal rauszuhalten hatte und als das nicht funktionierte erkannt, dass sie dann eben getrennte Wege gehen mussten.

„Ich habe dann eher zufällig vor meiner Rückreise nach Kalifornien einen fertigen Fahrer gefunden, der sich bereit erklärt hat, für Dich zu fahren. Dein Mechaniker Isaac stand auf der Matte, weil Du ihn beauftragt hattest, Deinen Rennwagen saisonfertig zu machen und so kamen wir ins Gespräch. Aber das hat auch nichts genützt, weil der dann quasi die zwei Jobs bei Dir und beim Abschleppdienst seines Kumpels unter einen Hut bringen und dann auch noch dem seinen Rennwagen fit halten musste. Und da die Raten mit diesem niedrigen Umsatz nicht mehr bedient werden konnten und nicht mal eine Kapitaldecke da war, um den Einnahmenausfall zu kompensieren, zog dann Paclease die Bremse bei der Finanzierung Deiner Zugmaschine und zog sie ein. Ohne die konnte mir Isaac auch nicht mehr helfen. Das war dann das Ende.“ Na da hatte Randy zwar die Firma zu Grabe getragen, aber ich hatte ihr im Selbstmitleid zerfließend zumindest den Stoß versetzt, an dem sie im Endeffekt verbluten musste.

„Ohne Zugmaschine keine Einnahmen, ohne Einnahmen keine Raten fürs Gebäude und so war es nur eine Frage der Zeit, bis Tristan die Androhung der Zwangsversteigerung im Briefkasten gefunden hat. Ich war mit Deinem Firmenlaptop in Kalifornien zwar in der Lage, bei gewissen Dingen zu handeln und bin studierter Betriebswirt, aber ich kenne die Branche nicht, um eine Spedition aus einer solchen Schieflage zu retten. Jedenfalls war mir klar, dass eine Zwangsversteigerung das schlimmste war, was passieren könnte. Also bin ich wieder hier rüber und habe mit Tristan, Isaac, Caleb und diesem Teenager…“ „Connor?“ „Genau. Wir haben dann Deine Bude soweit es das private und die Papiere anging leer geräumt und in einer Lagerhalle untergebracht und ich habe das Firmengelände mit Werkstatteinrichtung verkauft. Gegenüber einer Zwangsversteigerung habe ich so wohl um die 30% mehr Geld gerettet.“

„Oh Mann, das tut mir alles so leid. Entschuldigt meinen Auftritt eben. Ich hatte ja keine Ahnung, was Ihr durchgemacht habt.“ „Um es zusammenzufassen. Du hast noch Deinen kompletten privaten Haushalt, Du hast einen Pickup mit Camper, Anhänger und Rennwagen, Du hast ein Motorrad. Du bist komplett schuldenfrei mit knapp 8000 Dollar auf dem mangels Firma nun verbliebenen, privaten Konto und Du hast die DOT- und MC-Lizenzen. Und Tristan hat ein Gästebett für den Übergang frei für Dich.“

Es klingelte. Tristan öffnete die Tür und der bisher einzige Angestellte meiner Firma kam rein. „Brandon! Schön, Dich wieder zu sehen.“ Er umarmte mich. „Hallo Isaac. Randy hat mir schon erzählt, was Du für mich getan hast. Ich weiß nicht, wie ich Dir danken soll.“ Dann wurde ich stutzig: „Was machst Du in einer offiziellen Arbeitshose von Navistar?“ „Ich arbeite seit einigen Wochen im International Used Truck Center in Holmesburg.“ „Nicht mehr bei Deinem Kumpel?“ „Nein, beim ersten Rennen, nachdem ich für Dich gewerblich gefahren bin, hat er mich zusammengeschissen, dass es meine Schuld wäre, dass er so schlecht abgeschnitten hätte. Wenn ich lieber Trucker sein wollte als mich auf seinen Rennwagen zu konzentrieren, sollte ich zusehen wo ich bleibe.“
Nicht noch so ein Fall, war es aber zum Glück nicht. „Und weil der die meisten seiner Rennen auch vorher schon schlechter abgeschnitten hatte als dieses, habe ich ihm mal mit dem Wissen um meine Zukunft die Meinung über sein selbstüberschätztes Talent gesagt, das war es dann mit besten Kumpels. Wenn man sich nicht kritisieren darf, war es wohl doch keine Lebensfreundschaft sondern nur ein Lebensirrtum. Ich organisiere sowieso gerade einen weiten Umzug. Mein Onkel setzt sich Ende des Monats zur Ruhe und zieht dahin, wo er auch im Winter Kurzarmhemden tragen kann. Ich mache seine Werkstatt weiter. War zwar ein Bisschen ärgerlich, für 7 Wochen noch mal einen neuen Job zu suchen, aber was soll’s.“

Nach diesem Tag ging ich auf „mein“ Zimmer, wo schon meine beiden Messer auf dem Nachttisch lagen. Tristan hatte es wohl für eine gute Idee gehalten, die nicht in ein Lagerhaus zu packen. Mein Tablet lag auch da, den Laptop hatte Randy mir wiedergegeben. Ich spielte erst einmal auf genau dem das Lied ab, das mich seit der Erkenntnis, wie Wesley gestorben war, verfolgte. Es war von einer ostdeutschen Band und ich kannte es von Christian. Es hieß „Wie ein Engel“ und ging um einen Trainsurfer aus Berlin, der ebenfalls verunglückte. Ich schien das als Abschluss gebraucht zu haben, denn danach war das Lied aus meinem Kopf verschwunden.

Am nächsten Tag ließ ich mich von Tristan zum Lager fahren, wo meine Sachen standen. Ich packte einen Umzugskarton mit Kleidung und nahm meinen Silverado mit, um wieder mobil zu sein. Ich brauchte außerdem ein neues Smartphone und forderte, wo ich schon mal unterwegs in der Stadt war, aktuelle Angebote für Truckleasing bei allen Anbietern an.

Ich hoffte, rechnete an sich damit, dass es mir nun zur Hilfe kam, dass mein Auftraggeber um mein dunkles Geheimnis wusste, wurde aber auf eine unerwartete Weise enttäuscht. Laut meiner Fortschreibung des Schichtplans musste Brian gerade arbeiten, aber das war nicht der Fall: „Caterpillar Logistic Center Northeast, Shenandoah Bowman.“ „Hallo Shen, hier ist Brandon Ridley.“ „Was willst Du?“ Oha, da war aber einer ganz schlecht gelaunt. „Ich wollte Brian sprechen.“ „Brian arbeitet nicht mehr bei CAT. Und Du auch nicht. Kannst ja mal versuchen, Level 3 zu beantragen. Ich wünsche dabei viel Erfolg. Level 4 werde ich leider nicht verhindern können.“ Klick. Ich starrte fassungslos mein Telefon an.

Nun hatte ich aber erst recht Fragen an Brian. Dank des auf Google Mail hinterlegten Adressbuchs hatte das Handy alle Kontakte beim Verbinden mit dem Account wieder eingespielt, auch Brians private Handynummer. „Brian Woods am Apparat. Guten Morgen.“ Wie, Morgen? Es war immerhin schon gleich 12. „Brandon Ridley. Hallo Brian.“ „Mensch, Brandon! Was ist passiert?” Da war ja jemand wenigstens noch erfreut, dass ich anrief. „Lange Geschichte. Wenn ich bei meiner Freizeitgestaltung ‚Sportunfall‘ sage, wirst Du Dir ja sowieso denken können, dass das nicht in 3 Minuten erzählt ist. Schon gar nicht, wenn eine Brücke mit Eisansatz und der Fluss darunter in der Sache vorkommen.“ „Dann sollten wir uns mal einen Zeitpunkt vereinbaren, wann Du das im Detail erzählst. Ich muss erst mal ein Bisschen arbeiten.“
„Das war der eigentliche Grund, warum ich anrufe. Ich wurde von Shen versandfertig aus der Leitung getreten. Du würdest nicht mehr bei CAT arbeiten und es klang weder so als hätte ich jemals wieder eine Chance das zu tun noch so als wäre Dein Abgang glatt gelaufen.“ „Och, an sich bin ich schon sauber raus, aber ich habe Shen sein Spielzeug weggenommen. Oder eher seine Ausrede, wenn mal was schief läuft.“ „Was für ein Spielzeug?“ „Evan. Der hat nie Speditionskaufmann oder so was gelernt. Er wollte lieber fahren, aber sein Vater war da anderer Meinung und obendrein Abteilungsleiter in Boston. Den haben sie mir damals eher als faules Ei ins Nest gelegt. Ich habe mich mit ihm angefreundet und teils aus meiner Freizeit und um meine Teamquote zu retten damals unter seinem Login die Dispatch gerade gezogen. Nachdem ich weg war, um die Firma meines Opas zu übernehmen, hatte Shen ihn benutzt, um alle Fehler des Teams auf ihn zu schieben, weil den Sohn vom Leiter der Machinery Logistic schmeißt schon keiner raus und dass Evans Vater dem nur sagen würde, er sollte sich anstrengen, aber nichts hinterfragt, war ein offenes Geheimnis. Jetzt ist Evan hier Fahrer, weil ich meinen Opa in dem Punkt ohne den passenden Führerschein nun mal nicht ersetzen konnte und in Boston wieder Shen als Teamleiter selbst für anfallenden Mist verantwortlich, wie es sich gehört. Angeblich kein allzu guter. Ich habe ja noch meine Kontakte.“
„Was machst Du denn jetzt?“ „Ich habe nach dem überraschenden Tod meines Großvaters wie gesagt seine Spedition übernommen. Kleiner, gemütlicher Betrieb. Drei Zugmaschinen, sechs Trailer drei verschiedener Bauarten, davon bilden zwei 28′ im Normalfall ein STAA-Double, gelegentlich auch ein 28er mit dem Standard Flatbed ein Rocky Mountain. Du hast ja Endorsement T? Das fehlt Evan nämlich noch und deshalb habe ich für solche Gespanne nur Casey als Fahrer. Mir fehlt einer.“ „Ja, habe ich. In Florida?“ „Nein, meine Mutter ist als junge Frau in Florida bei dem Mann hängen geblieben, der sich sein Studium als Surflehrer finanziert hat. Eigentlich kommt meine Familie mütterlicherseits aber aus einer etwas kühleren Ecke namens Oregon.“ Er plauderte ein Bisschen aus dem Nähkästchen.

Brian nahm eine kurze Denkpause. „Ich habe also wie gesagt einen Truck frei, weil sich einer der Fahrer nichts von einem Chef sagen lassen wollte, der 15 Jahre jünger ist als er. Also haben wir vereinbart, dass er sich einen neuen Zirkus sucht und ich mir einen neuen Clown.“ „Findest Du mich so lustig?“ „Nein, nicht wörtlich. Aber ich nehme auch einen Hochseilartisten als neue Attraktion. Dass Du bei CAT aus dem System gekegelt wirst, konnte ich nicht verhindern, also habe ich das so verstanden, dass Du Arbeit suchst und mich deshalb im Büro anrufen wolltest. Die Arbeit habe ich hier, aber es gibt drei Bedingungen.“ Es schien nach meinen ersten gesammelten Informationen sowieso schwer, aus meiner aktuellen Lage wieder als Owner-Operator Fuß zu fassen, also konnte ich mir das ja mal anhören. „Welche?“
„Die erste ist logisch. Du musst hier her kommen, ist ja nicht eben um die Ecke.“ Das war durchaus machbar, hier hatten sich sowieso einige Dinge verändert. Aber das musste ich mir dennoch noch mal durch den Kopf gehen lassen, ob ich die sowieso zusammengebrochenen Zelte hier wieder aufschlagen wollte oder wo anders. Immerhin gab es hier noch Freunde, einen Eishockeyverein und ich fühlte mich in dieser Weltstadt wohl. Bei Brian erwartete mich eine „Metropolregion“ mit 200,000 Einwohnern, davon gerade mal 80,000 in der „Hauptstadt“. Andererseits kannte ich noch jemanden, der genau dorthin wollte, um neu Fuß zu fassen.
„Die zweite ist, Du kannst mit einer ziemlich alten Zugmaschine leben.“ „So lange es nicht wieder so ein Schuhkarton mit Bett ist wie der Mack Superliner?“ „Nein, etwas moderner als der alte Joe Ferguson war mein Opa schon. Baujahr 2007, modernes Kabinenlayout. Laut Casey, der von den Fahrern hier die meiste Ahnung hat, ist nur das Cockpitlayout etwas antiquiert. Und der Truck wird sicherlich auch bald ersetzt.“ Das war wohl wenig riskant. Ich hatte schon Mack Superliner, Kenworth W900 und leihweise Peterbilt 389 mit solchen Cockpits aus der Zeit als Arbeitsgerät. Es war manchmal etwas lästig, aber nie ein wirkliches Problem damit.
„Drittens, der Hochseilartist überlegt sich vorher, ob er gesund genug und konzentriert genug ist, um aufzutreten und er überlegt sich da oben, was er tut und was er riskieren kann. Und wenn es an einem dieser drei Punkte Zweifel gibt, dann bleibst Du mit Deinem Arsch und den beiden daran angewachsenen Beinen bitteschön auf festem Boden. Ich mache selbst verdammt heikle Aktionen auf dem Surfbrett und habe in meinem Leben schon den einen oder anderen unfreiwilligen Schluck Salzwasser intus. Aber wenn ich denke, dass es aus irgendeinem Grund nicht geht, dann gehe ich entweder gar nicht raus oder an den Anfängerstrand und habe keine Schmerzen damit, zwischen Kindern auf langen Wellen zu reiten anstatt mit dem Profis zwischen Wasserwänden. Und so was erwarte ich auch von Dir, wenn Du diese Chance von mir annehmen willst!“
 Ja, das schien mein Schwachpunkt bisher zu sein. Im Nachhinein waren auch meine beiden anderen „rauf klettern um runter zu kommen“ Auftritte nach enttäuschter Liebe auf dem Schornstein von Hershey’s Chocolate und am Sender Annapolis nicht sehr vernünftig gewesen.

Am Abend traf ich mich mit den „bodenständigen“ Freunden zum Billard. Sie freuten sich natürlich, dass ich wieder da war, aber irgendwie war es doch eher distanziert geworden. Caleb war gar nicht mit gekommen. Ralph, der das Leid ja durch Caleb gewöhnt war, steckte mir dann auch, dass die Sorge die Gruppe sehr belastet hatte und es auch hier in lebhaften Diskussionen über Freiheit des Einzelnen und Rücksicht auf Freunde eine Zerreißprobe für alle gewesen war. Caleb kam nur noch mit, wenn Cody nicht da war und anders rum. Cody und Scott waren auch mir gegenüber entsprechend „höflich distanziert“, weil sie wohl die These vertreten hatten, dass man sich aus Rücksicht auf die Nerven seiner Freunde keinen Risiken dieser Art aussetzen sollte, wie es Caleb und ich machten. Ich fühlte mich irgendwie nicht mehr wohl in diesem Kreis, weil das alles an mir zu liegen schien.

Also machte ich mir in den kommenden Tagen meine Gedanken und fragte auch Dr. Hoffman noch mal um Rat. Er war der Meinung, dass die berühmte „Luftveränderung“ in solchen Situationen durchaus hilfreich sein konnte. Und damals hatte es ja auch funktioniert, als ich aus Kalifornien hier her gekommen war.
Und so stand mein Entschluss dann fest. Ich verkaufte meine Unternehmerlizenzen, sagte Brian zu und weil er das gleiche Ziel hatte, nahm ich Kontakt mit Isaac auf. Wir beschlossen, den Umzug gemeinsam durchzuziehen. Er würde einen Truck mit Daycab und 28‘ Trailer mieten und fahren, sein Auto hatte er hier verkauft, weil er dort drüben wohl zusammen mit der Werkstatt einen Medium Duty Pickup von seinem Onkel vermacht bekam. Ich nahm meinen Silverado mit dem Camper und dem Autoanhänger, wo er für die Übernachtungen dann auch rein kommen wollte. Das Daycab sparte uns einige hundert Dollar auf der geteilten Abrechnung, auch wenn die Autovermietung natürlich Funken sprühte, dass wir ihnen die Karre One-Way durch das Land fuhren und dann weitab ihres eigentlichen Einsatzgebiets stehen ließen. Aber es stand nirgends in ihren Konditionen, dass man das nur mit PKW, Campern und Sleeper Trucks durfte.


Was war das nun? Seinerzeit hatte erst mal meine Grafikkarte den Geist aufgegeben. Danach hatte ich eine Zeit lang mein EU-Tagebuch aktualisiert und anschließend konnte ich mich, nachdem damals die Coast to Coast Map noch nördlich einer Linie Georgia – Mississippi – Louisiana nur sehr einfache Landschaft zu bieten hatte, nicht mehr aufraffen, ab Philadelphia, nach wie vor meine Lieblingsstadt in Amerika, zu fahren. Also habe ich meinem Helden ein Erlebnis angedichtet, das ihn dazu bringt, seine Zelte abzubrechen und wieder an die Westküste zu gehen ins originale Gebiet der SCS-Karte.

Ein Kommentar zu “Kapitel 30 – Wie ein Engel

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