Kapitel 55 – Ausnahmezustand

August 2020

Die Arbeit war wieder relativ normal geworden. Wir hatten ja ohnehin breit aufgestellt nur bei den fast die kompletten USA umfassenden Lockdowns mit dem Flatbed ein Bisschen Probleme gehabt und den Rungentrailer gleich ganz stehen lassen können. Inzwischen lief aber sogar der wieder gelegentlich.
Waldbrände nach Gewittern in Nordkalifornien Anfang August und nach Gewittern ebenso wie teils auch von Menschenhand im Norden von Oregon hatten vorerst keine Auswirkungen, auch wenn sie sich hartnäckig hielten.

So konnte ich bis zum 15./16. August schon vier Wochenenden mit Alex verbringen. Nach der Motorradtour am ersten Wochenende hatten Alex und ich uns die Tage in den folgenden Wochen mit Skaten und Freerunning vertrieben oder wenn es zu heiß war, wieder an den Fluss gefahren. Abendliches Treffen mit Freunden war an sich immer drin, dank Hygienekonzepten war die Gastronomie geöffnet und private Feiern zu Hause waren auch erlaubt. Allerdings hatten wir es auch mal abgelehnt zu einem Treffen zu kommen, um die Abende nur für uns zu haben.

Auch das folgende Wochenende kam ich wieder nach Hause. Gerade frisch verliebt war es schön, so viel Zeit miteinander zu verbringen, zumindest für meinen Berufsstand viel.
Als ich sogar schon am Freitag, 21.08., nach Medford kam und den LoneStar volltankte, fuhr der Hausherr des Truckstops, Isaac, mit seinem Jeep Compass vor. Den hatte er sich gekauft, um nicht immer mit dem Ram 3500 Dickschiff herumzufahren und außerdem, damit auch seine Leute das Fahrzeug mit der verbauten Pannenhilfe- und Unfallsicherungsausrüstung zur Verfügung hatten, wenn er nicht da war. Er trug zu meiner Verwunderung eine Army-Uniform. Ich versuchte einen militärischen Gruß und erntete vor allem Gelächter: „Brandon, lass es sein! Wenn man es nicht gelernt hat, sieht Salutieren einfach nur Banane aus!“
„Wo willst Du denn hin in dem Aufzug?“ „In den Krieg, der Feind ist heiß aufs Gefecht. Nein, ernsthaft. Kate Brown hat gestern wegen der Waldbrände den Ausnahmezustand ausgerufen und die Nationalgarde wurde einberufen. Noch nicht mitbekommen?“ „Gestern um diese Zeit hieß der Gouverneur auf den lokalen Nachrichtensendern noch Gavin Newsom, wobei der auch mit Waldbränden zu tun hat. Komme gerade aus Kalifornien rauf.“ „Na gut, dann warst Du ja erst eine knappe Dreiviertelstunde auf der Heimatwelle. Ich muss nach The Dalles und mich zum Dienst melden. Es gibt ein großes Feuer am Ostrand des Mount Hood National Forest, das die Feuerwehr nicht in den Griff bekommt.“
„Oha. Na dann pass gut auf Dich auf!“ „Wird schon nicht so schlimm, da habe ich andere Sachen überstanden. Das Logistikcorps ist auch im Katastrophenschutz die meiste Zeit ein gutes Stück hinter den Linien. Und der Waldbrand schießt wenigstens keine Granaten ins Tal.“

Für dieses Wochenende, insbesondere weil ich schon Freitag zu Hause war, hatten wir beschlossen, nach Portland zu fahren, um Alex Freunde zu treffen. Wir fuhren am Freitagabend zu Nico, der uns in seinem Wohnzimmer auf einem Schlafsofa einquartierte. Am Samstag trafen wir dann auch Mick.
Die beiden waren sogar in den USA geboren, aber der Unterschied in der Sprachbildung der drei russischstämmigen um mich herum war deutlich. Von Alex wusste ich ja, dass seine Verwandten sich ihr kleines Russland zu Hause geschaffen hatten, er aber gut Englisch können wollte und sich entsprechend bemüht hatte, fehlerfrei zu reden. Nur der Akzent war immer deutlich hörbar geblieben.
Mick kam aus ähnlichen Verhältnissen, aber hatte sich nicht ernsthaft bemüht, Englisch zu lernen. Er sprach zwar auch fließend Englisch, aber langsamer als Alex, mit immer wieder eingebauten Fehlern und sehr hartem Akzent. Ich fand es aber gut genug, um mich mit ihm problemlos unterhalten zu können.
Nico dagegen war von seinen Eltern konsequent dazu gebracht worden, Englisch zu lernen. Er sprach fehlerfrei, fließend und schnell, mit sehr leichtem Akzent, gerade deutlich genug hörbar, dass man auch ohne es zu wissen, einschätzen könnte, aus welchem Sprachraum er kam. Und sowohl Nico als auch Alex hatten keine Sekunde ein Problem, die Sprache das Wochenende über zu halten. Mick verfiel ein paarmal in russische Satzanfänge, bevor ihm einfiel, dass ich das gar nicht konnte und er dann Englisch weitermachte.

Wir fuhren am Samstag raus nach Ripplebrook, eine verlassene Waldarbeitersiedlung in Clackamas County. Hier waren derzeit keine Brände, zwei ganz kleine in 20 bis 30 Meilen Entfernung gab es seit ein paar Tagen. Sie wurden nicht größer, die Feuerwehr bekam sie aber auch nicht kleiner, was wohl am unwegsamen Gelände lag. Wir wollten nach jedem Gebäude einmal unsere komplette Umgebung checken, ob irgendwo Rauch zu sehen war.
Mick musste mit seinem Dodge Durango fahren, weil die Pickups nicht geeignet waren. Nicos Toyota Tundra hatte sogar nur ein Work Cab mit Dreiersitzbank und mein Chevy Silverado mit dem Extended Cab vorne zwei bequeme „Autosessel“ mit allen Schikanen, aber die Dreierbank hinten verdiente allenfalls den Namen Notsitze.
In Ripplebrook standen verlassene Wohnhäuser herum. Die waren sogar noch voll eingerichtet, weil die Möbel der Forstverwaltung gehörten, die die Gebäude Arbeitern als Wohnungen zur Verfügung gestellt hatte. Nachdem sie einige Jahre nicht benutzt worden waren, gab es allerdings erste Schäden an der Substanz. Die Dächer und Wände wurden ohne Wartung langsam undicht, es waren schließlich nur die gefürchteten und in den 70ern als Bauweise aus der Mode gekommenen Außenwände mit Doppelspanplatten, Dämmfüllung und vorgesetzten Plastikbrettern. Ihr Nachteil war genau das, was man hier sah. Die Feuchtigkeit kam schnell durch, wenn man sie nicht konsequent instand hielt. Auch ich würde mein gemietetes Haus in dieser Bauweise noch im Herbst prüfen müssen, ob die Plastikbretter noch dicht und ohne Risse waren. Das war leider die Aufgabe des Mieters, wenn ich nicht extra dafür zahlen wollte.

Ich würde nicht sagen, dass ich bei der Anreise eifersüchtig gewesen wäre, aber dennoch hatte ich Mick im Auge behalten. Keine Ahnung, was Alex da hätte aufwärmen wollen, wenn wir nicht zusammen gekommen wären. Von Micks Seite schien da kein über die normale Freundschaft hinausgehendes Begehren mehr im Spiel zu sein. Deshalb hörte ich auch schnell auf, dessen Verhalten zu beobachten.

Nach unserer Exploration am Samstag hatten wir abends bei Mick den Grill angeworfen. Der wohnte in Elmonica in einem Mobile Home – also kein Wohnmobil, Wohnwagen oder Sattelauflieger mit eigenen Rädern, sondern so ein schmales, langes Haus, das nach dem Trennen der Versorgungsleitungen mit überdimensionierten Wagenhebern angehoben und auf einem Tieflader als Schwertransport verfahren werden konnte. Wenn man aus dem Wohnzimmer an der einen Schmalseite oder der Küche sah, war es drum herum ganz idyllisch mit Gras, Büschen und Bäumen, gefolgt von einer Nebenstraße und einem Sportplatz. Hier gab es auch eine von einer Hecke umgebene Terrasse, wo wir saßen.
Aus dem Schlafzimmer an der anderen Schmalseite und vor der Eingangstür gab es dann Berge zu sehen – Berge von Altautos, denn das Ding stand auf dem Grundstück seines Vaters, wo der den Schrottplatz betrieb. Mick waren eigene vier Wände in dieser Lage aber lieber als ins Elternhaus eingelassene vier Wände und gelegentliche Sprüche von den Füßen unterm Tisch. Er sagte, er verstand sich gut mit seinen Eltern, aber die Freiheit mit dem komplett eigenen Haushalt war es ihm wert, nach dem Aufstehen als erstes Autowracks zu sehen und seinen Eltern eine – natürlich nur recht kleine – Miete für den Schuppen zu bezahlen.
Alex und ich fanden da Nicos Mietwohnung in Gresham, einem Vorort auf der anderen Seite von Portland, doch irgendwie angenehmer. Wir konnten dahin mit der Stadtbahn, die hier als Portland MAX vermarktet wurde, wieder zurück fahren. Weil wir ein paar Bier und Wodka hatten, wäre es auch gar nicht anders gegangen.
Am Sonntag waren wir vormittags noch in Downtown Portland zum Freerunning gewesen. Nachmittags fuhren wir zurück nach Medford.

Auch die kommenden Wochenenden war ich nur einmal in Arizona, sonst immer zu Hause und wir näherten uns Mitte September. Die Waldbrände wurden teilweise größer und auf jeden Fall immer zahlreicher.
Isaac meldete sich zwischendurch immer wieder in unserer WhatsApp-Gruppe, so dass die Freunde wussten, dass es ihm gut ging. Er teilte uns allerdings auch mit, wie anstrengend es war. Hier bei uns war die Insel der Ruhe, die Feuer wüteten weiter im Norden um Portland, in den vom Klima her grundsätzlich trockenen Gebieten von Central und East Oregon oder südlich über die Grenze in Kalifornien.


Montag, 07.09.2020

Alex und ich saßen in meiner Küche beim Frühstück, als er mich fragte: „Kannst Du mir bitte noch mal Deinen zweiten Autoschlüssel geben? Bei meinem Jetta ist was mit dem Getriebe nicht in Ordnung, der muss diese Woche in die Werkstatt.“ „Okay, kriegst Du gleich.“
Wir verabschiedeten uns in der Küche, von wo eine Tür nach draußen zur Einfahrt mit den Autos ging und fuhren mit getrennten Fahrzeugen los. Als Alex von der Jackson Street in die Summit Avenue Richtung Sägewerk einbog, sollte es das letzte sein, was ich von diesem Auto jemals zu sehen bekam.

In der Firma erwartete Brian mich mit dem ersten Auftrag. Ich sah ihn mir auf dem Weg nach unten an, hatte den Reefer gewonnen. 39,000 Pfund Milchprodukte von Kraft-Heinz nach Casper (WY) für einen Safeway. Also stellte ich während der PTI gleich mal die Temperatur ein. Die Sonne ging auf, als ich zur Ladestelle fuhr, das schien ein schöner Tag zu werden. Es sollte erst einmal der letzte für Medford bleiben.

Kurz nach 8 AM war ich beladen und fuhr bei dem Gewicht lieber zum Pilot Travel Center in Central Point, um die Achsen einzustellen. Beinahe wäre es die kürzeste Tour meiner Karriere geworden, denn ein verträumter Kollege zog auf dem Crater Lake Highway nach einer Kreuzung ohne in den Spiegel zu schauen auf die rechte Spur und schnitt mir den Weg ab. Zum Glück war auf dem Gehweg kein Fußgänger, denn bremsen alleine reichte nicht aus. Ich lenkte nach rechts und holperte den Bordstein rauf. Es sollte ein Omen für den weiteren Verlauf der Tour sein, oder eher für den weiteren Verlauf der lokalen Geschichte dieser Region, während ich unterwegs war.
Der andere hatte weder zurück gelenkt noch irgendwie reagiert. Ich schrie einen unverzeihlichen Fluch in den CB-Funk, erfreute mich meiner nur haarscharf sauber gebliebenen Unterhose und fuhr mit zitternden Händen wieder an. Der Beschleunigungssensor in der Dashcam hatte dem Piepsen nach sowieso bei der Vollbremsung und dem Bordsteinkontakt die Szene gespeichert. So konnten meine Follower demnächst wenigstens auch dran teilhaben.

Danach ging es ereignislos weiter über Klamath Falls Richtung Lakeview. Das Fahrverhalten war unauffällig geblieben, der Truck zog weder zur Seite noch schlug die Lenkung, also schien der Bordsteinkontakt folgenlos geblieben zu sein. Zur Pause wollte ich den Reifen dann noch mal genauer anschauen.
Ich hatte Recht behalten, es wurde ein schöner Tag. Nicht eine Wolke war am Himmel, das war selten, denn der Westwind drückte meistens die feuchte Meeresluft gegen die Kaskadenkette. So auch die vergangenen Wochen immer wieder. Geregnet hatte es an quasi der kompletten Küste trotzdem nicht viel, daher ja die Waldbrände. Aber es war immer Struktur am Himmel gewesen, nicht so heute. Seit ich Medford verlassen hatte, hatte ich auch die Wolken verlassen.

An der Langslet Monument Area wurde es Zeit für die Pause. Zwei junge Motorradfahrer aus Kalifornien standen dort. Hier waren auch Wolken zu sehen, aber den Ursprung verrieten mir auch die beiden Motorradfahrer: „Das sieht nur am Rand so nach Quellwolke aus. Weil da nur wenig Asche die Luftfeuchtigkeit kondensieren lässt und das dann weißer Dampf ist. Der dunkle Teil ist aber mehr Rauch als Dampf. Wir sind extra hier rauf gefahren, um mal frische Luft zu kriegen. Aber langsam zieht der Rauchschleier auch in Bodennähe immer weiter in den Norden.“
In der Tat lag hier ein trüber Schleier über dem Canyon, den ich vorher nicht gesehen hatte. Die Straße war aber auch zwischen Adel und hier auf 25 Meilen Fahrstrecke 12 Meilen nach Süden geschwenkt. Nach Nevada, das hier südlich an Oregon grenzte, waren es keine 2 Meilen Luftlinie, zum Tripoint, wo sich Kalifornien, Nevada und Oregon trafen, waren es 22 Meilen und es gab einige Waldbrände am Nordrand von Kalifornien.

Wie sprachen dann eher über Zweiräder, bis sie weiter nach Westen wollten, wo ich her kam, bevor sie wieder in Richtung Redding in den Rauch zurück mussten. Ich wechselte nach Nevada, hatte bei einer Baustelle Glück, dass in meiner Richtung gerade die Durchfahrt frei war und kam so wie eigentlich immer nach Battle Mountain (NV), wo ich am Flying J meine Pause für die Nacht machte.
Auf den Stop wurde oft geschimpft. Ja, die Duschen waren schon etwas älter und in den Panischen Staaten von Amerika war ja eine gerissene Fliese oder Fuge gleich ein Seuchenherd, auch in anderen Jahren als 2020. Eigentlich war der ganze Schuppen schon etwas älter. Aber da kannte ich schlimmeres, vor allem was die Sauberkeit anging. Und nebenan im Colt Casino gab es sehr gutes Essen, das die Abzüge in der B-Note des Truck Stops selbst locker ausbügelte. Auch heute ging ich dort auf eine Portion Pasta mit Pilzen und Knoblauchbrot hin. Restaurant und die Hälfte der Spielautomaten im Bereich um die Bar waren derzeit geöffnet. Wie das Hygienekonzept des eigentlichen Kasinos aussah, war mir egal, weil ich sowieso weder da rein wollte noch in diesem Bereich die einarmigen Banditen füttern wollte.


Dienstag, 08.09.2020

Zum Frühstück gab es meine geliebten Mini-Wheats mit Milch, dazu hatte ich mir im Flying J auf meinen Getränkegutschein, den es gestern zur Dusche gegeben hatte, einen Cappuccino geholt. Kaffee pur ging für mich gar nicht und der Tee war hier auch eher so lala. Neben mir auf dem Tablet lief ein Nachrichtenstream für Oregon. Gestern hatte es 4 neue Waldbrände im ganzen Staat gegeben. Der Wind hatte, laut Experten begünstigt durch die bei den Bränden an der gesamten Küste aufsteigende heiße Luft gedreht und aus Nevada und südlichem Idaho warme, trockene Luft gebracht, die die Brände angefacht hatte. Auch die beiden kleinen Feuer, die wir am Wochenende noch als sicher entfernt von unserer Explorer-Location eingeschätzt hatten, waren dadurch außer Kontrolle geraten und hatten angefangen, sich dorthin durchzufressen, wo wir vor 3 Tagen noch gewesen waren.

Kurz nach 7 AM löste ich die Bremse. Von gestern schleppte ich noch eine halbe Stunde unverbrauchte Lenkzeit mit mir rum, die gleich die Ladezeit, die ich gestern bei Kraft-Heinz gestanden hatte, ausgleichen würde. Die Osino Weigh Station ließ mich gleich durch, am Utah Point of Entry musste ich antreten, konnte aber mit 75,325 lb. Gesamtgewicht auch gleich wieder raus.

Bei Salt Lake City musste ich mir Gedanken über eine Mittagspause machen. Leider gab es hier nicht wirklich viele gute Möglichkeiten und bis auf eine Rest Area hinter der Stadt würde ich es nicht mehr schaffen, ohne über 11 Stunden in 24 Stunden zu kommen, weil dann die Pause von gestern Mittag mitgerechnet werden musste. Außerdem musste ich tanken, das würde sonst auch spannend werden.
Also schlug ich mich zum unter Truckern nur mäßig beliebten Maverik Adventure’s Truck Stop durch. Das Abenteuer bestand wohl vor allem darin, den chronisch geschlossenen Bahnübergang an der California Avenue zu überwinden. Auch heute kamen erst mal zwei Züge an die Reihe und dann ich. Und auch das vor allem, weil ich einfach aufs Gas gelatscht war und per Kickdown durchgezogen hatte. Als ich mit dem Fahrerhaus auf der anderen Seite war, ging das Läutwerk schon wieder an und im Rückspiegel sah ich die Schranken wieder schließen.
Nachdem Truck, Fahrer und E-Log wieder fahrbereit waren, ging es zurück zur Interstate, durch Salt Lake City und den Berg rauf nach Wyoming.
Als reinen Kilometerfressertag beendete ich ihn auf einem Truckstop meiner Lieblings-Doppelkette, dem Flying J in Rawlins (WY). Zum Abendessen nahm ich einen Salat aus der Kühltheke beim Flying J und löste den Gutschein von der vorher genommenen Dusche für eine Flasche Mountain Dew dazu ein.

Die Nachrichten aus Oregon sahen nicht gut aus. Immer mehr Feuer gerieten außer Kontrolle, dazu waren heute 7 neue entstanden. Zwei davon ließen mein Herz einen Schlag aussetzen, denn mit Almeda Drive im Süden und South Obenchain im Norden der Stadt war Medford jetzt von zwei Feuern im Umkreis von 20 Meilen bedroht.

Natürlich rief ich sofort Alex an. Der war aber zumindest bezüglich seines persönlichen Wohlergehens entspannt und hatte eher Mobilitätsprobleme mit dem Almeda-Feuer: „Nein, hier in Medford ist alles ruhig, die Brände sind klein. Wir sind auf Warnstufe 1 gesetzt worden, das sind wir aber jedes Jahr um diese Zeit mal. Nur mein Auto macht mir Sorgen.“ „Warum?“ „Die Werkstatt, wo es derzeit nicht fahrbereit mit ausgebautem Getriebe steht, ist in Phoenix. Die sind schon Stufe 2.“
Die Stufen kannte ich natürlich. 1 war „Auf eine mögliche Evakuierung vorbereiten! Regionalen Medien für Anweisungen und öffentliche Bekanntmachungen folgen!“ Stufe 2 bedeutete „Auf eine unmittelbare Evakuierung vorbereiten! Für die Personen des Haushalts erforderliche Dinge wie Medikamente, Babyartikel, etc. griffbereit stellen!“ Und Stufe 3 war „Sofortige Evakuierung! Das Gebiet mit so wenigen Fahrzeugen wie möglich entlang der von den Behörden angeordneten Route verlassen!“
„Hauptsache Dir geht es gut. Du hast ja mein Auto, wenn Du weg musst.“ Ich wusste allerdings, dass ihm sein Auto viel bedeutete. Nicht weil er dieses Auto so sehr mochte, sondern weil es ein großer finanzieller Brocken war, den er natürlich nicht abschreiben wollte. Eine markante Tonfolge riss mich aus dem Gespräch. „Was war das?“ „Isotrak. Mein Dispatcher-System. Brian hat um diese Zeit eine Nachricht geschickt.“

MSG: ALL COMPANY DRIVERS TO STAY OUTBOUND FOR INDEFINITE TIME
SENDER: ORMFR-PCT-BRW

Noch bevor ich Alex sagen konnte, was drin stand, gab es auch auf seiner Seite ein Warnsignal. „Ach du sch…“ „Was ist?“ „Ich habe per Warnapp eine Meldung aufs Smartphone bekommen. Mein Standort ist jetzt Stufe 2.“ „Brian hat an uns alle drei geschrieben, dass wir auf unbestimmte Zeit draußen bleiben werden.“ „Kein Wunder. Sein Haus ist jetzt Stufe 3, die Firma ist Stufe 2. Wenn ich mir die Karte so anschaue, wird er wohl bei Isaac einziehen, das Haus steht eh leer. Brian, Paul, Danny und, wenn er denn hier wäre, Evan müssen evakuieren. Meine Wohnung, Dein Haus und Caseys Wohnung sind jetzt Stufe 2, Caseys Eltern und Isaac sind immer noch Stufe 1. Dann werde ich wohl mal ein paar Sachen zusammenpacken.“ „Fahr am besten weg, irgendwo wo Du in Sicherheit bist.“
„Geht schlecht, so lange meine Wohnung Stufe 2 und das Sägewerk Stufe 1 ist, werde ich wohl arbeiten müssen. Außerdem wohin denn? Bestimmt nicht nach Portland und sonst kenne ich nirgends jemanden in brauchbarer Entfernung. Auch wenn da die Stadt selbst erst mal sicherer erscheinen mag. Wenn der Großraum dann doch so plötzlich evakuiert werden muss wie jetzt hier, dann ist das Chaos komplett.“
„Dann pass gut auf Dich auf.“
„Mache ich, keine Sorge. Die Behörden haben heute einen kompetenten Eindruck mit dem Feuer gemacht. Es ist nur zu trocken hier, der Wald kann sich nicht selbst vorm Feuer schützen. Ich ziehe aber wahrscheinlich um in Dein Haus. Erstens ist es dichter am Rand von Stufe 2 als meine Wohnung und zweitens ist da die Einwohnerdichte geringer. Wenn wir evakuieren müssen, komme ich da besser weg. Wenigstens Du bist in Wyoming wohl in Sicherheit.“
Den Schlüssel fürs Haus, der bisher bei Isaac war, hatte ich mir von Brian, der bei Isaac den Hausmeister gab, während die Nationalgarde im Einsatz war, geben lassen und an Alex weitergegeben. Vermutlich würde Brian nun mit Paul und wahrscheinlich auch Danny bei Isaac einziehen, wenn die alle schon raus mussten. Alex und ich verabschiedeten uns.

Ja, ich war in Sicherheit und Brian würde mich, wie auch Evan und Casey, dort lassen. Aber die, die vor Ort arbeiten mussten, waren eben mitten im Geschehen. Ich machte mir Sorgen um Alex und die anderen drei. Was war, wenn die Feuerwehr den Brand nicht in den Griff bekam? Was wenn es nachts zur Evakuierung kam?
Nach einiger Zeit meldete sich Alex wieder per Telefon und gab Entwarnung: „Man darf innerhalb von Zone 2 nicht in ein fremdes Haus, aber die Behörden begrüßen es, wenn man dort weg fährt. Ich bin jetzt mit Brian, Paul und – wenn er nachher Schluss hat – Danny in Isaacs Haus.“ „Gut.“
Die unterschwellige Sorge, wie gut ich das finden sollte, hatte Alex mir wohl durchs Telefon angemerkt. Jedenfalls konnte ich sein Grinsen auch fast durch selbiges bemerken: „Entspann Dich, Brian hat die Schlafordnung schon festgelegt. Er mit Danny im Schlafzimmer und ich mit Paul auf der Schlafcouch. Der kennt sowohl Evan als auch Dich!“ Wir mussten beide lachen, im Hintergrund hörte ich auch Brian und Paul.

Mittwoch, 09.09.2020

Das Frühstück gönnte ich mir heute im Denny’s auf dem Truck Stop. In den bundesweiten Morgennachrichten sah ich, dass die Lage in Jackson County, Oregon ernst war, denn sogar die berichteten aus Medford. Der Himmel war trüb von einem Rauchschleier. South Obenchain war hinter den Bergen, die dadurch aussahen wir Vulkane, weil man nur den Rauch sah. Aber das Almeda Drive Fire konnte man aus Medford wie Morgenrot sehen, nur dass da keins hingehörte, denn da war die Sonne eigentlich erst am Vormittag. Halb Ashland und die komplette Stadt Talent waren bereits gestern verbrannt, über Nacht war das Feuer an Phoenix herangerückt und die Stadt stand nun teilweise schon in Flammen. Somit hatte auch Alex Auto jetzt wirklich schlechte Karten.
Ich textete mit Alex. Er musste gleich zur Arbeit, das Sägewerk war nur in Stufe 1. Das Walmart Supercenter auch, also durfte Paul auch dort im Lager antraben. Brian konnte von überall arbeiten und blieb in Isaacs Haus. Danny musste gleich wieder ran, wenn seine vorgeschriebene Ruhezeit um war. Die Krankenhäuser in Medford wurden vorsorglich evakuiert und so lange die Sicht es zuließ, flogen sie die Intensivpatienten mit ihren beiden Spezialflugzeugen aus. Einzige sichere Straßenverbindung aus Medford raus war aktuell die I-5 North.

Ich ließ mir ordentlich Zeit, bevor ich mich auf den Weg in Richtung Casper machte, um beim Safeway abzuliefern. Der Termin war unkritisch und alles, was mir eine frühe Ablieferung und neue Ladung heute einbringen würde, waren anderthalb Stunden Zwangspause morgen Vormittag oder die Standzeit, die ich mir jetzt genehmigte dann eben morgen früh. Es sollte weiter nach Norden gehen, wie mir Isotrak verriet, als ich an der Rampe stand.

PICKUP: WYCPR-UPR
TERMINAL: FOOD & BEVERAGE
DESTIN: MTBIL-XYZ
TRAILER: REF48
LOAD: SOFTDRINKS
WEIGHT: 37,651
REEFER: OFF
DISPATCH: ORMFR-PCT-BRW

Also holte ich als nächstes die Getränke in einem Lagerhaus auf dem Güterbahnhof der Union-Pacific ab. Danach ging es weiter nach Norden. Zwar hatte ich schon davon gehört, aber es war erstaunlich, dass der feine Dunstschleier, den die Rauchpartikel der Waldbrände an der Küste erzeugten, bis weit nach Wyoming und Montana hinein reichte. Zwischen den Wolken über Billings müsste nach der Wetterlage eigentlich blauer Himmel sein und kein grauer.

Der Kunde war auf dem Berg beim Flughafen, ein ordentlicher Anstieg. Und nach dem Entladen war Schluss für heute.

LOCATION: MTBIL
ACTION: 11H BREAK
DISPATCH: ORMFR-PCT-BRW

Das Feuer war immer noch nicht unter Kontrolle, Phoenix (OR) gab es nicht mehr und die Flammen näherten sich scheinbar unaufhaltsam Medford. Alex wohnte noch mit Paul und Brian in Isaacs Haus, die Zonen waren gestern bereits sehr vorausschauend festgelegt worden und bisher nicht verändert worden.
Danny war heute Nachmittag mit seinem Copiloten, den beiden Medizinern und der identisch zusammengesetzten Crew der zweiten King Air umgeleitet und in Coos Bay gegroundet worden, nachdem der Medford Airport den Betrieb eingestellt hatte. Der Flughafen in Coos Bay lag auf der Spitze einer Halbinsel in einer Flussschleife und so gut wie direkt an der Pazifikküste. Egal was passierte, dort würden sie rechtzeitig wegkommen und an der Küste entlang über dem Ozean in Sicherheit fliegen können. Immerhin waren diese beiden Flugzeuge und der jetzt in Portland auf dem Verkehrsflughafen zwischengeparkte Helikopter, finanziert von Spendengeldern an die gemeinnützige Gesellschaft, die Existenzgrundlage von Mercy Flights.
Isaac war immer noch im Norden im Einsatz, er schrieb quasi nur noch kurz in die Gruppe, dass er noch lebte. Daran hatten wir allerdings auch so wenig Zweifel, denn er war wieder in einer Fahrzeugwerkstatt eingesetzt und brachte in The Dalles defekte Fahrzeuge von Army und zivilen Einsatzkräften von Feuerwehr und Rettungsdienst wieder ans Laufen oder bei seinem Rang überwachte er es eher und machte Abnahmen der Arbeiten. Selbst griff er nur ein, wenn es mehr Arbeit als Mannschaftsränge gab.
An die Brände kam er gar nicht erst allzu dicht dran, auch wenn er natürlich gelegentlich Außeneinsätze kommandieren musste, wenn ein Bergungstrupp ausrückte. Diese Woche waren sie aber immer noch über 5 Meilen vom Feuer entfernt, als sie einen defekten Tankwagen der Feuerwehr auf das Schleppgeschirr gekettet hatten.


Donnerstag, 10.09.2020

Beim Frühstück folgte der bange Blick in die Nachrichten. Das Feuer war bis Medford gekommen, aber in den südlichen Stadtteilen gestoppt worden. Dennoch sprachen die Behörden nicht von eingedämmt. Es bewegte sich nur nicht mehr weiter auf die Stadt zu, aber konnte auch noch nicht zurückgedrängt werden.
Das andere Feuer, South Obenchain, brannte in den Wäldern nördlich von Medford, bei den Nachbarstädten White City und Eagle Point sowie der OR-140 in weitestgehend unbewohntem Land. Lediglich die keine 500 Einwohner zählende Stadt Butte Falls war ihm bisher zum Opfer gefallen. Das war für die betroffenen Einwohner natürlich schlimm, aber im gleichen Zeitraum hatte das Almeda Fire auf einem Bruchteil der Fläche über 3000 Gebäude zerstört und war aufgrund der relativ dichten Bebauung südlich von Medford einer der Waldbrände mit den größten Schäden und der größten Zahl obdachlos gewordener Menschen an der ganzen Westküste in dieser Saison. Dabei war er gerade erst zwei Tage alt.

Ich stand hier unterdessen als Wildparker in einer Haltebucht oberhalb von Billings mit wunderbarem Talblick. Deshalb hieß die ganze Angelegenheit auch West Rims Overlook. Auf der anderen Seite war der Flughafen, dank dem sich hier zwar niemand an einem geparkten Reefer störte, aber der den Fahrer des Reefers in seiner Nachtruhe gestört hatte. Vielleicht konnte ich gleich an der Ladestelle noch mal schlafen. Das Kanisterwasser hatte nicht allzu viel Frische gebracht. Wo ging es denn hin?

PICKUP: MTBIL-UPR
TERMINAL: TEMPERATURE CONTROLLED FOOD STORAGE
DESTIN: UTMOB-CSC
TRAILER: REF48
LOAD: FROZEN FRUIT
WEIGHT: 29,139
REEFER: -4F
DISPATCH: ORMFR-PCT-BRW

Also mit Tiefkühlobst nach Moab in Utah. Dank meines Bachelors in Logistik wusste ich sogar, warum ich Softdrinks aus Casper hier her gefahren hatte, obwohl es hier auch einen Güterbahnhof von Union Pacific gab. Je weniger Eisenbahnwagen ans gleiche Ziel fuhren oder in je mehr verschiedene Züge ein Wagen bis ans Ziel eingereiht wurde, umso teurer wurde der Transport. In vielen europäischen Ländern gab es deshalb so gut wie gar keine Einzelwagenladungen mehr sondern die Bahn fuhr nur noch Schüttgut, Erdölprodukte, Chemikalien, Holz oder Container ohne unterwegs den Zug zu rangieren von A nach B.
In diesem Fall waren wahrscheinlich 6 oder 7 Wagen in einem geschlossenen Verbund von Atlanta nach Casper gekommen und LKW verteilten die Ladung dann im Umkreis von 500 Meilen an die Endkunden. Und auch das tiefgekühlte Obst war vermutlich auf diese Weise hier her gekommen, wobei es nach Moab laut Navi haargenau 800 Meilen waren, eine relativ lange Nachlaufstrecke auf der Straße.

Die Ladung war deutlich leichter als die letzten, also stellte ich die Achsen passend und nutzte die niedrigsten Preise der verbleibenden Tour, um die Tanks noch mal zu füllen. Anschließend ging es wieder auf die I-90 East, auch wenn sie auf meinem Abschnitt nach Süden führte. Als sie bei Buffalo nach Osten, ihre nominelle Richtung, zurückschwenkte, verließ ich sie, um auf der I-25, die auch offiziell von Norden nach Süden führte, meine Richtung beizubehalten.

Meine Mittagspause verbrachte ich in Kaycee (WY), wo ich mir ein Sandwich zusammenbastelte und mir dazu eine Flasche meines liebsten Softdrinks gönnte. Um die Kalorien, die in der grünen Flasche steckten, abzutrainieren, gab es auf der Rest Area ein paar Mauern, an denen man schön Sprünge üben konnte.

Dem noch recht flachen Rockies-Vorland entsprechend ereignislos fuhr ich bis zum Frederick Travel Center kurz vor Denver – mächtig großer Fehler.
Hier rief ich als erstes bei Alex an. Die Lage war unverändert, das Feuer kam nicht dichter an Medford heran, aber die Evakuierungszonen blieben unverändert, weil sie sich nicht sicher sein konnten, dass es nicht doch noch durchbrach. Im Prinzip konnte man es nur drinnen aushalten. Die Luft war rauchig und brannte im Hals, so richtig hell wurde es den ganzen Tag nicht. Aber dass sich das Feuer nicht weiter ausbreitete, war eine Erleichterung für die Bevölkerung und natürlich auch für mich, fernab von Freund und Freunden, aber die letzten Tage in Sorge um sie.

Nach dem Telefongespräch suchte ich mir eine Dusche und was zu essen. Ersteres scheiterte, es gab hier schlicht keine. Das Restaurant war gut und so war ich zufrieden mit der Verpflegung. Anschließend prüfte ich im Truck, ob es Youtube noch gab und machte mich in der Schnittsoftware über meine eigenen Rohdaten her, um die Plattform demnächst noch ein Bisschen weiter zu füllen.
Die Zahnpflege machte ich dann noch mit Kanisterwasser, bevor ich noch mal ins Rasthaus zurückging. Dort bekam ich einen kräftigen Anpfiff, dass die Toiletten nur für Kunden der Tankstelle und des Shops ab einem Mindesteinkauf von 10 Dollar da wären. Ich wollte nicht wissen, wie viele Leute nun einknickten und den Saftladen bereicherten. Ich verließ stattdessen den Laden und bereicherte den ohnehin nicht asphaltierten Parkplatz um eine Pfütze zwischen meinem und dem benachbarten Trailer.


Freitag, 11.09.2020

Als ich von meinem Handy geweckt wurde, hatte das Restaurant noch zu und in den Tankstellenladen wollte ich immer noch nicht, um für 10 Dollar einzukaufen und mir so die Toilettenbenutzung zu erkaufen. Weil eine größere Verrichtung nötig war, ließ ich also mein Mini-Wheats-Frühstück ausfallen und ging über die Straße zum 24 Stunden geöffneten McDonald‘s. So konnte ich eine Toilette benutzen, brauchte im Laden nur knapp 5 Dollar ausgeben und bekam dafür auch noch was zu essen. Und Nahrung konnte man im Gegensatz zu einem Alibi-Scheibenwischerblatt auch immer gebrauchen.
Ich machte mir eine Gedankennotiz, hier nicht mehr hin zu kommen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ, erledigte die PTI und war um 7:25 AM MDT auf dem Weg. Eine schlechte Zeit, aber es ging nicht anders. So hatte ich nach Denver rein meinen Spaß mit dem Berufsverkehr, bevor ich endlich vor der Downtown Skyline auf die I-70 West wieder gegen den Pendlerstrom wechseln konnte. Das Morgenrot tauchte die Szene in ein atemberaubendes Licht.

Es folgte der Anstieg zum Eisenhower Tunnel, dem höchsten Punkt im Interstate-Netz der USA. Nach fünfeinhalb Stunden meldete sich zwei Querstraßen vor dem Costco-Lager in Moab dann Isotrak. Das war ein deutliches Zeichen, dass ich dort auch meine Anschlussladung bekommen sollte.

PICKUP: UTMOB-CSC
DESTIN: NMROW-GEM
TRAILER: REF48
LOAD: MILK POWDER
WEIGHT: 38,015
REEFER: OFF
DISPATCH: ORMFR-PCT-BRW

Also ging es zum Reset in die Ufo-Stadt. Warum Milchpulver vom Großhändler zum Lebensmittelhersteller ging und nicht anders rum, wurde mir klar, als ich für die Papiere ins Büro wollte. Die bereits bereitstehenden Paletten hatten neongelbe Aufkleber. „Schadstoffgrenzwerte überschritten! Nicht zum Verkauf geeignet!“

Über eine Stunde hatte ich für Ent- und Beladen gestanden, in der Wartezeit ein Sandwich im Truck gegessen. Eine Waage war hier weit und breit nicht aufzutreiben, also schob ich den Achsschlitten per Faustformel zurecht. In Monticello wechselte ich von der US-191 auf die US-491 in Richtung Farmington. Hier meinte ein Berg, er müsste sich als eher schlechte Kopie des Devils Tower in Wyoming versuchen.

Die letzten Meilen vor Farmington verliefen allerdings ab Shiprock auf der US-64. Ich lag noch gut in der Zeit und so endete der Tag am Apache Nugget Travel Center & Casino. Hier gab es wieder nur relative enge und etwas renovierungsbedürftige Duschen. Aber hey, es war eine Dusche! Ein richtiges Restaurant gab es auch nicht, nur eine bekannte Sandwich-Fastfood-Kette. Ich bestellte mir eins.

Alex erzählte mir, dass die Feuerwehr erste Erfolge zu verzeichnen hatte, das Feuer einzudämmen. Zum Nachmittag waren seine Wohnung und mein Haus wieder auf Stufe 1 herunter gesetzt worden. Brian und Paul konnten theoretisch zurückkehren, lagen aber noch in Stufe 2 und wollten in Isaacs Haus bleiben. Danny wohnte immer noch in Coos Bay im Motel.


Samstag, 12.09.2020

Das Frühstück gab es aus dem Vorrat, meine liebsten Cerealien mit Milch. Anschließend ging ich noch mal im Shop aufs Klo und machte meine PTI. Auf zur letzten Etappe, die Aliens warten!
Nach 2 Stunden auf einem Single Lane Highway ging es kurz vor Albuquerque auf die I-25. Im Stadtzentrum wechselte ich auf die I-40 East. Stadtstraßen und darüber 4 Ebenen Autobahnkreuz. Wer brauchte bei so einer Verbindungsrampe noch Aussichtstürme?

Komplett in einem Rutsch kam ich nicht durch. Nachdem die Polizei mich in Vaughn (NM) auf die Waage gebeten und mit 74,485 Pfund gleich wieder runter gelassen hatte, beschloss ich, gleich zu tanken und eine kleine Pause zu machen. Zu essen kaufte ich mir dort allerdings nichts sondern machte mich über meine verbliebenen Vorräte her.

Kurz vor 3 PM MDT erreichte ich General Mills in Roswell. Mit nur noch knapp sechseinhalb Stunden Wochenschichtzeit war klar, was kam.

LOCATION: NMROW
ACTION: RELEASE
DISPATCH: ORMFR-PCT-BRW

Leider war die Stadt nicht auf Trucker im Reset eingestellt. Ich sah mir die Alternativen kurz durch. Eine 66 Tankstelle an der South Main Street mit Stripes Krämerladen daneben, dafür ohne Dusche. Ob die Tankstelle von Allsup’s mit ein paar Stellplätzen an der Ecke East College / North Garden eine Dusche hatte, ließ sich nicht herausfinden. Schade eigentlich, denn der kleine Laden sollte gut für die Grundversorgung sein und es gab eine Menge Kettenrestaurants in lauf- oder skatebarer Entfernung. Und dann gab es noch das Chisum Travel Center. Es hatte Duschen. Punkt. Der Platz könnte bei den in dieser Stadt immer reichlich vorhandenen Verschwörungstheoretikern als Drehort der gefaketen Mondlandung durchgehen, das Essen und der Shop waren wohl eher so lala.
Ich stellte den Truck am Chisum Center ab, packte meine Tasche, band die Inliner an den Tragegriff derselben und ließ mir ein Uber kommen. Seit einer gefühlten Ewigkeit quartierte ich mich mal wieder über den Reset in einem Motel ein.

In Medford war laut Alex eine teils gespenstische Ruhe eingekehrt. Das Almeda Drive Fire galt noch immer nicht als eingedämmt, aber breitete sich nicht weiter aus. Es stand sozusagen unentschieden. Wenn ihm die Nahrung innerhalb des jetzigen Gebiets ausging, würde es gelöscht werden können. Wenn es irgendwo durchbrechen konnte, würde es ganz schnell wieder zu Evakuierungen und weiteren Sachschäden kommen. Ich fragte mich, wie Isaac sich die letzten Tage gefühlt hatte. Er war im Norden des Staates eingesetzt, während seine Kameraden von anderen Einheiten versuchten, auch seine Existenz im Süden zu retten.
Das South Obenchain Fire schmurgelte auf großer Fläche immer noch im Norden der Stadt und ließ sich ebenfalls nicht unter Kontrolle bringen.


Sonntag, 13.09.2020 bis Sonntag, 20.09.2020

Nun wollte ich aber mal sehen, was in dieser Stadt so los war. Bei meinen Streifzügen am Wochenende begegnete ich sogar einem Alien, aber es war nur zum Aufblasen.

Am Montag bekam ich von Brian einen Auftrag, nach Kansas zu fahren, eine gut machbare Tagestour. Abends erfuhr ich von Alex, dass sie das Almeda Drive Fire jetzt offiziell als eingedämmt bezeichneten und damit begonnen hatten, es zurück zu drängen, in einzelne Brände zu teilen und kleinere zu löschen.
Mick hatte ihm außerdem mitgeteilt, dass Ripplebrook abgebrannt war. Vermutlich waren Alex und meine Aufnahmen von unserer Tour die letzten Bilddokumente, die von dieser Siedlung vor ihrer Zerstörung gemacht wurden. Irgendwie fühlte sich das merkwürdig an. Zwar gab es inzwischen einige Lost Places nicht mehr, wo ich gewesen bin – aber noch nie war einer nur wenige Tage nachdem ich ihn besucht hatte zerstört worden.

Der Dienstag dagegen war dann das deutliche Signal, dass es noch ein Wochenende draußen gab, denn ich sollte nach Tennessee. Dort würde ich dann am Mittwochmittag sein – unmöglich, den Rückweg nach Oregon noch zu schaffen. Selbst wenn es dann am Mittwoch hieß, nach Montana zu fahren. Dort würde die Woche dann in der Weltmetropole Bozeman enden, die als einziges wohl für den Stammsitz des Gitarrenherstellers Gibson bekannt sein dürfte.
Allerdings reichte ein Blick in die Karte mit den Waldbränden aus, um zu erkennen, dass es noch nicht wirklich möglich war, nach Medford zu kommen. Zu viele Fernstraßen waren noch gesperrt oder könnten es jederzeit wieder werden. Nur musste es denn unbedingt nach der einen Arschbacke der Welt gleich ein Reset auf der anderen sein?

Am Samstag in Bozeman (MT) angekommen und entladen fuhr ich zum Flying J im benachbarten Belgrade. Wenigstens konnte ich hier im Truck wohnen und den Zuschlag selber einstreichen, anstatt ihn einem Motel in den Rachen zu werfen.
Alex erzählte mir am Telefon, dass er die Bestätigung bekommen hatte, dass von seinem Auto, wie von der ganzen Werkstatt, wo es gestanden hatte, nur noch Asche übrig war. Die Versicherung der Werkstatt und seine Versicherung würden nun verhandeln müssen, wer den Schaden übernahm oder ob er an den Katastrophenpool gehen sollte, in den alle Versicherungen einzahlten, um in so einem Fall Auszahlungen zu ermöglichen, an denen einzelne Gesellschaften überlastet waren. Das hieß allerdings, dass er noch einige Wochen auf sein Geld warten musste.

Ich warf meinen Wochenendzuschlag dafür einem anderen Unternehmen in den Rachen. Am Sonntag ging ich zu Fuß die Dreiviertelstunde zum Yellowstone International Airport. Inliner waren leider mangels Gehwegen am Flughafenzubringer nicht möglich und man konnte zwar über Gras neben der Straße laufen aber nicht skaten. Dort nahm ich mir einen Mietwagen und machte mich auf den Weg nach Maudlow, eine Geisterstadt.

Dort angekommen kam mir allerdings gleich ein so 13 oder 14 Jahre alter Geist auf einem Mountainbike entgegen und sprach mich argwöhnisch an: „Was willst Du hier?“ „Ich dachte, hier wäre eine Geisterstadt.“ „Nein, drei Farmer gibt es noch, einer davon ist mein Vater! Und der hat ein Gewehr gegen Eindringlinge!“ „Sehr gastfreundlich. Dann werde ich wohl umdrehen müssen und die Kosten für den Mietwagen abschreiben.“ „Was wolltest Du denn hier?“ „Urbexen.“ „Park da vorne. Wenn ich dabei bin und aufpasse, dass Du nichts kaputt machst, ist das in Ordnung.“ „Only take pictures with you, only leave footprints behind!“
Nachdem ich geparkt hatte, stellte er sich als Derek vor und wir liefen einen Pfad über einen Hügel zu einer verlassenen Farm. Dort sahen wir uns in dem Wohnhaus und der Scheune um. Danach gingen wir noch in ein weiteres Wohnhaus. Um die einsturzgefährdete Schule schleuste Derek mich außen herum, rein konnte man laut ihm da nicht mehr sicher. Den Rückweg führte er mich auf der offiziellen Straße entlang zu meinem Auto. Dort stand eine aktive Farm, aber der Besitzer, der gerade ein landwirtschaftliches Gerät abschmierte, grüßte uns nur. In solchen 3-Familien-Dörfern galt wohl wirklich die Regel, dass Fremde okay waren, so lange ein Einheimischer dabei war. Derek verabschiedete sich und radelte eilig nach Hause. Außerdem nahm er mir das Versprechen ab, kein Video von hier auf meinem Kanal, den er kannte, zu posten, in dem es Hinweise auf den Ort gab. Sein Vater musste ihn heute Abend noch fristgerecht bei seiner geschiedenen Mutter in Helena (MT) abliefern.
Ich nutzte das Auto noch für einen Einkauf bei Town & Country Foods in Belgrade, brachte die Sachen zum Truck und fuhr dann zum Flughafen, das Auto abzugeben. Anschließend ging es wieder 45 Minuten zu Fuß zurück zum Truckstop und unter die Dusche.

Montag, 21.09.2020 bis Samstag, 03.10.2020

Schon zum Anfang der Woche stand fest, dass es wieder nichts mit Heimkehr würde. Nach einer Leerfahrt bis Billings ging es mit Zucker nach Raleigh (NC). Damit war die halbe Wochenlenkzeit weg. Weiter ging es mit dem Rest über Orlando (FL) nach Conway (AR). Ich wusste gar nicht, dass die Welt drei Arschbacken hatte. Für dieses Wochenende hieß meine Adresse also Love’s Travel Stop Morrilton (AR).

Die einzige Möglichkeit, es sinnvoll zu verbringen, war ein Park in der Nähe, in dem der Hund genauso begraben war wie überall hier. Auf Google Maps sah es aus wie eine Rennstrecke und mit einer halben Meile auf dem Seitenstreifen einer Landstraße und einer weiteren halben auf einer Zubringerstraße zu einer Schule ließ sich die Strecke halbwegs gefahrlos bewältigen. Wann immer niemand im Park war, ging ich auf die Jagd nach einem neuen Rundenrekord. Und weil der Park quasi zum Campus der University of Arkansas gehörte, war das oft der Fall.

Jemand anders war nach 5 Wochen dafür wieder zu Hause. Nachdem immer mehr Brände zumindest an der weiteren Ausbreitung gehindert werden konnten, hatte die Nationalgarde die ersten Reservisten wieder aus dem Dienst entlassen. Darunter war auch Isaac, der nun wieder die zivile Logistik am Laufen halten konnte.

Am nächsten Montag ging es immerhin in die richtige Richtung los. Im Zickzack über Ogden (UT), Twin Falls (ID) und Redding (CA) durfte ich tatsächlich nach Hause kommen. Ankunft sollte am Samstagvormittag sein.

Ich hatte Alex von der Staatsgrenze angerufen, denn er hatte ja mein Auto und musste mich abholen. Die Landschaft ab Ashford sah erschreckend aus. Bäume, Hecken und Farmgebäude waren verschwunden. Quasi ganz Talent war ein schwarzer Ascheplatz mit ein paar Steinmauern und ausgebrannten Autowracks drin. Und wie ich schon wusste, auch der Süden von Medford war betroffen. Um den Cellular Fields Sport Park wurde die Bebauung wieder dichter, einzelne Gebäude waren, vermutlich durch Funkenflug in Brand geraten, aber hier waren Feuerwehr und Nationalgarde Herr der Lage gewesen. Und an der Ausfahrt South Medford war bis auf einen Grauschleier auf Dächern und Pflanzen durch die abgelagerte Asche nicht zu erahnen, dass anderthalb Meilen weiter südlich kein Gebäude mehr stand.

Bei Isaac auf dem Hof tankte ich voll und fuhr zum Firmenhof. Alex unterhielt sich mit Casey, der gerade seine Sachen aus dem Truck geräumt hatte. Unsere ungelenk schüchterne Begrüßung kommentierte Casey mit einem süffisanten: „Sie dürfen die Br… Ihren Freund jetzt küssen!“ Das ließen wir uns nicht zweimal sagen, aber beschränkten uns auch auf einen symbolischen Kuss, wie er auch bei wichtigeren Anlässen auf diesen Satz meist folgte.
Casey war von Norden reingekommen, wo die Brände nicht so dicht an der Interstate gewesen waren, aber die eine oder andere Bergflanke auch kahl war und immer noch Feuer am Horizont brannten. Auch hier konnte man den Rauchpilz des South Obenchain Fire nordöstlich der Stadt weiter gut hinter dem Berg hervorquellen sehen. Ich räumte meinen Truck aus, packte meine Dreckwäsche und die nicht mehr lange haltbaren Vorräte auf die Rückbank meines Pickups. „Fahr Du ruhig, sonst muss ich alles wieder einstellen.“ „Meinst Du, wegen dem einen Inch, das ich größer bin als Du, hätte ich hier irgendwas verstellt? Das einzige, was anders ist, ist mein USB-Stick im Radio.“ „Fahr trotzdem Du. Ich bin wie immer die letzten 5 Tage genug gefahren.“ Wir stiegen ein. „Zu Dir oder zu mir?“ „Lieber zu mir. Ich möchte Garten.“ Alex stellte den Wählhebel für die Automatik – trotz der Einzelsitze war es natürlich ein Lenkradhebel wie bei den Modellen mit Sitzbank, um die Varianten bei der Produktion klein und die Kosten niedrig zu halten – auf R, setzte ein Stück von der Grundstücksmauer zurück, legte D ein und fuhr los. Ich hatte beschlossen, dieses Wochenende nicht weiter von zu Hause weg zu fahren als unbedingt notwendig.

2 Kommentare zu „Kapitel 55 – Ausnahmezustand

  1. Schönes Kapitel. Hat wirklich Spaß gemacht, es zu lesen.

    Übrigens. Bozeman, MT ist zumindest allen Trekkies ein Begriff. Laut der Star Trek Geschichte wird dort im Jahr 2063 der erste Warp Flug gestartet. Anschließend kommt es dort zum ersten Kontakt mit Außerirdischen. In diesem Fall den Vulkaniern.

    Erst Roswell und dann Bozeman. Hat da etwa ein Sience Fiction Nerd die Tour geplant?

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  2. Nein, es war ausschließlich der SCS Frachtmarkt, in dem ich mir auch die nicht gefahrenen Touren anhand der Fahrzeit zusammengestellt habe. Und da ich Star Trek nie sonderlich gemocht, geschweige denn geschaut habe, war mir diese Tatsache auch nicht bekannt. Ich bin da mehr der Battlestar Galactica (die alte Serie von ca. 1980 natürlich) und Star Wars Typ.

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