Kapitel 7 – Driving Home for Christmas

Ich machte mich, bedingt durch den Umzug ins neue Gebäude, sehr ungewöhnlich an einem Freitag auf den Weg. Am Donnerstag Nachmittag hatte Danjels Truppe das Gebäude übergeben, auch Mahad und Vinni hatten was davon gehabt, da Danjel die beiden am Bau beteiligten Ginaf-Zugmaschinen noch mal bei ihnen hatte durchchecken lassen, bevor sie jeweils die lange Tour nach Hause bis bei Amsterdam fuhren. Am Samstag würde erstmals eine Anzeige in der Zeitung und online erscheinen, dass ich eine Büro-Etage und zwei Hallenstellplätze zu vermieten hatte.

Immerhin ging gerade die Sonne auf, während ich zu meiner inzwischen fast schon normalen Ladestelle bei Linde fuhr. Mit 18 Tonnen Fluor am Haken verließ ich die Heimat und machte mich auf den Weg über die A5 Richtung Süden. Aber schon in Deutschland war das Wetter trotz Dezember schön und wirkte eher wie goldener Oktober.
Meine Mittagspause legte ich bei Darmstadt ein, wo ich auch gleich mal meinen Truck betankte. Zwar war es nicht angenehm, in Deutschland zu tanken, aber die Schweiz und Italien waren erfahrungsgemäß teurer und bis Griechenland reichte der Sprit nicht mehr.


„Och neeeeein!“ Auf der A81 setzte wieder Regen ein. Und viel schlimmer – fast im gleichen Moment passierte ES dann auch. Dass der Moment kommen würde, war mir schon vorher klar gewesen und dieses Mal passierte es auch erst kurz vorm zweiten Advent. Der SWR spielte zum ersten Mal, während ich den Sender in diesem Jahr drauf hatte und als erster Sender, den ich drauf hatte, „Last Christmas“ von Wham! Ich schaltete um auf SR DRS, bloß um bei Zürich das gleiche Lied auf die Ohren zu bekommen. Bei Arth-Goldau steuerte ich einen Rastplatz an und übernachtete dort.

Bei allerschönstem Himmelblau fuhr ich am späten Vormittag durch Norditalien, aber die heutige Fähre dürfte ich abschreiben können, hatte sie erst gar nicht eingeplant. Vielleicht würde ich sie noch sehen, aber die Frist vorm Ablegen würde ich unmöglich schaffen können. Und tatsächlich, nachdem ich mich durch den Stau auf Anconas Hauptstraße gekämpft hatte, legte die Fähre gerade ab.

Also verbrachte ich einen Tag im Hafen, versüßt durch RAI und alle 3 Stunden „Last Christmas“. In Griechenland empfing mich anderthalb Tage später erst einmal eine Schotterstraße. War die Krise so schlimm, dass man nicht einmal die Straßendecke zu einem der wichtigsten Häfen im Land erneuern konnte?

Griechenland war ein Kurzbesuch. Ich tauschte mein Fluor direkt vor Ort bei ENI gegen 12 Tonnen Neon und war wieder auf dem Weg zur Fähre. Das war natürlich eingepreist, also wenig fahren fürs Geld.

Am Hafen beanspruchte ich erst einmal den „Parkservice.“ Wenn ich nämlich eine auf 24 Stunden verkürzte Zeit als Wochenruhe verbuchte, durfte ich eine volle Wochenzeit bis zu meiner nächsten fahren. Und über Weihnachten würde ich mehr als nur die fehlenden 21 Stunden nachholen können. Voraussetzung war nur, dass ein Hafenarbeiter meinen Truck auf das Schiff steuerte, denn die Tagesruhezeit durfte man fürs Fahren auf oder von Fähren unterbrechen, die Wochenruhezeit nicht.
Nach einer weder sonderlich ruhigen, noch außergewöhnlich stürmischen Überfahrt kam ich am Dienstagmittag in Ancona an.

Hinter einer Mautstation bei Venedig hielt ich in toller Abendstimmung für meine Dreiviertelstunde Pause.

Die Fahrt im Abendrot ging weiter, bis ich schließlich an der Grenze zu Österreich stehen bleiben musste, auch wenn mir noch über 2 Stunden Lenkzeit blieben. Aber ich war einfach zu müde.

Am nächsten Morgen ging es bei Sonnenaufgang weiter durch die Alpen bis zur Mittagspause auf der Rastanlage Steinfeld. Bis da hin hatte mich jeder eingestellte Radiosender einmal mit dem ganz bestimmten Lied versorgt…
Genauso unspektakulär und musikalisch einseitig ging die zweite Tageshälfte weiter, bis ich meine Nachtruhe an der tschechisch-polnischen Grenze machte. Ich beschloss, mir mal eine eigene Sammlung zusammenzustellen. Mangels USB-Anschluss eben auf einer CD, MP3 konnte das Soundsystem. Die gekauften CDs hatte ich auch alle schon 1000 mal gehört.


Spektakulär war in der Nacht vor allem der Regen. Er trommelte dermaßen auf die Kabine, dass ich trotz Ohrsteckern kaum schlafen konnte und mich so schon um viertel vor vier wieder auf die Fahrt machte. Bei ziemlich bescheidenen Sichtverhältnissen und deshalb wieder mit gelbem Rundumgewitter auf dem Dach kämpfte ich mich durch die Suppe nach Krakow, wo mich mal wieder die vermutlich breiteste Hofeinfahrt der ganzen Stadt bei Bosch erwartete – ach nee, Tabelle falsch rum gehalten. Das Mistwetter sorgte dafür, dass ich im Hof beim Abkuppeln klatschnass wurde, wenigstens hatte sich einer von Bosch in die Regenjacke geschmissen und mich auf dem engen Hof erstklassig eingewiesen.

Noch nasser wurde ich dann kurz darauf bei Strabag, als ich dort einen Tieflader mit einem Radlader und einem JCB ankuppelte und bei dem Mistwetter die Ladungssicherung prüfen durfte. Dabei grübelte ich, wie diese Bagger, die aussehen wie ein Trecker mit Muldenschaufel vorne und Löffelschaufel hinten auf deutsch heißen. In Großbritannien war JCB nach ihrem größten einheimischen Hersteller ein allgemeiner Begriff geworden und ich kannte sie noch aus meiner Zeit in Wales so.
Als ich auf die Autobahn in Richtung Tschechien wechselte, hörte wenigstens der Regen auf und die Sonne kämpfte sich durch. Kurz vor der Grenze nutzte ich noch die niedrigen Spritpreise in Polen aus und zapfte bei einem Literpreis von 1,12 die Tanks voll. Außerdem legte ich hier gleich mal die Pause ein. Wieder einmal ein schönes Panorama bot sich bei der Fahrt über den Thaya-See. Ach ja, Wham! war auch in Tschechien keine unbekannte Band.

An der Grenze nach Österreich war mittags schon die Lenkzeit um und es wurde eine lange Pause. Ich hatte über eine Stunde Extrafahrzeit nachgedacht, aber ließ es lieber bleiben. Wer weiß, wofür man die noch brauchen könnte.
Ich hatte mir bis 5 Uhr Stillstand auferlegt, um wieder auf Tagarbeit zu kommen. Nachts fahren war noch nie mein Ding. Und so machte ich erst einmal am Nachmittag eine kleine Wanderung durch die Umgebung. Zum Glück regnete es nicht, denn bei 14 Stunden in einem Fahrerhaus konnte einem auch das höchste Kabinendach auf den Kopf fallen. Dann hätte ich wohl doch eine Nachtfahrt in Kauf genommen. Leider hatte ich immer noch keine Anschlussfracht in Südösterreich.

Pünktlich um 5 startete ich den Motor und fuhr los. Es war wenigstens trocken und bei wenig Verkehr ging es gut voran auf der Bundesstraße. Wieder auf der Rastanlage Steinfeld, aber dieses Mal in der Gegenrichtung legte ich erst einmal eine Pause ein und besorgte mir ein anständiges Frühstück. Das Panorama auf dieser Anlage war immer wieder beeindruckend, weshalb ich für ein Foto den Hang etwas rauf kletterte.

Als ich in Klagenfurt bei Hellmann auf den Hof fuhr, dachte ich mir, dass man in meinem Beruf so viele Städte sah und so wenige wirklich kennen lernte. Hier konnte man sicherlich einige Tage verbringen, um einige Sehenswürdigkeiten zu besichtigen.

Sehenswert war auch der Folgeauftrag, der sich zufällig ergab. Der Disponent, ein ziemlicher Frischling fragte, als würde er sich gar nicht richtig trauen. Vermutlich hatte er im Sommer seine Ausbildung beendet und noch nicht so viele Erfahrungen mit dem Fahrer als solchem vor sich: „Haben Sie…?“ „Hast Du!“ „Hast Du schon eine Anschlussfracht?“ „Nein, wieso?“ „Siehst Du das leere Containergestell da unten?“ „Ja.“ „Das müsste nach Sevilla. Könntest Du das übernehmen?“
„Strammer Plan, ich muss bis Samstag Abend aus Frankreich raus sein.“ Er wurde gefühlt 5 cm kleiner, während ich rechnete. Wenn der Mailänder Ring mich ließ, sollte sich das schon knapp ausgehen. Der Bubi telefonierte inzwischen. „Was macht Ihr eigentlich immer für einen Unsinn mit den Dingern? Inzwischen sind leere Chassis eine der lukrativsten Trailersorten, die man bekommt.“ „Nicht mehr lange. Vor Weihnachten werden die aus allen Himmelsrichtungen ins Binnenland gekarrt. Von Frankreich und aus dem Mittelmeerraum mit Frischware, von den Seehäfen in Holland und Norddeutschland mit Spielsachen. Der LKW ist oft schneller bei eiligen Lieferungen als Umschlag über die Bahn. Aber es gibt keine Rückfrachten, da reicht der Zug dann auch. In 2 Wochen sind die Chassis wieder vom Frachtmarkt verschwunden.“ Der Chefdisponent war aufgetaucht und machte einen Sonderpreis. Ich nahm den Auftrag an, koppelte an und bolzte bei einsetzendem Regen vom Hof.


Bei Sauwetter und mit einer Stunde längerer Fahrzeit schaffte ich es bis Padova. Mitten in der Nacht ging es weiter, so dass ich es noch um Mailand schaffte, bevor der richtig dicke Berufsverkehr einsetzte. Da mein Frühstück bei Padova ein Schokoriegel gewesen war, machte ich nun, kurz vor Genua an einer Mautstelle, meine echte Pause und bereitete mir ein vernünftiges Frühstück zu.

Mit allen erlaubten oder nicht explizit verbotenen Haken und Ösen in der Lenkzeitregelung schaffte ich es tatsächlich noch mit der letzten Minute Lenkzeit und vor dem Sonntagsfahrverbot bis hinter Perpignan an die Grenze nach Spanien. Unterwegs schaltete ich auf eine der paar gekauften CDs in der Ablage um, nachdem ich meine Stereoanlage in der Mittelkonsole mit dem neuen Text zu bekannter Melodie „Last Christmas I took you apart!“ bedroht hatte.

Sonntag Morgen um 7 Uhr und nach einem guten Frühstück in dem Restaurant, das in den alten Grenzanlagen eingerichtet worden war, machte ich mich auf den weiteren Weg. Wenn ich es heute bis Madrid schaffte, war ich morgen rechtzeitig für meine Wochenruhe in Sevilla.


Normalerweise sagte man ja, dass einen die Vergangenheit einholte, aber auf meiner Fahrt schaffte ich es, meine Vergangenheit einzuholen. Das lag vermutlich daran, dass ich dieses scheppernde, leere Chassis mit kaum Eigengewicht am Haken hatte und meine Vergangenheit einen vollen Tank. Vielleicht war es ja ein Hürther Fahrer. Aber als ich näher kam, erkannte ich den dunkelgrünen Renault Magnum, also war es offenbar ein spanischer Subunternehmer. Ich nahm Gas weg, damit er vor mir rein konnte. Er würde gleich hinter der Verengung trotzdem leichte Beute für mich sein.

Bis zum Nachmittag kam ich auf dem Madrider Autobahnring an und legte meine Nachtruhe ein. Am nächsten Morgen sah ich mal wieder im Morgennebel nicht die Hand vor Augen, als ich die letzte Etappe nach Sevilla startete. Bei strömendem Regen stellte ich das Chassis auf den Hof einer Truthahnzucht und ging in die Verwaltung.
 
Dann fuhr ich in mein Hotel und verbrachte das verregnete Wochenende auf meinem Zimmer. Eine Fracht von hier zu finden war aber fast unmöglich. Bis zum Mittwochmorgen war ich als dichtestes an die Heimat bis Calais gekommen. Ich hielt eine Option auf die Fracht, hatte sie aber noch nicht angenommen, als mein Handy klingelte. Nummer nicht aus meinem Adressbuch und fing mit +33674 an.


Spontan dachte ich, dass ein Franzose übers Internet meine Anzeige gelesen hatte und sich für Büro- oder Hallenmiete einer Außenstelle interessierte. Immerhin hatten die Woche über schon einige Interessenten aus der direkten und weiteren Umgebung angerufen.
Allerdings kam dann doch alles anders, als ich mich meldete: „Kaiser Transporte, Ricky Kaiser?“ „Julian Franke, erinnerst Du Dich noch an mich?“ „Ja, klar.“ „Tut mir leid, dass ich Dich anrufe, aber jetzt merke ich erst, wie wenige Leute ich überhaupt kenne und von wie wenigen dann auch noch eine Telefonnummer habe.“
Er hörte sich ziemlich niedergeschlagen an. „Was ist denn los?“ „Wir sind im wahrsten Sinne des Wortes abgebrannt. Ich sitze in Cordoba fest, Marlon liegt hier im Krankenhaus.“ „Und wo komme ich da ins Spiel?“ Dass ich in der Nähe war, konnte er unmöglich wissen. Und wir kannten uns ja kaum, also hatte ich keine Ahnung, was sein Plan war. „Ich weiß, dass ich gerade echt dreist bin. Aber ich habe keinen Bock auf alleine in Montpellier herumhängen, darauf zu warten, dass Marlon dazu kommt oder mir die Decke vorher auf den Kopf gefallen ist. Da wollte ich fragen, ob ich nach Düsseldorf oder Köln fliegen darf und mich bei Dir einquartieren, um von da den Ruhrpott ein Bisschen unsicher zu machen. Ich hab einfach mal wieder Bock auf Glühwein, Champignons mit Knoblauchrahm und gebrannte Mandeln statt Weißwein, Garnelen und Eisbecher zu Weihnachten.“
Dreist war er, das musste man ihm lassen. Aber er hatte auf mich damals bei der Rast einen netten Eindruck gemacht und ich wollte es mal auf einen Versuch ankommen lassen: „Okay, aber das Ticket kannst Du Dir sparen. Ich hole Dich in 3 Stunden ab.“ „Wie? Was?“ „Ich sitze gerade in Sevilla, hatte Wochenruhe und suche eine Anschlussfracht, komme aber als dichtestes bis Calais. Mal in Cordoba zu schauen ist mir Trottel nicht in den Sinn gekommen und da sehe ich gerade eine Ladung nach Bochum.“ Kamen wir nun gar nicht miteinander aus, konnte ich ihn so immer noch unterwegs in Montpellier rausschmeißen.
Nach nicht ganz den gesagten 3 Stunden hatte ich aus dem Hotel ausgecheckt, war nach Cordoba gefahren und stand im Regen nur noch eine Straßenseite entfernt von dem besagten Krankenhaus.

Ich fragte mich am Empfang zu Marlons Zimmer durch und bekam durch die einen Spalt offen stehende Tür mehr mit als vorgesehen: „Ich schlage mich schon irgendwie wieder mit der Fahrerei durch, kann ja auch nix anderes. Aber Du solltest Dir besser eine Ausbildung suchen und einen Job lernen, mit dem Du Dich nicht jeden Abend fragen musst, ob Du morgen satt wirst.“ „Ich bin mittlerweile 21! Hör mal auf, mich dauernd zu behandeln wie ein kleines Kind!“
Bevor ich noch mehr mitbekam, was ich nicht mitbekommen sollte, klopfte ich an die Tür und trat ein. Marlons Empfang war ungefähr so nasskalt wie das Wetter: „Was willst Du denn hier?“ „Mich abholen!“ Julian ersparte mir, jegliche Antwort geben zu müssen. „Ich fahre mit nach Bochum und schaue mal, wo ich da Weihnachten gefeiert bekomme, anstatt mir in Montpellier die Decke auf den Kopf fallen zu lassen.“
„Aber Tante Joséphine…“ „Tante Joséphine hat sich, falls Du es in all den Jahren noch nicht gemerkt haben solltest, seit wir bei ihr wohnen, bis zum zweiten Feiertag nicht um uns geschert, weil der Rest der Familie uns nicht sehen will! Soll sie dieses Jahr eben bis Silvester warten!“ Marlon wurde von den Attacken seines Bruders immer kleiner in seinem Bett. Ich stand unbeteiligt und peinlich berührt daneben.
„Du kannst doch nicht einfach und ungefragt Ricky zur Last fallen.“
Das schien mir wie ein letztes Aufbäumen, die Hoffnung, ich würde ihm zustimmen. „Ich falle ja auch gefragt zur Last. Und wenn ich erst mal in Bochum bin, komme ich erst recht irgendwie klar ohne Babysitter.“ „Dann mach doch, was Du willst.“ Marlon zog sich eingeschnappt die Decke über den Kopf und wir schlichen aus dem Zimmer.
Zuerst einmal gingen wir auf einen Happen in die Kantine für Patienten und Besucher, dort entschuldigte er sich für den Auftritt: „Tut mir leid, dass Du das alles mitbekommen musstest. Wir haben uns eigentlich noch nie wirklich gestritten, aber heute hat es mir einfach gereicht.“ „Schon gut, das ist Eure Familienangelegenheit. Was ist eigentlich passiert?“ „Ich wollte gestern Nachmittag an einer Ampel anfahren und da gab es nur noch einen lauten Knall und einen Feuerball im Beifahrerspiegel von hinter der Kabine. Vermutlich hat es den Turbo zerrissen und irgendein Teil hat was von unserem Orientfahrer-Gaskocher getroffen. Marlon wollte löschen, aber der Wind stand falsch für die Seite vom Lastzug und er hat etwas von dem Pulver eingeatmet. Er soll aber spätestens am 24. wieder aus dem Krankenhaus kommen. Unser Truck ist völlig ausgebrannt, MSC hat einen 20er Container weniger und einige hundert Belgier werden ihren Weihnachtsbraten nicht in Olivenöl anbraten können.“


Nach kurzer Fahrt waren wir bei ENI angekommen und ich fuhr die Zugmaschine vor den Trailer, auf dem der Tanktainer mit Kaliumkörnern in Sperrflüssigkeit gegen Sauerstoff und Feuchtigkeit stand. Julian sprang aus der Kabine: „Ich hole mal die Papiere, okay?“ Ich nickte und fing an, unter den Trailer zu fahren. Als ich alle Verbindungen fertig hatte und an die Lichtprüfung gehen wollte, kam Julian schon wieder und schoss dabei ein Foto vom Truck.

Er stellte sich hinter für den Lichttest den Zug und gab mir Zeichen, dass alle Lampen funktionierten. Dann kletterte er wieder in die Kabine. Ich sah mir kurz die Frachtpapiere durch, es war alles in Ordnung. Nur zwei Ampeln weiter gesellte sich zum Grummeln des Cursor 10 unter mir und dem Prasseln des Regens über und vor mir noch ein gleichmäßiges Atmen neben mir, Julian war eingeschlafen.
Immerhin hörte noch deutlich vor Madrid das Prasseln auf und die Sonne ging im Kampf der Wetterlagen mal wieder in Führung.

 
Vor dem Autobahndreieck auf den Ring um Madrid zog ein PKW-Fahrer in letzter Sekunde auf die Richtung Süden abbiegende Spur und so legte ein Kollege in einem solo fahrenden MAN eine Vollbremsung hin und zwang mich dazu, es ihm gleich zu tun. Julians Kopf flog nach vorne und er war wach. „Tut mir leid, aber der Schuldige hat den MAN geschnitten!“ Ich zeigte auf den TGX besorgniserregend dicht vor uns.

„Schon gut. Ringstraße Madrid?“ „Ja. Ich muss aber auf der nächsten Raststätte eine Pause machen. Dann haben wir noch 2 Stunden bis meine Zeit rum ist.“ „Noch eine freche Frage, darf ich weiter fahren? Dann haben wir noch Zeit bis Deine 13 Stunden zwischen zwei Ruhezeiten um sind.“ „Der LKW ist nur auf mich versichert und das da hinten ist Gefahrgut.“ „ADR hab ich, Alkalimetalle musst Du hier öfter fahren. Aber das mit der Versicherung leuchtet mir ein. Dachte nur, wenn wir zu zweit fahren, sind wir zwei Tage früher da.“ Ich sah ihn erstaunt an, mit den entsprechenden Regeln hatte ich mich nur mal irgendwann so weit beschäftigt, wie ich sie kennen musste, um die Prüfung zu bestehen. „Du darfst am Tag 9 bis 10 Stunden fahren. Die Strecke sind etwas über 30 Stunden, also fährst Du in der Praxis dreieinhalb Tage. Wenn ich auch fahre, schaffen wir 18 bis 20 Stunden am Tag mit 11 Stunden dazwischen, also die ganze Strecke optimal in unter zwei Tagen.“

Seine Rechnung hatte was für sich, also wählte ich mal schnell Dennis Nummer, mit dem war ich inzwischen auf Du. „Volksbank Bochum-Witten, Sie sprechen mit Dennis Seiler.“ „Hallo Dennis, mach den Schlips locker. Ricky hier.“ „Hallo Ricky. Was kann ich für Dich tun.“ „Was kostet mich der Spaß, meinen LKW für jeden Fahrer zu versichern?“ „Was heißt jeden? Nicht angestellt?“ „Jain – einen Arbeitsvertrag auf der sprichwörtlichen Imbiss-Serviette werde ich schreiben müssen, sonst ist es Schwarzarbeit.“ „Wie alt und wie lange fährt der andere Fahrer?“ „Julian?“ „21 Jahre und seit 4 Monaten.“
Kurz danach hatte Dennis die Rechnung fertig, Julian zuckte zusammen, als er den Wert hörte. Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt, auch wenn es kein Pappenstiel war. „Ich rufe Dich gleich noch mal an. Wenn wir das ändern, darf er dann sofort fahren?“ „Ja. Kriegst es zwar erst in ein paar Tagen schriftlich, aber die Änderung gilt ab sofort.“
„Du musst das nicht für mich machen. Fahren würde mich zwar auf andere Gedanken bringen, aber Du machst schon so viel für mich, da musst Du nicht noch Deine Versicherungskosten für mich hochtreiben.“ „Zeig mal der Ordnung halber Deine Papiere.“ Er reichte mir Führerschein und ADR-Bescheinigung, wollte gleichzeitig Luft holen, um noch mal zu betonen, dass ich das nicht machen musste. Aber ich hatte schon gewählt, während die ersten Schilder für den Rastplatz vorbeizogen. „Hallo Dennis. Setz bitte die Versicherung rauf für alle Fahrer.“ „Okay, ist drin.“

Spanien war auch ein Tankparadies, der Liter zu je 1,10 Euro floss Diesel in den Tank, während ich auf dem Laptop schnell einen Arbeitsvertrag herunterlud, anpasste und auf meinem kleinen, tragbaren Drucker ausdruckte.
Als ich vom Bezahlen kam, stieg ich ungewohnt auf der Beifahrerseite ein, Julian kletterte auf den Fahrersitz und ich gab ihm den Schlüssel, er mir den unterschriebenen Vertrag.

Er schob seine Fahrerkarte in den Slot, während er sich den Sitz einstellte. Julian fuhr vorsichtig los, aber schon nach kurzer Zeit wurde er sicher und tastete sich an den Begrenzer, der in er EU bei 90 war, was in Spanien und Frankreich auch das Tempolimit auf der Autobahn war. Es kam mir nicht so vor, als hätte er den Schein erst seit ein paar Monaten, aber ich hatte seine Papiere ja eben gesehen.

Wir sprachen ein Bisschen darüber, was er denn in Deutschland vorhatte. Mehr und mehr hörte ich raus, dass er eigentlich gar keinen Plan hatte, aber einfach los ziehen wollte. Meiner sah eigentlich vor, wie immer zu meinen Eltern und meiner Schwester mit ihrer Familie ins Sauerland zu fahren, aber den warf ich schnell über Bord: „Bleib doch über die Feiertage bei mir.“ „In der engen Bude? Außerdem, hast Du keine Familie?“ „Dann fahre ich später zu denen. Und mein Containerdorf steht zwar noch, aber ist leer. Seit 3 Wochen habe ich eine neue Halle mit Gebäude dran, nachdem Einbrecher mir die alte Wellblechbaracke leer geräumt haben. Da ist auch eine vernünftige Wohnung drin. Für einen alleine fast schon zu groß. Ich kriege Dich schon ein paar Tage unter.“

So kamen wir noch bis hinter Zaragoza und Julian stellte den Lastzug auf einem Rastplatz ab. Auch wenn mehr gegangen wäre, wollten wir es dabei belassen. Wir gingen rüber zum Abendessen und danach machte ich Julian die obere Liege fertig.

Ich konnte die Nacht nicht so gut schlafen, was wohl daran lag, dass ich noch nie mit zwei Personen in einem Fahrerhaus übernachtet hatte. Immerhin war der Regen auf dem Weg zu Dusche und Frühstück im Rasthaus so erfrischend, dass man mir das hoffentlich nicht allzu sehr ansah. Auf jeden Fall fühlte ich mich gar nicht so müde wie erwartet, als wir zum Truck zurückgingen.

Julian fuhr und ich nickte doch noch einmal ein. Als ich wieder aufwachte, sah ich die Landesflaggen von Spanien und Frankreich an Masten. Wir waren an der Grenze und Julian hatte seine Viereinhalb Stunden um.
Nach einem kurzen Snack tauschten wir die Plätze und ich fuhr weiter. Julian wurde immer schweigsamer, umso kleiner die Zahlen neben Montpellier auf den Kilometertafeln wurden. Als ich an der Mautstation vor seiner Heimatstadt bezahlt hatte, sagte er endlich: „Das war sonst immer unsere Heimatstation. Von hier noch ein paar Kilometer und wir hatten mal wieder ein Zuhause mit richtigem Bett und richtiger Dusche. Wenn der alte Mann in der Mautbox gesessen hat, hat er sich immer über unseren Truck gefreut, weil er die sonst kaum noch im Fernverkehr gesehen hat. Ich kann kaum glauben, dass es damit für immer vorbei ist. So ein Truck wächst einem in den Jahren doch ans Herz.“

Danach starrte er aus dem Fenster, wie die Stadt an uns vorbeizog. Hinter der Stadt zog ich auf einen Rastplatz und wir tranken einen Kaffee. Brauchbaren Tee erwartete ich hier nicht, also auch für mich das wenig geliebte Zeug aus gemahlenen Bohnen. Als Café au Lait mit Zucker wurde dieses Gesöff langsam erträglich für mich.

Julian wollte nicht weiter fahren, obwohl er dran gewesen wäre und so hatten wir 45 Minuten Pause gemacht, damit das ging. Aber nun, wo Montpellier hinter uns lag, war er gelöst und erzählte mir auf der Fahrt sein Leben. Es war eine heftige Geschichte und es wirkte so, als wollte er schon immer mal jemandem sein Herz ausschütten, der mit der Sache direkt nichts zu tun hatte. Nun war ich der Jemand, für zwei Tage zusammen in einem Fahrerhaus eingepfercht und trotz der 13 Jahre Altersunterschied kamen wir bestens miteinander klar:
„Wir sind anfangs in Essen aufgewachsen, unser Vater Deutscher und unsere Mutter Französin. Es war nie toll zu Hause, jeder hat sich mit jedem gestritten, nur wir zwei Jungs haben zueinander gehalten. Als Marlon 15 und ich 7 waren, hat sich unsere Mutter umgebracht.
Unser Vater ist daraufhin abgehauen und lebt seitdem irgendwo in Asien. Thailand, Singapur, frag mich nicht. Er hat sich sowieso nie wieder gemeldet. Die nächste Verwandte war unsere Tante und so sind wir nach Frankreich gekommen.
Marlon musste noch zwei Jahre Schule nachholen, bis er den französischen Abschluss hinbekommen hat, danach hat er den LKW-Schein gemacht und ist erst mit Siebeneinhalbtonnern für einen Getränkehandel gefahren. Mit 21 dann kam der Schein für die großen Trucks und der alte, aber damals noch ganz gute Renault war sein Traum. Es hätte vermutlich jede andere Marke sein können, aber ein eigener, gut gepflegter Truck, den er sich von seinem bescheidenen Geld leisten konnte.
2008 kamen aber mehr und mehr Forderungen gegen unsere Eltern, die sich vollkommen überschuldet hatten. Das Haus in Essen, das unsere Tante auch verwaltete, ließ sich nicht mehr vermieten, weil es zu groß und teuer geworden war in der aufziehenden Krise und wurde weit unter Wert zwangsversteigert. Bisher hatten die Mieten die Forderungen gedeckt. Sie hatte zwar das Haus für uns gut verwaltet, aber für uns zahlen wollte unsere Tante nicht. Unser Vater war nicht zu greifen, aber mit einer Menge Geld damals durchgebrannt. Also kamen die Forderungen bei uns an. Sie ließen Marlon den Truck, weil er wohl nicht genug einbringen würde, aber er fuhr ab dann nur noch für die Bank.
Als ich die Schule fertig hatte, bin ich einfach zu ihm in den LKW gezogen. In Afrika hat er mir gleich Fahren beigebracht, da interessiert das eh keinen. Ich habe also 5 Jahre Fahrpraxis.“
Hatte ich gestern doch richtig gelegen.
„Zu zweit in Afrika waren wir viel effektiver und konnten so wenigstens die Schulden abstottern. Die letzte Rate für die Schulden unserer Eltern ist jetzt Anfang Dezember raus, der Truck gehörte uns seit Oktober. Und pünktlich zu diesem Erfolg brennt die Karre wegen dem Wartungsrückstand ab und wir haben nichts mehr. Dazu haben wir nun auch noch den ersten Streit untereinander. Dein Lebenslauf ist wohl ruhiger?“

„Wenn Du in 14 Jahren dreimal den Job verloren, einen für die Liebe selber aufgegeben und diese im Prinzip auf einem Seitensprung bestehende Beziehung später wegen des Truckerjobs zerbrochen ruhig nennst, dann ja. Und chronisch keine Kohle hab ich auch. Die Schulden haben aber wenigstens eine eigene Immobilie und diesen Truck als Gegenwert.“
Ich plauderte nun aus meinem Leben quer durch Sauerland, Hessenland, Britenland, Rheinland und Westfalenland, bis wir kurz vor Lyon auf einem Rastplatz die Tagesetappe beendeten. Wir waren nun jeweils immer einer einen volle und der andere eine halbe Lenkzeit gefahren.

Am nächsten Morgen schafften wir es gerade noch vom Rasthaus zurück in die Kabine, bevor der Regen einsetzte. Ich fuhr ereignislos durch bis zwischen Dijon und Metz, wo Julian nach kurzer Rast übernahm.
Der Regen ließ uns dann ab Reims zum Glück in Ruhe. Unseren letzten Fahrerwechsel machten wir an einer Tankstelle in Luxemburg. Zwar war noch knapp über die Hälfte drin, aber wer diese Preise nicht mitnahm, war wirklich schuld.

Ich fuhr die letzte Etappe und merkte, dass Julian wieder schweigsamer und angespannter wurde, als wir durch Essen kurvten.

Inzwischen lief Chris Reas „Driving Home for Christmas“, ein Lied, bei dem ich auch immer etwas melancholisch wurde. Insbesondere in der ländlichen Westspitze von Wales, wo Weihnachten noch bewusster gefeiert wurde, als in Deutschland, war es immer wieder ein Erlebnis, wenn ich mit meinem ERF durch Dörfer und Kleinstädte fuhr, mit etwas Glück sogar Schnee auf den Hügeln lag und Weihnachtsbäume in Gärten, Wohnzimmern und auf Plätzen leuchteten. Dazu dieses Lied auf der letzten Tour Richtung Heimat, dort wartete mein Freund Luke. Es war damals alles so perfekt, es war mir gestern erst wieder klar geworden, als ich es Julian erzählt hatte, was ich da vor inzwischen über 5 Jahren verbockt hatte.

Es war schon dunkel, als wir vor Linde ankamen. „Parkst Du ein? Dann gehe ich aufs Büro. Hier kennen sie mich alle. Wenn Du kommst, gibt das nur verwirrte Gesichter und unnötige Fragen.“ Julian rangierte den Trailer mit dem Einweiser von Linde auf die zugewiesene Position und ich machte den Papierkram im Gebäude klar.

Nun waren es nur noch ein paar Minuten bis nach Hause. Ich stellte den Truck in die Halle und wir gingen durch die Verbindungstür ins Bürogebäude und die zwei Treppen rauf in meine Wohnung.


Wieder einmal ein Kapitel, wo man die sachlichen Schnitzer von damals nur mühsam ausbügeln kann. Dieses Kapitel basiert auf zwei der letzten Originalkapitel aus meinem Premierenjahr 2013.

Und bei der einen oder anderen unsinnigen Route wurde mir auch erst wieder bewusst, wie einfach das Straßennetz damals war. Bis auf das Ruhrgebiet, dessen in der ersten Fassung auch recht kompromissbeladene Umsetzung die Herzensangelegenheit eines der Erbauer gewesen war, entsprach die TSM weitgehend der originalen und damals reichlich lückenhaften Map von SCS, beschränkte sich ansonsten auf das Erweitern des Kartengebiets ums Mittelmeer und nach Dänemark.
Und von Madrid gab es seinerzeit nach Deutschland auch als einziges den Weg über Zaragozza, Barcelona und Montpellier auf die originale Karte nach Lyon.
Die viel sinnvollere und realistischere Strecke über Burgos, Bordeaux und Orleans auf die originale Karte nach Paris, die später mal eine Art persönliche Rennstrecke für mich werden sollte, kam erst bei einem großen Kartenupdate im folgenden Jahr.
Und hier fehlte auch noch der Late Autumn Wettermod. Entweder die Bäume hatten teils grüne und bunte Blätter oder es lag Schnee. Das erklärt das schlechte Wetter, wir haben uns damals beholfen, den Regler für den Regen weiter nach rechts zu schieben, damit der Frühherbst nicht so auffällt.

2 Kommentare zu „Kapitel 7 – Driving Home for Christmas

  1. Schönes Kapitel. Ja, die Karte war damals noch sehr einfach gehalten. Aber das hat sich ja nach und nach angepasst.
    Übrigens, mein Bruder hat den gleichen Horror vor einem Song von Wham wie du. Mir selbst geht das inzwischen eher bei dem Song zum Titel so.

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