Kapitel 57 – Alleine zu zweit

Samstag, 31.10.2020

Auch wenn Halloween eigentlich ein irisches Fest war, hatte es in meiner Familie nie eine nennenswerte Rolle gespielt. Das Gebot, vegetarisch zu essen, war beachtet worden, aber Verkleidungspartys und so hatte es nie gegeben, weil das heidnische Bräuche waren. Für meine Eltern schien Irland vom Heiligen Patrick nicht missioniert sondern sogar bevölkert worden zu sein. Wer waren schon die Kelten, die da vorher wohnten?
Obwohl Kyle nichts mit Irland am Hut hatte und englischer Abstammung mit einem Schuss White Latino war, schien das für ihn anders zu sein. Die Wohnung und der Balkon waren jedenfalls mit Kürbissen, Hexen und Gespenstern geschmückt. Wir ließen uns draußen zwischen der Gruseldeko nieder und verbrachten den bereits angebrochenen Nachmittag bei allerlei Erzählungen, was wir seit der Trennung unserer Philly-WG schon alles erlebt hatten. Dazu gab es anfangs noch Cola, mit sinkender Sonne stiegen wir auf Bier um und gingen lieber mal rein, als es auch mit Jacke zu frisch wurde draußen und so hoch überm Boden.

Dafür war ihm – mir im Gegensatz zu meiner Mutter auch – das mit dem Fleisch egal. Traditionell war der „All Hallows‘ Eve“, wie der Tag original mal hieß, wie Karfreitag auch, ein Fastentag, an dem es kein Fleisch geben sollte. Immerhin war es, wie man am alten Namen besser erkennen konnte als am neuen, der Tag vor Allerheiligen, einem hohen kirchlichen Feiertag. Und beim Essen war ich dann auch sehr überrascht. Derjenige, der als 19-jähriger nicht mal Kochbeutelreis unfallfrei hinbekommen hatte, servierte eine Pie mit Kürbis-Rindfleisch-Füllung und hinterher Vanillepudding mit Beerenkompott und definitiv nicht aus einer Flasche in den Krug umgefüllten Schokosoße. Dann bestand ja auch noch Hoffnung für Evan und seine Angst vor dem Kochlöffel.
„Sehr gut. Ich sollte mich öfter bei Dir einladen.“ „Danke. Wenn Du wieder mal in den Twin Cities bist, melde Dich einfach. Ich habe ja doch mal nach meinem Umzug hier rauf kochen lernen müssen und dann die Arbeitslosigkeit im Lockdown genutzt, um ein paar Online-Kochkurse durchzuarbeiten und besseres als nur so Sachen wie Bolognese oder Hähnchencurry hinzubekommen. Damals in Philly war ich ja immer der, der anstatt zu kochen im Interesse der allgemeinen Sicherheit lieber Pizza bestellt hat.“ „Die Mühe hat sich auf jeden Fall gelohnt.“ „Bis zu Tristan und Dir ist es aber noch ein weiter Weg.“ „Auch ein weiter Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Chinesisches Sprichwort. Und das waren schon ein paar mehr Schritte als nur der erste.“

Je später der Abend, umso dümmer die Ideen, wobei Kyle es auf einen Rückfall in die Kindheit beschränkte. Da ich ja nie „so einen heidnischen Unsinn“ an Halloween machen durfte, war mir „Apple Bobbing“ sogar neu. Er stellte eine Waschwanne mit Wasser auf den Boden und warf einen Apfel hinein. Aufgabe war es nun vor der Wanne knieend den Apfel mit den Zähnen aus dem Wasser zu angeln. Da wir nur zu zweit und mit einer Wanne waren, ging es also gegen die Uhr, wer von uns schneller war.
Am Ende hieß der lachende und in seine Kindheit zurückversetzte Sieger Kyle, während ich zwar auch über das Spektakel lachte, aber mit dem bitteren Beigeschmack, mal wieder zu merken, was ich in meiner Kindheit und Jugend so alles an Spaß verpasst hatte und nun in meinen 20ern nachholen durfte.


Sonntag, 01.11.2020

Vom Wetter hatten wir großes Glück. Um diese Zeit konnte es hier auch schon schneien. Okay, die Temperaturen waren verglichen zu den über 50°F von gestern deutlich frischer und nur noch knapp über dem Gefrierpunkt. Also könnte es das theoretisch auch heute, aber der Morgen war sonnig. Weil Kyle auch Skater war, fuhren wir nach dem Frühstück direkt mit dem Auto los in den Grünstreifen um die Doppelstadt und drehten eine gemütliche 7-Meilen-Runde auf Inlinern um Lake Callhoun und Lake Harriet.

Zurück in der Wohnung blieb uns dann nur, den aufziehenden Wolken zuzusehen. Auch wenn dieser Betonklotz von seiner Klientel betrachtet durchaus etwas war, wo man weg wollte, musste ich zugeben, dass Kyle diesen Ausblick mal vermissen könnte.
Nach ein paar Sandwiches zum Mittag und einer Runde Kartenspiele machten wir uns gemeinsam an die Zubereitung des Abendessens. Und so endete der Tag wieder kulinarisch.


Montag, 02.11.2020

Nach einem frühen Frühstück fuhr Kyle mich zurück zu meinem Arbeitsgerät und machte sich dann auf den Weg zu seiner Arbeit. Es war ein sehr schönes Wiedersehen gewesen. Für das Wetter an diesem Morgen galt das eher nicht. Frühnebel lag über der Stadt. Ich machte die PTI und war abfahrbereit. Neue Staaten oder Provinzen würde es nicht geben, es ging den gleichen Weg zurück wie ich gekommen war und nur die letzten Meilen in Kansas nach Emporia waren neu.

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Das Außenlager von Walmart war im Westen von Minneapolis, also durfte ich aus dem Süden von St. Paul einmal um den halben Großraum kurven. So war dann schon die erste Stunde Lenkzeit dahin, ohne bisher mehr als Kosten erzeugt zu haben. Ich bekam an der Einfahrt Rampe 2 zugewiesen und rangierte in Position. Mit einer leeren 1 und einem Single Pup an 3 war das eine Aufwärmübung für den Wochenstart.

Es stand so einiges bereit zur Abholung und ich staunte nicht schlecht, als dafür ein Daycab Kenworth T800 von Ryan Construction ankam. Andererseits wusste ich natürlich auch, dass November bis Februar, hier oben auch je nach Wetter noch Oktober und März dazu, für die Baubranche erledigt waren. Warum dann nicht ziehende Einheiten als Subunternehmer in wetterunabhängigen Branchen einsetzen? Gerade November bis Januar waren mit den großen Fressgelagen zu Thanksgiving, dem anschließenden Black Friday als Einleitung ins Weihnachtsgeschäft, dem wieder sehr nahrhaften Weihnachtsfest und nach den Feiertagen das Einlösen von Gutscheinen und Verprassen von Geldgeschenken im Einzelhandel die Zeit, wo alles fahren musste, was Räder hatte.
Ich war zwar für CAT nie in Minnesota gewesen, aber wer mal mit Baumaschinen zu tun hatte, kannte Ryan Construction. Der Staat war dem größten Bauunternehmen in der Nordhälfte des Mittleren Westens schon lange zu klein geworden. Mehr als einmal hatte ich damals einen Auftrag auf eine Baustelle in Wisconsin, Michigan oder Illinois zu fahren, wo Ryan Construction die ausführende Bauleitung hatte.

Bis ich beladen war und meine Papiere hatte, war es 9 AM. Ich machte mich auf den Weg durch nichtssagende Landschaft. Die Sonne kämpfte sich langsam durch, aber auch als ich am Mittag Des Moines passierte, war es noch teilweise bedeckt.

Für die Mittagspause steuerte ich das Pilot Travel Center in Osceola IA an, in der Hoffnung, dort nicht wieder ein Subway vorzufinden. Im Pilot Travel Center war auch kein Subway, da war gar kein Restaurant. Die Subway-Filiale war dafür nebenan in der Greyhound Busstation. Sandwich konnte ich auch aus dem Kühlschrank, also verließ ich den Truck nur für die Toilette und ein paar Übungssprünge auf dem relativ leeren Parkplatz, ernährte mich aber aus dem Vorrat.

Anschließend ging es weiter nach Süden, um Kansas City und auf die I-70 West. Die I-35 war zwischen Kansas City und Ottawa (KS) gesperrt, also musste ich bis Topeka auf der I-70 bleiben und dann die I-335 nehmen.
Über den Abend konnte sich Brian mal freuen, denn ich fuhr zur Topeka Service Area und musste auch tanken. Die Tankstelle hier war eine Phillips 66, weshalb die besser rabattierte Conoco-Karte zum Einsatz kommen konnte.
Die Dusche war sauber, leider musste ich aber natürlich den vollen Preis bezahlen. Ein Vorteil war, dass es hier endlich mal kein Subway als Monopolisten-Futterverkäufer gab. Aus der vorhandenen Auswahl entschied ich mich mal für Taco Bell.

Bis Emporia hatte die Sonne es dann aber doch geschafft, einige Löcher in die Wolkendecke zu brennen. Es gab schon vor dem Ziel ein Signal aus dem Tablet, also sah ich mir an der roten Ampel mal an, was wir da hatten.

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Also auf nach New Mexico. Das Navi wünschte, dass ich nicht zur I-35 zurück fuhr sondern die KS-99 nach Süden nahm. Vielleicht war ein Unfall passiert und die Strecke gesperrt. So was hinterfragte man besser erst gar nicht. Wer sich für schlauer hielt als die Stauumfahrung vom Navi, sollte als erstes die Stauumfahrung deaktivieren. Erst auf der US-400 wurde ich wieder nach Westen geschickt, um am Rand von Wichita (KS) wieder die I-35 zu erreichen.
Am Mittag wollte ich dann mal direkt hinter der Grenze nach Oklahoma sündigen. Es war mit 69°F und weiter im Süden auch Anfang November spätsommerlich warm. Bei Braum’s Ice Cream in Blackwell (OK) hielt ich an, um das Wetter bei einem Banana Split zu genießen.

Nach der Weiterfahrt stellte ich fest, dass es nicht nur Medford (OR) gab, sondern auch Medford (OK).

Kurz nach 4 PM wechselte die Fahrtrichtung in Oklahoma City von Süd auf der I-35 mit der I-40 wieder nach Westen. Der Ritt in den Sonnenuntergang wurde in Shamrock (TX) am Point of Entry kurz unterbrochen. Ich war schwer beladen, bei 79,853 jetzt war ich dann wohl direkt beim Losfahren mit fast vollen Tanks heute Vormittag sogar überladen. Das bedeutete, die Dieselpreise in Texas nicht mitnehmen zu können. Immerhin wurde ich nicht rausgezogen zur Intensivkontrolle.

Noch während der Fahrt wurden die voraussichtlichen Sieger der ersten Staaten im Osten ausgerufen. Mit Arkansas „Calling for Trump“ auf der Ausfahrt von der Interstate in Amarillo (TX) parkte ich mein Gefährt beim Stand 85 zu 61 Wahlmännern für Biden ein. Der Auftakt der Auszählung war also schon mal nicht schlecht.

Der Tag war am Flying J vorbei. Hier gab es eine kleine Sporteinheit auf dem Parkplatz. Bevor ich in den Truck Stop ging, sah ich schnell noch mal nach der Auszählung, es waren weitere Staaten dazu gekommen, aber Biden führte weiter mit 119 zu 94 Wahlmännern. Das könnte eine spannende Nacht werden, wenn ich denn die Chance hätte, ihrem Verlauf zu folgen.
Nun nahm ich erst mal eine Dusche im Travel Center und anschließend Abendessen. Denn endlich mal übernahm die Verpflegung nicht Subway, sondern ein Denny’s. Das hieß gute Burger, denn Denny’s war keine Fastfoodkette sondern ein richtiges Burgerrestaurant. Und es gab mit der Pilot Flying-J Kundenkarte auch noch Rabatt dazu.
Während ich im Restaurant saß, wurden auf dem Fernseher in der Ecke die weiteren Resultate angezeigt. Trump hatte keine Überraschungen bisher geschafft, dass New Mexico, Colorado, Virginia und der Nebraska 2nd District an Biden gegangen waren, konnte man als teils kleine, teils auch etwas größere werten.

Der erste größere Brocken war Kalifornien und ging erwartungsgemäß an Biden. Mit dem scheinbar komfortablen Vorsprung von 210 zu 119 für meinen Parteikameraden ging ich ins Bett. Aber es konnte noch eine Menge passieren, denn mit Texas, Florida, Georgia und dem Rust Belt waren einige Swing States und deutlich Trump Leaning States noch offen, die alles umkehren konnten. Die sicheren Biden States waren dagegen jetzt bis auf die Randnotiz namens Hawaii mit seinen vier Wahlmännern soweit abgefrühstückt und für uns Demokraten kam es nun auf die Swing States an.


Mittwoch, 04.11.2020

Ich wurde auch ohne neuen Präsidenten wach. Zu viele Staaten waren noch „too close to call“. Arizona war im Laufe der Nacht etwas überraschend an Biden gegangen, von den offenen Swing States immerhin Minnesota. Dafür hatte Trump Ohio und Florida von den Swing States geholt, dazu das relativ sichere Texas. Dass das demokratisch wählen könnte, war ein frommer Wunsch gewesen aber keine ernsthafte Möglichkeit.
Es blieben noch 7 Staaten offen, von denen Trump mit Alaska rechnen konnte, Biden mit keinem, auch wenn Nevada nicht schlecht aussah, der Rest war zu knapp. 238 zu 213 Wahlmänner führten wir noch. In unserer ich sage mal zuletzt etwas angespannten Freundesgruppe auf WhatsApp herrschte Funkstille.
Die Gerüchte, dass der US Postal Service eine etwas holprige Performance hingelegt hatte, schien sich leider auch zu verfestigen, denn es waren angeblich bis zu 300,000 Wahlbriefe zwar an den Aufgabepostämtern eingescannt, aber noch nicht abgeliefert worden. Allerdings gab es auch noch Staaten, die bis zum Wochenende eingehende Briefwahlstimmen akzeptierten, wenn sie spätestens heute eingeworfen worden waren.

Wieder gegen 7 AM CST, wie schon die beiden Tage zuvor, machte ich mich an die Arbeit, nachdem ich bei Denny’s gefrühstückt hatte. Um 7:12 war die PTI vorbei und ich fuhr los. Nicht weit hinter Amarillo kam mir parallel zur US-60 der Zug der Woche entgegen, heute mal als Schattenspiel gegen die einsetzende Morgendämmerung.

Es war ja nicht mehr allzu weit, auch wenn die Ankunftszeit 7:56 etwas beschönigend war. 1:44 Stunden hatte es dann doch gedauert, aber Clovis (NM) lag nun mal in der Mountain Standard Time. Bei einer für industrielle Maßstäbe eher kleinen Bäckerei, die regionale aber eine Menge Verkaufsstellen betrieb, lieferte ich mein Mehl ab. In der Zwischenzeit kam der nächste Auftrag.

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Aktuell schien sich Costco mal wieder sehr stark über Sam’s Club einzudecken – oder was auch sehr beliebt war, aus dem Programm des Handelsriesen gestrichene Restposten aufzukaufen. Diesmal gab es Tor 4 am Walmart-Außenlager und die Nachbarschaft war zugestellt. Immerhin an der 3 nur ein Pup, das ließ ausreichend Platz über die linke Seite, um bequem rein zu kommen.

Gegen 10 AM war alles drauf und ich bekam die Papiere. Dann mal los. Während der Etappe vermeldete das Radio erst mal nur Maine 2nd District für Trump, das war ein einziger Wahlmann. Kurz vor meiner geplanten Rest Area kam dann aber der Call für Biden aus Wisconsin, ein wichtiger Swing State.
Apropos Joe Biden, der gab sich staatsmännisch und rief seine Anhänger zu Ruhe und Geduld auf. Eine Bitte, der ich gerne nachkam. Trump hingegen proklamierte sich im Rückstand zum Sieger und wollte die Auszählung von allen noch nicht erfassten Stimmen stoppen. Abgesehen davon, dass ihm das in Nevada auf die Füße fallen würde, weil dort, wo die Briefwähler zuerst ausgezählt wurden, derzeit er auf Biden aufholte, war es natürlich auch sonst einfach nur Käse. Die Kästen mit den Briefwahlstimmen wurden ja nicht nachts um 4 „gefunden“, sie wurden dann einfach nur aus dem Lager geholt, um nun sie auszuzählen, nachdem die Tagesstimmen durch waren.

Meine Mittagspause machte ich im Nummernchaos. Ich war auf der I-44, die Rest Area hieß Vaughn Route 66 Rest Stop, was aber noch verzeihlich war, weil die I-44 über die alte Route 66 gebaut worden war. Die nächste Stadt an der I-44 wäre Santa Rosa gewesen, während Vaughn weiter weg und obendrein gar nicht an der I-44 lag sondern an der Kreuzung von US-54, US-60 und US-285.
In der Mitte der Rest Area war eine große Freifläche, die ich für ein paar Freerunner-Übungssprünge nutzte, um meine Sünden aus Denny’s Restaurant von der Übernachtungspause abzutrainieren.

In New Mexico fing um Albuquerque nach einer Woche begrünte Tischplatte wenigstens die Landschaft wieder an und insbesondere an der US-550 reichten manchmal die Felsen bis dicht an den Highway und ließen einen sogar im großen 18-Wheeler klein wirken.

Als ich schließlich um 5:42 PM den Giant Truck Stop in Bloomfield (NM) erreichte, war es schon dunkel. Ein Restaurant gab es nicht. Also machte ich mir eine Dosensuppe warm. Im Laufe des Nachmittages hatte Biden auch Michigan gewonnen. Jetzt reichte sogar Nevada aus für den Sieg, der in greifbare Nähe gerückt war.
Die Republikaner reichten einen ganzen Briefkasten von Klagen ein. Manche sollten vermeintlich oder wirklich knappe Ergebnisse nachzählen zu lassen. Manche betrafen unzulässige Vorgänge, die die republikanischen Wahlbeobachter gemeldet hatten, von denen ich mir in einem Fahrerhaus in New Mexico kein Urteil erlauben wollte, auch wenn manches weit hergeholt wirkte oder kleinliche Formfehler sein sollten, auf die jeder Deutsche stolz wäre, waren solche Klagen doch im Normalfall deren Spezialität, um irgendetwas mit einer falschen Zuckung eines unwichtigen Körperteils eines Akteurs über eine Formalie zu Fall zu bringen. Und manche sollten gezählte Stimmen ungültig machen.  Dazu kreisten Verschwörungstheorien im Internet, dass die Zählmaschinen keine Filzstifte auswerten konnten oder solche Stimmzettel ungültig werten würden und noch einige deutlich schwachsinnigere Ideen.


Donnerstag, 05.11.2020

Heute Morgen nutzte ich als erstes die Dusche im Truck Stop, anschließend gab es im Truck eine Portion Mini Wheats. Die PTI war um 6:15 AM erledigt und es ging los. In Farmington, der nächsten größeren Stadt, konnte ich dann endlich mal in einer Parallelstraße Brian einen großen Gefallen an der Zapfsäule tun und die für die Firma beste Tankkarte ziehen.
Weder gab es neue Ergebnisse noch Änderungen im Tonfall beider Spitzenkandidaten in den Nachrichten.

Ein herrlicher Truck Stop an der US-160 war in Cortez (CO), denn er war nicht mehr in Betrieb. Den könnte man sich auch mal merken. Einziger Schönheitsfehler für eine gepflegte Exploration zur Pause war, dass auf dem Nachbargrundstück der Colorado Point of Entry mit einer Waage und damit Polizei war.

Ansonsten war die Fahrt durch den Südwestzipfel des Staates nicht sonderlich interessant und so erreichte ich gegen halb 10 Utah. Dieser Staat war inzwischen ziemlich Routine, die Landschaft aber wenigstens immer wieder sehenswert.
Die Mittagspause schaffte ich leider nicht mehr bis Price hinauszuzögern. Also steuerte ich schon etwas in Not den US191&UT123 Junction Parking Lot mitten im Nirgendwo an und bewässerte die Wüste. Wenn ich ohnehin schon mal stand, konnte ich gleich auf dem leeren Platz ein paar Übungssprünge machen und mir anschließend ein Sandwich bauen.

Die Passage der Salt Lake City Metro am Nachmittag ging glatt und so war das erste erwähnenswerte Ereignis ein mit dem Klammerbeutel gepuderter Kollege, der zwar einen Bypass an der Perry Weigh Station bekommen hatte, aber sich so spät dazu entschlossen hatte, den auch wahrzunehmen, dass er voll in die Eisen ging und sich schon über die durchgezogene Linie auf die Interstate zurückmauschelte. Ich drückte meine Unzufriedenheit mit meinen Fanfaren aus, was einen State Trooper auf die Sache aufmerksam machte. Der rief einen Kollegen und stieg in einen Streifenwagen. Wäre er einfach mit 15 mph über die Empty Lane gerollt, wäre es für alle Beteiligten besser gewesen.

Ich musste dagegen über die Waage, war mit 73,878 Pfund aber schnell wieder runter. Den Kollegen, der theoretisch gar nicht hätte anhalten müssen, überholte ich kurz danach, als er auf dem Standstreifen von den Polizisten gefilzt wurde.

Aus Mangel an befreundeten Truckstops in der Gegend steuerte ich den Miller’s RJ Fuel Stop in Tremonton (UT) an. Mit Denny’s gab es da wenigstens wieder ein befreundetes Restaurant. Immer noch hatten wir keinen neuen Präsidenten und immer noch waren 5 Staaten offen. Aber die ersten Klagen der Republikaner in diversen Staaten waren abgeschmettert. Insgesamt gefiel mir die aufgeheizte Stimmung im Lande aber gar nicht.


Freitag, 06.11.2020

Nach dem Frühstück im Truck, weil Denny’s erst um 7 AM öffnete, machte ich meine PTI und war um 6:22 AM unterwegs. Auf die Dusche hatte ich mit Blick auf die Tagesplanung verzichtet.
Es sollte noch eine Weile dauern, bis die Sonne aufgegangen war und den Dunst aufgelöst hatte. In der Zwischenzeit hatte ich den Staat gewechselt und war in Idaho. Auch die Cotterel Weigh Station lag per Bypass hinter mir.

Nach dem Zusammentreffen von I-84 und I-86 mit dem entsprechenden Westschwenk kam nun auch das Gefühl auf, auf dem Weg nach Hause zu sein. Bisher mit Kurs Südwest aus Minnesota nach New Mexico und dann auf der I-15 nach Norden war das noch nicht so sehr der Fall gewesen. Und im Gegensatz zu unserer Standardroute über Interstate 80 und State Route 140, die man irgendwann einfach leid sein musste, war ich die I-84 eher selten gefahren und erfreute mich der Abwechslung beim Blick aus dem Fenster.

Die Ankunft im Heimatstaat feierte ich fast genau gegen 12 Uhr mittags, noch nach MST, am Pilot Travel Center in Ontario (OR). Hier tankte ich voll, holte kostenlos die heute Morgen übersprungene Dusche nach und nahm mir auf den Weg über den Parkplatz noch ein belegtes Brötchen mit.

Politisch gab es seriös betrachtet noch keine Veränderungen. Zwar hatten einige Medien Biden in Pennsylvania zum Sieger ausgerufen, aber es war eine Minderheit, während der Rest den Staat immer noch „too close to call“ hielt. Ein Gericht urteilte, dass Pennsylvania zwar weiter auszählen sollte, aber die Ergebnisse der nach dem Wahltag eingegangenen Briefwahlstimmen sollten separat erfasst werden. Das Wahlrecht dort erlaubte bis heute die Ankunft von Briefwahlstimmen, wie auch in einigen anderen Staaten. Georgia kündigte eine Nachzählung an, da der Vorsprung in der ersten Zählung so knapp war, dass das Wahlrecht es erforderte.

Wieder auf der Straße kam mir ein Andenken an Deutschland in den Sinn. Ein Spruch über langsames Vorankommen, den ich von Christian gelernt hatte, hieß „Stau ist nur hinten blöd. Vorne geht’s. Leider war ich hinten, vorne war bei einem STAA-Double von Conway in der als Verteiler sehr beliebten Kombination „untermotorisert und überladen.“ Der Negativrekord am Ende eines Anstiegs lag bei 14 mph.

Dass ich den Kameraden einige Meilen vor Burns nicht mehr vor mir haben musste, lag leider vor allem an der Waage, die ihn ziehen ließ und mich kontrollieren wollte. Mit 74,256 Pfund war das aber kein Problem, ich durfte sofort weiter. Den Abschnitt von Ontario nach Burns war ich aber schon in deutlich unter 4:09 Stunden gefahren.

Bei Costco kam dann während der Entladezeit der Befehl zum Einrücken als Leerfahrt.

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Mir würden noch fast 2 Stunden bleiben, aber ich entschied mich, nach nicht ganz der Hälfte die Nachtruhe einzulegen. Die Mischung aus Kramladen, Waffenhandel, Tankstelle und Imbiss in Riley (OR) galt als einer der Geheimtipps, die wir meistens passieren mussten. Mit Fahrt zur Firma, Büro, PTI und Ladestelle hatten wir hier meistens fast 9 Stunden hinter uns und die Mittagspause hatte dann wegen dringender Bedürfnisse schon in Lakeview stattgefunden. Heute steuerte ich den Laden aber mal an und das Essen war wirklich gut.


Samstag, 07.11.2020

Die Fahrt von Riley nach Hause würde knapp 6 Stunden dauern. Das war in einem Rutsch zu schaffen. Und weil ich natürlich vor allem zu meinem Alex wollte, wartete ich auch erst gar nicht, dass der Shop öffnete sondern frühstückte Mini-Wheats und war um 5:16 AM unterwegs. Es regnete, was mir eine durchweichte PTI beschert hatte.
Immerhin wurde das Wetter während der Fahrt besser. In Lakeview war es trocken, es blieb aber bedeckt. Unterwegs wurde Pennsylvania nun von fast allen Medien und Analysegruppen für Biden ausgerufen, was ihn zum Wahlsieger machten würde. Ohne besondere Vorkommnisse auf der Straße erreichte ich am späten Vormittag Medford. Mal sehen, was die Woche gebracht hatte.

WEEK START: MO:05:04 AM ±2
WEEK END: SA:11:06 PM ±0
WEEK DRIVE: 55:49 HRS
WEEK WORK: 64:50 HRS
WEEK FRAME: 5D:06H:02M
WEEK MILES: 2,734
REVENUE MILES: 2,410
PERFORMANCE: 88.1 %
WEEK PAYLOAD: 115,500
SH TON MILES: 46,083

Alex holte mich an der Firma ab, wir trafen noch Casey, der auf den Hof gefahren kam, als ich gerade mit Fahrzeugpflege und Ausräumen von Wäsche und verderblichen Lebensmitteln fertig war. Wir freuten uns mit dem verlangten Abstand über den Wahlsieg. Allerdings erzählte er auch, dass er gerade eine relativ unschöne Diskussion mit Isaac gehabt hatte, der den Sieg der Demokraten wohl noch nicht so recht annehmen wollte.

Zu meiner Überraschung fuhr Alex weder zu seiner noch zu meiner Wohnung sondern auf die Automeile in der North Central Avenue. „Was hast Du denn vor?“ „Die Versicherung hat bezahlt. Und ich komme mir langsam blöd vor, immer Dein Auto zu leihen. Mal weiter weg nach Portland oder so ist auch nicht drin.“ „Na ja, der Wagen steht doch eh dumm an der Firma rum. Und jetzt wo ich draußen war, auch am Wochenende. Ich hätte Dich auch damit nach Portland fahren lassen.“ „Ich möchte das aber nicht. Muss ja nix tolles sein, aber einen Subcompact oder Compact würde ich schon selber haben wollen. Wenn ich mal was Großes transportieren will, kann ich immer noch fragen, ob ich mir Deinen Pickup ausleihen kann.“

Die ersten Händler hatten die Auswahl zwischen „überm Preislimit“, „Verbrauchtwagen“ und „zu groß“. Einziger Kandidat, auf den das alles nicht zutraf, war ein Scion xB Microvan, der dafür in einem scheußlichen Violettmetallic lackiert war und den der Händler anpries wie das achte Weltwunder und geflissentlich ignorierte, dass wir schon zweimal versucht hatten, uns zu verabschieden, um seiner Aufdringlichkeit zu entkommen.
Nachdem wir keinen anderen Weg mehr fanden, aus seinen Fängen auszubrechen, wählte ich zwei Schritte im Hintergrund auf dem Handy das Video von Trains „50 Ways To Say Goodbye“ und schaltete an der passenden Stelle um von Kopfhörern auf Lautsprecher. Alex wusste auch sofort, was nun kam und als wir beide zu Youtube gröhlten: „She got rolled over by a crappy purple Scion!“ musste der Typ dann doch einsehen, dass zwar jeden Morgen ein Dummer aufstand, der dieses Auto kaufen würde, aber er weiter nach ihm suchen musste. Wir legten nach der halben Automeile erst einmal eine Hotdog-Pause ein, bevor wir die restlichen Händler in Angriff nahmen.

Bei Schroeder Auto schließlich wurde Alex fündig. Er umkreiste eine Ford Focus Limousine. Daneben stand noch ein Chevrolet Cruze, auch mit Stufenheck, in Amerika immer noch gegenüber den Hatchback genannten Fließ- und Steilhecks deutlich in der Überzahl. Beide hatten den gleichen Preis, beide waren Baujahr 2013, der Chevrolet etwas mehr gelaufen und dafür auch etwas besser ausgestattet, größter Unterschied war die Farbe: Ford schwarz, Chevy weiß.
Der eifrige Verkäufer ließ auch nicht lange auf sich warten und pries die Autos an. Wahrscheinlich wäre Alex vom Sachverstand her besser mit Isaac hier her gekommen, aber der war in seiner Werkstatt eingespannt und im Dauerstress. Alex Befürchtung bei der deutlichen Kurve nach oben mit den Corona-Neuinfektionen, dass die Autohändler und die Zulassungsstelle jeden Tag wieder schließen könnten, war auch nicht von der Hand zu weisen. Mit meinem Urteil des einäugigen Beraters neben dem blinden Kaufinteressenten waren beide Autos okay.
„Welchen würdest Du nehmen? Den Ford Focus?“ Mein Eindruck war, dass er den sowieso bevorzugte. „Ich hasse solche Suggestivfragen. Du kaufst ein Auto und nicht ich.“ „Sag doch, bitte.“ „Den Chevrolet, aber das ist meine ganz persönliche und keine sachliche Meinung zu genau diesen beiden Autos, die hier vor uns stehen.“ „Warum?“ „Weil ich Ford nicht leiden kann. Liegt aber nicht an den Autos, erinnert mich lediglich an meinen Herren Erzeuger.“ „Also den Chevrolet.“
Ich verdrehte genervt die Augen: „Meine Güte! Technisch sind beide nach meinem bescheidenen Urteil okay. Du sollst nicht das Auto nicht-kaufen, das ich nicht will sondern das Auto kaufen, das Du willst. Hinterher muss ich mir noch anhören, dass der Ford doch viel schöner gewesen wäre und bin dann Schuld, dass Du das falsche Auto gekauft hast, nur weil mein Vater mir damals keinen Japaner kaufen wollte sondern einen Ford aufgeschwatzt hat?“
Alex drehte sich zum Verkäufer: „Ich nehme den Cruze!“ Widerspruch war jetzt zwecklos, so gut kannte ich meinen Liebsten inzwischen. Der Preis rutschte nach ein paar Minuten großem Kampf um kleine Schritte aufeinander zu noch von den ausgezeichneten 7,995 ein gutes Stück nach unten. Alex‘ slawischer Akzent konnte in solchen Verhandlungen etwas bedrohlich klingen, auch wenn ein Autoverkäufer bestimmt zu abgebrüht war, um sich von der Aussprache seines Kunden nennenswert beeinflussen zu lassen.
Alex bezahlte und verließ das Büro mit Zündschlüsseln, Title of Ownership und seiner Ausfertigung des Kaufvertrags. Dazu hatte der Händler einen Satz Überführungskennzeichen verliehen. Wir mussten das abgemeldete Auto bei mir am Haus in der Garageneinfahrt abstellen, vor Alex Wohnung am Straßenrand wäre es ohne Versicherung zu riskant gewesen.

Während ich dann die erste Waschmaschine fertig machte, brachte er mit meinem Pickup die Kennzeichen zum Händler zurück. Es war nichts weiter vorgesehen heute und morgen. Auch wenn es noch keine neuen Auflagen vom Staat oder County gab, wurde bereits wieder von Zusammentreffen abgeraten, da die Infektionszahlen inzwischen auch hier steil nach oben gingen. Alex kam zurück und hatte eine Kuchenhaube dabei: „Ich war noch gerade zu Hause, habe vorhin einen Käsekuchen gebacken und den gerade noch geholt.“
Es war, nachdem wir auch noch einige Händler zwischen Hot-Dog-Wagen und Schroeder besucht hatten, in der Tat so langsam Zeit für Süßgebäck. Alex kannte sich in meiner Küche mittlerweile so gut aus wie in seiner eigenen und deckte den Tisch. Den Tee kochte ich, da hatte Alex seine Probleme mit, weil er zu Hause immer das Konzentrat zum Verdünnen mit Heißwasser aus dem Samowar zubereitete. Die Menge für eine trinkfertige Kanne traf er nicht immer so ganz richtig.
Dunkler Boden, Käsefüllung, dunkle Teigstücke oben drauf – das kannte ich ja, dachte ich jedenfalls. Als ich die körnige Konsistenz der Käsefüllung und ein saures prickeln auf der Zunge spürte, musste ich reichlich dumm geguckt haben. „Was ist? Schmeckt Dir der Kuchen nicht?“ „Doch, aber ich bin überrascht. Ich hatte solchen russischen Kuchen schon mal in Deutschland. Aber da ist die Füllung glatt und die Körner waren jetzt unerwartet.“
„Ja, es gibt zwei bekannte deutsche Speisen, die nur russisch heißen und über die sich Russen gerne amüsieren. Das eine sind ‚russische‘ gefüllte Eier, die außer manchmal einer Verzierung aus ein paar Körnchen Kaviar nichts, aber auch wirklich gar nichts mit Russland zu tun haben.“
Die waren in der Tat ein Klassiker deutscher Buffets, hatte ich in den 6 Monaten oft genug gesehen.
„Das zweite meinst Du gerade. Den russischen Zupfkuchen hat als solchen Begriff aber ein deutscher Backzutatenhersteller erfunden. Fairerweise ist der aber wenigstens aus dieser Korovka-Burenka abgeleitet. Die Deutschen machen ihn als Streuselkuchen und mit einer deutschen Käsekuchenfüllung. Das russische Original ist, wie Du gemerkt hast, vor allem mit Hüttenkäse und saurer Sahne gefüllt und bei uns sind der Boden und die Kleckse oben drauf Rührteig.“
„Ohne saure Sahne bist Du irgendwie nicht lebensfähig oder?“ „Ein Rezept ohne saure Sahne ist möglich, aber sinnlos.“

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