Chris war am Tor angekommen, warf noch einmal einen Blick auf den Truck. Weil er sich unbeobachtet fühlte, wischte er sich kurz mit dem Handrücken über die Augen und betrat den Bürgersteig.
„Alles in Ordnüng. ’ier ist Ihre Copie von die Papier’.“ Merci Krokant… Ich schnappte mir meinen Durchschlag der Frachtpapiere und rannte die Treppe runter. Vor Überraschung über Chris Abgang hatte ich eben nicht mal den Trailer abgesattelt, aber der Lademeister war inzwischen so freundlich, die Beine auszufahren. Ich musste nur noch die Kupplung öffnen, die Verbindungen trennen und wegfahren.
Auf der Straße sah ich über die PKW hinweg, wie Chris die Fußgängerampel benutzte, deutlich erkennbar am Riesenrucksack. Als ich die Straße runter fuhr, in die er gegangen war, hielt ich Ausschau und hätte ihn fast übersehen. Er saß zusammengesunken vor einem Haus auf der Treppe und schien verzweifelt nachzudenken, was er nun alleine in einer fremden Stadt sollte, ohne die Landessprache zu können.
Ich drückte auf die Hupe und hielt an. Im Spiegel sah ich, wie er sich den Rucksack schnappte und die 20 Meter zu mir rannte. „Na los, rein mit Dir!“ Kurz danach rollte ich auf den Hof von ENI und suchte mir meinen Trailer.
„Ich hole die Papiere. Wenn Du mit willst, musst Du auch arbeiten.“ Ich grinste ihn an. „In der Kiste rechts hinter der Kabine sind die ganzen Schilder und Halteklammern. Das System ist eigentlich selbsterklärend. Eine Klammer durch die Laschen auf der Rückseite vom Schild stecken, die Haken oben und unten in die Schnallen hinter der Stoßstange stecken und zusammendrücken bis es knackt.“
Während ich im Büro auf die Papiere wartete, kam ein Anruf mit Ländercode +44, es war Keith: „Danke für Deine unfreiwillige Vermittlerarbeit. Ich habe wieder beide Trucks auf der Straße und Luke hat wieder eine Arbeit. Ich soll Dich sogar von ihm grüßen.“ Na das war mal eine Überraschung, mit der ich nicht gerechnet hatte. Mit dem Arbeitsvertrag vielleicht schon, mit den Grüßen definitiv nicht.
Als ich zurückkam, waren die korrekten Schilder an der Front und Chris wartete für den Lichttest.

Ich fuhr aus der Stadt und fragte, wie er sich das nun vorstellte: „Und wie machen wir nun weiter? Ich fahre jetzt nach Patras und dann vielleicht noch eine kurze Tour, wenn Judith eine findet.“ „Ich habe nichts vor. So lange ich darf komme ich gerne mit. Ich will nur ein Dach überm Kopf.“ „Na dann auf nach Griechenland.“ Ich setzte den Blinker und wechselte auf die Autobahn nach Lyon.
Als sich der Verkehr sortiert hatte rief ich Judith an: „Wir sind weiter zu zweit. Guckst Du mal bitte, wie es aussieht mit der Fähre einen Tag früher?“ „Schlecht. Ich kann nicht mehr umbuchen, die ist scheinbar voll.“ „Dann machen wir gemütlich voran und es bleibt bei der geplanten Fahrt, aber natürlich mit einer zweiten Kabine. Für Christian Langerczyk.“ „Okay, buche ich zu. Äääh, wie schreibt man das?“ Chris verdrehte die Augen und buchstabierte.
Recht unspektakulär fuhr ich an die italienische Grenze. Zwei Stunden durfte nun noch mal Chris ans Steuer. Vor der ersten Mautstation warnte ich ihn noch: „Hier gibt es keine festen LKW-Spuren wie in Frankreich. Aber dafür musst Du unbedingt eine Spur nehmen, über der „Carte“ steht.“ Das hatte allerdings auch die längste Zeit gegolten, so viel stand fest.
Als bei Turin der Fahrtenschreiber piepste, stellte ich mit Blick auf mein Tablet fest, dass uns eine schwere Entscheidung bevorstand: „Nicht schlafen oder nicht duschen?“ „Was?“ „Wir können entweder hinter einer Mautstation mit kleinem Sanitärbereich Nachtruhe machen und uns beschleunigende Autos und LKW anhören oder auf einem ruhigen Parkplatz, aber ohne Duschen oder Toiletten. Mehr geht in der Zeit nicht.“
„Waschen wäre doch schön.“ „Orientfahrerdusche bekommen wir hin.“ „Was ist das denn?“ „Mit einem Schluck Wasser und Duschgel einseifen und dann aus dem Brauchwasser-Kanister Wasser übern Körper kippen. So hab ich vor über 10 Jahren noch häufiger geduscht. Das habe ich von einem alten Hasen gelernt, der in den frühen 80ern die Orientroute gefahren ist. Daher mein Name dafür. Luxusversion war, den Kanister dem Truck unter den Dachspoiler zu basteln und eine kurze Rohrleitung mit Duschbrause dran zu schrauben. Hatte ich nie, aber bei mir im Gebäude sind zwei Brüder eingemietet, die hatten bis Weihnachten noch einen Renault Major mit dem Patent.“
„Hm. Fernverkehr ist wohl doch eine andere Klasse als Öl und Kohle um den Kirchturm auszufahren und abends immer zu Hause mit dem Luxus von Dusche, Klo und Bett zu sein. Aber ich habe letzte Nacht schon nicht richtig geschlafen, dann lieber den Parkplatz.“ Den hatten wir dafür zu meiner Überraschung komplett für uns. Weder PKW noch LKW waren zu sehen.

Nach der besagten Dusche am nächsten Morgen setzte sich Chris ans Steuer und fuhr bis kurz vor Bologna. Ich übernahm den Truck hinter einer Mautstation und fuhr in die Innenstadt von Bologna. Nach einer kurzen Diskussion durfte ich auf dem Hof einer Werkstatt parken und wir machten uns auf den Weg in die Stadt, wo ich als erstes eine Bank aufsuchte. Ich hatte mich schon schlau gemacht, dass sie Konten für Ausländer und Firmen ohne Adresse in Italien anlegten.
Mit der Kontonummer beantragte ich eine Telepass-OBU, damit demnächst das Hantieren mit der Kreditkarte an den Mautstationen in Italien entfiel. Wo wir schon mal den Luxus hatten, die Mittagszeit nicht auf einem Rasthof verbringen zu müssen, suchte ich uns eine Trattoria und wir genossen in Ruhe eine kleine Portion Pasta, hier natürlich alla Bolognese.
Danach fuhr ich bis Ancona und weil die Fähre erst morgen Mittag ablegte, hatten wir Zimmer im Hotel nebenan. Die Überfahrt war unspektakulär und in Patras ließ ich Chris den Truck gerade zu DHL nebenan fahren und auf den Stellplatz rangieren. Ich wäre zwar in der Hälfte der Zeit fertig geworden, aber dafür, dass er nach der Fahrschule jahrelang nur Zweiachser gefahren war, stellte er sich nicht so schlecht an.
Die DHL-Niederlassung lag genau unter der Autobahnbrücke über die Bucht und mit dem Fischaugen-Objektiv auf der Kamera gelang mir eine spektakuläre Aufnahme.

Judith hatte noch einen kleinen Auftrag gefunden. Also ließ ich Chris Solo in die Stadt fahren und bei Fercam durfte er auch an den Tieflader mit den Fertighausteilen ankuppeln. Insbesondere weil der Zug Überlänge hatte, fuhr ich aber lieber selber zum Hafen zurück.
Abends legte die Fähre nach Bari ab und so waren wir erst einmal mitten im Sonntagsfahrverbot in Italien. Also führte die Reise nur vom Schiff auf den Parkplatz im Hafen.
Als das Verbot um 22 Uhr endete, nahm ich die verbleibenden Kilometer in Angriff. Um 01:12 Uhr stand die Fuhre bei ND und der Nachtdienst im Büro zeichnete die Papiere ab. Nun war es nur noch ein kurzes Stück bis zum Hotel, wo wir auch um die Zeit noch einchecken konnten.
Als ich am nächsten Vormittag gegen 10 die Vorhänge wegzog, empfing mich ein spektakuläres Panorama.

Da wir nun zwei Tage Pause einlegen mussten, konnten wir uns mal genauer ansehen, was der rauchende Riese vor 2000 Jahren angerichtet hatte und besichtigten die Ruinen von Pompeji. „Ist schon ein merkwürdiges Gefühl, hier herumzulaufen, während er so bedrohlich raucht.“ Chris zeigte auf den Vesuv.
Bei dem touristischen Angebot von Neapel und seiner Umgebung verging die Zeit im Flug und schneller als wir dachten wurde es Mittwoch. Die Arbeit rief wieder.
Ich hatte Judith gebeten, uns so schnell wie möglich nach Hause zu holen. Die Art Heimweg gefiel mir dann aber gar nicht, mit 25 Tonnen Sand aus Rom nach Wuppertal. Abgesehen davon, dass ich gerne mal wüsste, warum man Sand quer über den halben Kontinent kutschieren musste, waren die Mulden einfach nur grausam zu fahren, also eigentlich nichts für Sattelzug-Anfänger wie Chris.
Der Anfänger durfte erst einmal vorm Hotel die Bremse aufblasen, aber das war nichts Neues für ihn. Der LK im väterlichen Betrieb hatte wohl irgendwo im Bremssystem einen Dudelsack, denn der war nach 20 Minuten Kohlesäcke laden schon wieder leer und wenn man beim Bremsen ein Bisschen mit dem Druck spielte, bekam man auf den Ventilen bestimmt auch Scotland Brave hin. Also TÜV-Prüfers Liebling.
Endlich ging es los, aber eine Baustellenampel mit kilometerlangem Stau davor hielt uns recht lange auf. Natürlich ein letztes Mal so, dass wir immerhin für den nächsten Umlauf die Pole Position hatten.

In zwei Tagen nach Hause zu kommen würde zwar grundsätzlich schon passen, als wir nach fast genau 4 Stunden bei Dachser im Flughafen-Gewerbepark auf den Hof rollten, könnte aber ungemütlich mit langen Tagen werden.
„Ich mache die Papiere und kuppele auch an. Geh Du mal inzwischen zu einem Imbisswagen da draußen und hol Dir was zu essen.“ „Für Dich auch was?“ „Nein, beim ersten Fahrerwechsel müssen wir eh tanken, dann hole ich mir da was und esse wenn Du fährst.“
Meine Frage im Büro, ob es denn auch ein Carnet TIR geben würde, wurde mit Gelächter beantwortet: „Wer braucht denn ein Carnet TIR für Sand?“
Die Fahrt um Rom herum ging um die Mittagszeit problemlos. Während ich über den Ring fuhr, mampfte Chris sein Stück Pizza und bald waren wir auf der Autobahn in Richtung Norden. Mit knapp 40 quälte ich den Truck unter Vollgas in die Berge rauf. Immerhin entschädigte der Anblick dafür.

Schon vor der Ablösung warnte ich Chris vor, was ihn nun erwartete: „Der Trailer ist extrem kurz, Du wirst merken, dass der Geradeauslauf bescheiden ist. Außerdem ist der Schwerpunkt eklig hoch. Wenn Du zu schnell bist, liegt in der Kurve die ganze Fuhre auf der Seite. Lieber 10 km/h zu wenig als 5 zu viel.“
Dann tankte ich voll und ließ Chris ans Steuer. Ich hatte mir einen gemischten Salat und ein Brötchen geholt und holte meine Mittagspause nach. Chris fuhr bis hinter Bologna, bevor ich noch mal übernahm. An einer Mautstelle bei Mailand war der Tag vorbei und es gab Fertigessen aus dem Umluftofen.
Nun hatten wir also doch noch eine Nacht an so einer blöden Stelle. Ich konnte mir die Ohrschützer rein machen, Chris drehte sich welche aus einem Papiertaschentuch. So wurden wir am nächsten Morgen einigermaßen ausgeruht wach.

Die erste Schicht über den Gotthard übernahm Chris. Wir kamen aber nicht weit. Und wenn mir eine gehässige Frage gestattet sei: „Wer braucht schon ein Carnet TIR für Sand?“

Die Zöllner pieksten aber nur mal mit Stangen in die Ladung, ob vielleicht Geldschränke drunter waren und nach ein paar Minuten durften wir weiter. Chris fuhr sicher über den Gotthard. Im Tunnel ging wegen des Tempolimits wieder einmal eine Menge Zeit verloren, aber dennoch machten wir gut Strecke.
In Göschenen war dann wieder Fahrerwechsel angesagt. Während ich den Fahrersitz wieder auf mich einstellte, besorgte Chris in der Tankstelle ein paar belegte Brötchen. Diesmal musste ich also einhändig steuern und essen.

Ich entschied mich mit dem kippeligen Zug gegen die ruhige aber etwas gewundene Strecke über Straßburg und fuhr lieber über die volle und gerade A5. Dabei stellte nun Chris die entscheidende Frage: „Was hast Du denn vor, wenn wir in Bochum sind? Vor allem was wird dann aus mir?“ „Was willst Du denn aus Dir machen?“ „Wenn Du mich weiter im Pelz haben willst und dieser Stress von gestern und heute kein Dauerzustand werden, würde ich gerne weiter mitfahren.“
„Nee, das muss ich auch nicht haben, ich wollte nur genau um solche Dinge zu klären ins Büro.“
„Nur wo komme ich unter?“ „Meine Bude ist voll, habe schon eine WG mit zwei Kollegen. Ausnahmsweise bekomme ich Dich auf der Wohnzimmercouch unter. Wir machen sowieso einen etwas professioneller aufgesetzten Arbeitsvertrag und dann wirst Du Dir wohl was suchen müssen.“
„Au weia. Ich habe doch gar nichts. Dass meine Eltern die Möbel raus rücken, glaube ich nicht. Schon aus Prinzip nicht. Ich war halt bisher Berufssohn und zukünftiger Firmenerbe. Alles was ich hatte, kam von meinen Eltern. Zimmer und Möbel im Hotel Mama, das Auto lief nicht auf meinen Namen.“ „Ich habe da auch keine Ahnung, aber vielleicht bekommst Du ein möbliertes Zimmer. Viel brauchst Du ja sowieso nicht für im Schnitt ein Wochenende alle 2 Wochen.“
Bei Mannheim gab es noch einen Fahrerwechsel und Chris fuhr nun durch bis Wuppertal zum Kunden. Wir waren beide fix und fertig, als ich schließlich den Truck in die Halle rangierte.

Wir ließen uns noch ein Abendessen vom Bestelldienst kommen und weil wir genug Pizza in den letzten Tagen hatten, entschieden wir uns für „Schniposa“, also Schnitzel, Pommes, Salat. Dann machte ich Chris die Schlafcouch fertig und ging selber ins Bett.
Am nächsten Morgen gingen wir erst einmal ins Büro und ich lud bei der IHK einen Muster-Arbeitsvertrag runter, den ich etwas anpasste. Inzwischen war auch Judith eingetroffen und unterstützte mich ein Bisschen dabei. Als 3 Jahre lang in dem Bereich ausgebildete Kauffrau hatte sie da doch mehr Ahnung von als ich mit meinem Schnellkurs „Spediteur für Dummies“.
Bewaffnet mit dem Arbeitsvertrag um Vermieter zu besänftigen und einer Liste von einer Immobilienbörse machte sich Chris schließlich auf die Suche. Fündig wurde er in Dortmund-Oespel. Ein älteres Ehepaar vermietete einen Anbau an ihrem Einfamilienhaus mit einem möblierten Zimmer, kleiner Küche und Bad. Er konnte quasi sofort einziehen, weil ein Student wohl erst zugesagt hatte und sich dann doch gegen die Uni Dortmund entschieden hatte.
Am Nachmittag fuhren auch Marlon und Julian auf den Hof. Marlon setzte sich sofort mit Judith ab und wurde für den Rest des Wochenendes nicht mehr gesehen. Am Samstag half ich Chris dabei, seine Bude einzuräumen und die Dinge, die er nun doch selber kaufen musste, zu besorgen.
Am Sonntag setzten sich Chris, Julian und ich bei dem schönen Wetter einfach ein Bisschen an die Ruhr und hatten Spaß daran, nichts zu tun. Auf dem Weg zurück in die Stadt eröffneten wir die Eisdielen-Saison und schon trennte uns nur noch eine Nacht von der nächsten Arbeitswoche.
