Kapitel 34 – Fabelhafte Tierwesen, die in Schottland zu finden sind

Diese Woche…

…fehlen dem Stralis Active wieder 10 PS…
…ein Fabelwesen landet auf dem Teller…
…und Ilarion lernt den Unterschied zwischen Berufskraftfahrer und Fernfahrer!

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Wir hatten das Wochenende mit Möbel rücken, Kisten schleppen und Schränke einräumen zugebracht. Da hatte auch Allerheiligen nichts genützt, hinter der Fassade gingen die Arbeiten auch am stillen Feiertag weiter.
Außerdem brachte ich noch die neuen Fernscheinwerfer am Stralis Active an, die ich bei Mahad und Vinni gekauft hatte. Die alten hatten ja ihren Weg auf den Lampenbügel an unserem Hi-Way gefunden.
Der Euro-5 Motor hatte allerdings nur 450 PS, man sollte auch zuhören, wenn man in der Werkstatt was gesagt bekam.

Am Montag hatte ich wenigstens Gnadenzeit. Während die anderen sich um 4 auf den Weg machten wie immer, durfte ich auf unseren neuen Kollegen warten, der wie vereinbart um 7:30 Uhr, gleichzeitig mit Judith reinschneite.
Erst einmal kümmerte sie sich um einige Formalitäten wie die Kontoverbindung und Archivierung der notwendigen Unterlagen. Dann übernahm ich die Theorie mit firmenspezifischer Unterweisung, der diese Woche aus Mangel an bestickten Poloshirts noch nicht geltenden Einheitskleidung und so weiter.

Um 10 vor 9 kämpften wir uns in den dicken Verkehr und durch den Pott nach Düsseldorf. Von hier sollte es mit Kunststoffteilen für die Automobilindustrie nach Birmingham gehen.
Das Navi wählte ab Essen eine etwas kreativere Route, aber wer im Ruhrgebiet TMC hinterfragte, war selber Schuld, wenn er im Stau endete.

Wie üblich fuhr ich bis Belgien und überließ dann Ilarion das Steuer, damit er bis auf den für ihn neuen Euroshuttle fahren musste. Auf der Fahrt ließ ich ihn sich erst einmal an den Truck gewöhnen, bisher war er nur einen MAN TGS in der Fahrschule und dann als Azubi einen DAF XF gefahren.
Er fädelte den Truck sauber auf den Zug ein. Drüben fuhr ich dann noch um London herum, bis wir auf dem Orbital fast an der Abfahrt nach Birmingham waren. Leider war das ein kleiner Parkplatz mit den entsprechenden Einschränkungen, engen Sanitäranlagen, Fish & Chips Shop als „Restaurant“ und Durchgangsverkehr gefühlt im Fahrerhaus.

Auch wenn es auf der Autobahn witzlos war, erklärte ich natürlich Ilarion die Problematik des Linksverkehrs am ersten Morgen auf der Insel und dann durfte er los. Seine Tour ging bis Birmingham, wo wir unsere Ladung los wurden und Sägespäne für Felixstowe einsammelten.

Obwohl das Wetter teilweise mit recht bedrohlichen Wolken auftrumpfte, war es bisher trocken geblieben. Mit Chris würde es bestimmt schon regnen, der zog das ja irgendwie an.


So kamen wir aber trocken nach Felixstowe. Hier war im größten Importhafen des Landes Spielzeug aus Asien angekommen, das jetzt trailerweise im Land verteilt werden wollte. Der Coca Cola Trailer ließ gewisse Rückschlüsse auf den Veranstalter der Aktion zu.

Heute horchte ich mal Ilarion ein Bisschen aus. Seine Eltern hatten als Jugoslawen geheiratet und noch vor der Holzhochzeit (5 Jahre) und seiner Geburt waren sie plötzlich ein gemischtes Ehepaar, der Vater Serbe und die Mutter Mazedonierin. Serbe war Ilarion automatisch geworden und die Eltern hatten ihn dann auch gleich als Mazedonier im Konsulat gemeldet. 2000 kam mit dem Optionsmodell auch noch die deutsche Staatsbürgerschaft dazu, damit besaß er rekordverdächtige drei Pässe. Seine Eltern wollten ihm alle Möglichkeiten geben.
Bei Urlaubsfahrten auf den Balkan hatte er vor allem zwei Dinge gemerkt. Erstens bewunderte er die LKW-Fahrer, die diese Strecke und noch viel weiter fuhren. Daraus entstand sein Traumberuf.

Außerdem war er bei der Familie seines Vaters immer Mazedonier und bei der Familie seiner Mutter immer Serbe, also immer Ausländer. Wenn ihn dort unten niemand haben wollte, dann konnte er gleich Deutscher bleiben. Hier war er geboren und aufgewachsen, hier sprach er die Sprache am besten, nämlich akzentfrei. Hier hatte er seine Freunde, hier hatte er bis zur B-Jugend bei Rot-Weiß Essen Fußball gespielt – auch wenn er als Fan eher ein Trikot von Roter Stern Belgrad anzog, da schlug dann doch mal der Vater durch. Er ging aber auch ab und zu in seinem alten Jugendtrikot zu einem Viertligaspiel seiner Heimatstädter.
Und vor allem spielte es hier die kleinste Rolle, von wem er abstammte. Dank brauner Haare sah er sowieso nicht sonderlich südländisch aus und dank fehlerfreiem Deutsch verriet es nur der Name.

Im vergangenen Winter, mitten im dritten Lehrjahr, wurde aus dem Traumberuf sein erster Alptraum, als sein Ausbildungsbetrieb in die Pleite schlitterte. Es war für mich als alten Hasen absehbar gewesen, wenn ich mal einen von denen auf Tour gesehen hatte. Aber was verstand denn ein 17-Jähriger davon, dass die Arbeit, die er lernen sollte, in dem Betrieb, der ihn die nächsten drei Jahre ausbilden sollte, nicht vernünftig gemacht wurde? Die ganze Ausbildung dort hatte man wohl nur aufgezogen, um die Quote zu erfüllen und keine Strafe zahlen zu müssen.
Wie er selber schon in der Berufsschule merkte, wurden in der Firma Ladungssicherung und bei den fest angestellten Fahrern auch die Lenkzeiten nicht so ganz nach Lehrbuch umgesetzt. Bei den Azubis war ihnen das aber wohl zu heiß, er konnte immerhin seine Zeiten einhalten. Ein komisches Gefühl im Bauch blieb ihm aber, als sein Ausbilder die Spanngurte lapidar mit „Ah, dat hält schon noh!“ kommentierte. Das kölsche „Et hätt‘ noh immer joot jejange!“ dachte Ilarion sich dann schon selbst.

Im Februar, also gerade mal ein Quartal vor der Abschlussprüfung, ging der Laden dann den Bach runter. Talke war scharf auf die fast neuen DAF XF gewesen – Ilarions Arbeitsgerät hatte keine 40.000 Kilometer drauf und die neueste Version der weiterhin farblich ziemlich fiesen Lackierung, die nicht mehr allzu viele Trucks der alten Firma gesehen hatten. Trotzdem verschwand die natürlich schnellstens unter Talkes Blau-Rot.
Um aus der Nummer mit den Auszubildenden raus zu kommen, hatte man sich dann auf einen Deal geeinigt, dass die mit den LKW die Firma wechselten. Der Verkehrsmeister bei Talke fiel erst einmal durch einige Wolkenschichten, als er merkte, was er sich da eingehandelt hatte. Nun gab es zwei Möglichkeiten.
Ilarion hatte sich für die harte entschieden, meldete für drei Monate sein Privatleben ab und setzte sich auf den Hosenboden, büffelte die Werksunterrichts-Theorie und stellte seine ganze Praxis um auf die vernünftige Arbeitsweise, die er sich ohnehin schon vorher gewünscht hätte.
So kam seine gute Abschlussnote zustande. Zwei andere schafften es auf diesem Weg, einer ähnlich gut, der andere nur gerade so zu bestehen. Zwei weitere fielen durch und durften sich dann auf den zweiten Weg machen. Die letzten zwei entschieden sich nämlich direkt, ins zweite Lehrjahr zurück zu gehen um mehr Zeit zu haben, die Prüfung anständig zu bestehen.

Gedankt wurde es ihm trotzdem nur mit einem befristeten Vertrag, ironischerweise würden es die Kollegen, die ein Jahr zurückgegangen waren, da einfacher haben. Denn am 1. Januar 2015 war der Sozialplan endgültig abgefrühstückt, dem schon ich zum Opfer gefallen war und damit endete auch der Einstellungsstopp.

Kurz bevor wir in Southampton ankamen, fing es dann doch an zu regnen. Also wurde Ilarion beim Abkuppeln nass. Aber kurz danach waren wir im Hotel und entschieden uns wegen des Wetters auch gleich mal, dort zu essen. Es gab Entenbrust in Kirschsoße mit Yorkshire Pudding und Rosenkohl für mich, Schweinebraten mit Nudeln und ebenfalls Rosenkohl für Ilarion. Dazu nahm Ilarion einen Rotwein und ich blieb bei meinem Lieblings-Inselgetränk Cider. Hotel war nicht der Normalfall, aber bei einer zusammengezwungenen Zweimannbesatzung war ich doch mal so spendabel.

Am nächsten Morgen kam das, was keiner gerne macht, abliefern in London. Wir quälten uns mit einem Curtainsider in die Hauptstadt und mit einem Tieflader wieder raus.

In Grimsby wurden wir den JCB los und waren dann mit Elektronikbauteilen auf dem Weg nach Manchester. Hier erwartete uns mal wieder Edelgas als einziges Gefahrgut der Woche, Neon nach Aberdeen. Um 17:20 Uhr kämpften wir uns wieder im Regen mit der arbeitenden Bevölkerung aus der drittgrößten Stadt des Landes. Ilarion, der am Steuer saß, störte sich aber nicht sonderlich am Wetter.

Weit sollten wir erst einmal nicht kommen. Im Autobahnkreuz, wo wir auf die Strecke Richtung Schottland eingebogen waren, wollte eine gestresste Lady mit ihrem Range Rover unbedingt an uns vorbei. Dadurch war sie dann auf der Fahrspur ohne Beschleunigungsspur, zögerte ein Bisschen und mit einem lauten Knall rauschte ihr ein Mini in die Fahrertür. Ilarion brachte unsere Fuhre auf dem Seitenstreifen zum Stehen.
Da hier auf Autobahnen offiziell davon abgeraten wurde, ein Warndreieck aufzustellen, wählte ich einfach nur den Notruf. Wir halfen beiden Fahrern aus ihren Autos, die Rover-Fahrerin war leicht verletzt, dem Mini-Fahrer war nichts passiert.
Mit Befragung durch die Polizei hielt uns das Ganze eine Stunde auf. Also fuhren wir nur noch auf den nächsten Rastplatz. Hier gab es amerikanische Küche, also füllten wir unsere Mägen mit Whopper und Big King.
Entsprechend mussten wir auch auf unser geliebtes – ja, auch von Ilarion – English Breakfast verzichten und machten uns nach einem wabbeligen Frühstücksburger auf den Weg.

Heute war ich ein Bisschen mit Erzählen dran und gab Geschichten aus Skandinavien und, passend zu unserer Route, aus Großbritannien zum Besten.

Zwischen Carlisle und Edinburgh war die Landschaft so richtig schön britisch. Kleine Dörfer mit viel Naturstein, Trockenmauern zwischen den Feldern, karge Wiesen.

Ein Bus bremste uns ein Bisschen ein. Aber schließlich waren wir auf der Autobahn an Edinburgh vorbei und machten kurz danach einen schnellen Fahrerwechsel. Das Wetter war ungewöhnlich gut für schottische Verhältnisse.
So kamen wir ohne Probleme um die Mittagszeit nach Aberdeen und lieferten unser Edelgas bei ENI ab. Die neue Ladestelle war im Gewerbegebiet außerhalb, wo sich Sägewerk, Landwirtschaft und Baumaschinenhandel knubbelten.
Da unser JCB noch nicht ganz fertig aufgeladen war, empfahl uns der Disponent ein Mittagessen im Restaurant eines Hofladens nebenan, der inoffiziellen Kantine des Gewerbeparks.

Auf der Speisekarte fand ich dann die „Baked Potato with freshly caught Haggis“. Das Haggis-Tier war ein Witz, der darauf beruhte, das schottische Nationalgericht sei ein Tier, dem man einfach nur vor der Zubereitung das Fell abziehen würde. Im britischen Exil Schottland-erprobt, beschloss ich mal, den Scherz mitzuspielen.
Als der Kellner kam, der uns sicherlich hatte deutsch sprechen hören, fragte ich erst einmal unschuldig: „Ist das Haggis wirklich frisch gefangen?“ Der Kellner überlegte, wie ernst die Frage wohl gemeint war, aber zeigte dann aus dem Fenster: „Heute morgen noch um die Hügel gelaufen.“ „Also ein links laufendes Haggis?“ „Nein, etwas ganz besonderes, ein rechts laufendes.“
Ich konnte das Fragezeichen auf Ilarions Stirn förmlich sehen: „Was ist Haggis?“ fragte er auf englisch. „Haggis sind Tiere, die nur in Schottland leben. Sie haben auf einer Seite kürzere Beine als auf der anderen, damit sie nicht von den steilen Hügeln fallen. Die meisten laufen links rum, die rechts rum laufenden sind viel seltener und leben nur hier im Norden. Paaren können die beiden Arten sich untereinander nicht, weil dann eins den Berg runter kullert. Deshalb sind die rechts laufenden eine besondere Delikatesse.“

Ilarions Gesicht wurde mir zu dumm und ich fing an zu lachen und aufzuklären: „Nein, Haggis ist mit Hackfleisch, gehackten Innereien, Wurzelgemüse und einer dicken Kräutersoße gefüllter und dann gekochter Schafmagen. Es ist das schottische Nationalgericht und man liebt es oder man hasst es! Die Geschichte mit dem Haggis-Tier ist so was wie in Deutschland das Döner-Tier.“
„Okay, ich nehme die Ofenkartoffel mit Haggis, dazu ein Bru.“
„Ein was?“ „Irn Bru, eine schottische Limonade, deutlich koffeinhaltiger als Cola, schmeckt so rostig wie es orangerot aussieht und wenn Du es siehst, fragst Du Dich als erstes, ob es wohl im Dunkeln leuchtet. Auch so ein lieben oder hassen Zeug.“
Er zögerte einen Moment, dann fasste er seinen ganzen Mut zusammen: „Für mich das gleiche bitte.“ „Du liebst das Risiko?“ „Eher das Unbekannte. Wenn ich schon einen Job habe, bei dem man die Welt sehen und schmecken kann, muss ich nicht jeden Mittag Schnitzel, Pommes und Salat haben.“

Als erstes bekamen wir unsere Getränke. „Sieht echt fies aus.“ Er nahm einen Schluck: „Schmeckt interessant, vor allem nicht so süß wie Cola. Ich glaube, ich lande auf der Lieben-Seite.“ „Bestelle ich auch regelmäßig online nach Deutschland. Kannst Du Dich dran hängen, wenn Du willst.“
Schließlich kam das Essen, sofort hüllte uns eine Wolke des typischen Geruchs von gekochten Innereien ein. „Und? Wie ist das?“ „Ich weiß ja, wie Lamminnereien schmecken. Da gibt es auch auf dem Balkan das eine oder andere interessante Gericht. Nur das gehackte und gekochte mit den Kräutern ist neu. Meine Mutter grillt sie meistens in kleinen Stücken auf Spießen oder kauft sie als fertige Bratwürstchen. Und natürlich alles typisch Balkan, scharf und mit viel Paprika. Das hier ist aber auch lecker.“
Na toll. Deutlich unterdurchschnittliche zwei von sechs Fahrern in dieser Firma mochten britische Küche nicht, einer davon war ausgerechnet mein Lebensgefährte.

Schließlich war das Essen durch und wir durften mit unserem Tieflader und der Baumaschine drauf los. Wegen der Herbstferien fuhr die Fähre derzeit häufiger, was uns einen halben Tag ersparte, also würden wir Samstag früh und nicht samstagabends zu Hause sein.

Der im Volksmund gerne mal Firth of Fog genannte Firth of Forth zeigte sich von der Sonnenseite und man konnte mal die Eisenbahnbrücke parallel zur Autobahnbrücke in ihrer ganzen Pracht sehen.

Die riesige Naturstein-Eisenbahnbrücke neben der Landstraße südlich von Edinburgh wurde für Ilarion ein echter Hingucker, ich musste ihn fast schon ermahnen, auf die Straße zu achten.

„Was ist hier denn besonderes?“ „Die Grenze zwischen Schottland und England. Zieh raus, wenn Du magst.“ Ich erklärte ihm kurz, was es mit dieser Grenze und der Grenzmauer aus der Römerzeit auf sich hatte, während wir ein paar hundert Meter an der teils rekonstruierten und teils bis fast zur Unkenntlichkeit eingefallenen Befestigungsanlage entlang wanderten.
„Sollen wir über Nacht hierbleiben?“ „Okay, warum?“ „Dann können wir Schottland mit einem Scotch verabschieden.“ Ich holte eine Miniatur Highland Park raus und teilte sie, in Ermangelung vernünftiger Gläser, auf unsere Becher auf.
„Bevor Du den edlen Tropfen banausenhaft auf einen Zug runter haust, was sich bei dem hier knapp 3 Sekunden später sowieso fürchterlich rächen würde, den trinkt man in kleinen Schlucken über eine längere Zeit. Und damit sich das Aroma entfalten kann, sagt man als Faustformel, man behält ihn für jedes Jahr Reife eine Sekunde im Mund. Das ist also ein 12-Jähriger.“
Wir saßen auf einer Trockenmauer, tranken unseren Whisky und sahen der Sonne beim Untergehen zu.

„Jetzt haben wir nur keine Dusche.“ „Doch!“ Ich holte den Kanister mit dem Brauchwasser aus dem Seitenstaufach, nachdem sich die letzten Touristen verkrümelt hatten. Nach einer kleinen Einweisung ins Wassersparen waren wir beide sauber.
„Das lernt man wohl nicht in der aktuellen BKF-Ausbildung?“ Ich lachte, denn das hatten viele aus meinem Jahrgang schon nicht mehr drauf. „Nein… Natürlich nicht.“ „Tja, Du bist Berufskraftfahrer, ich bin Fernfahrer! Dann muss Julian es Dir nicht in den nächsten zwei Wochen auf dem Afrika-Trip beibringen. Kennen aber auch viele nicht mehr, die in wie ich um 2000 angefangen haben. Ich bin halt viel in Skandinavien gefahren, Marlon und Julian in Afrika. Da kommt man nicht alle 20 Kilometer an einer Tankstelle mit Dusche vorbei.“

Im Morgennebel und bei Dunkelheit kletterte ich die Leiter aus dem oberen Bett runter und fuhr los. Ilarion schaffte es, auf der unteren Liege trotz laufendem Motor so lange weiter zu schlafen, bis ich den Arm nach hinten streckte und ihn während der Fahrt weckte. Keine Ahnung, wie er auf die Störung reagieren würde. Aber in den letzten Tagen war er von der Landschaft begeistert.
„Hey, Ilarion. Ich hoffe, Du bist nicht sauer, dass ich Dich wecke, aber ich glaube, das solltest Du Dir ansehen.“ „Was…“ Verschlafen hob er den Kopf. „Ein See aus flüssigem Gold.“ „Wie geil ist das denn? So was habe ich ja noch nie gesehen!“

In Newcastle hatten wir dann viel Zeit und der Zoll auch. Also wurden wir mal genauer gefilzt, auch wenn es in diese Richtung eher harmlos war. Es war logischerweise für Flüchtlinge einfacher als erstes in die EU zu kommen als nach Großbritannien. Also gab es auch mehr Flüchtlinge, die vom Festland auf die Insel wollten als anders rum.

Die zusätzliche Fähre legte am späten Vormittag ab und mitten in der Nacht in Holland an. Es war nicht eben das tollste Schiff, irgendwo auf einer Ostseestrecke abgezogen, die jetzt nicht mehr so nachgefragt war wie noch im Sommer.

Nun fuhr Ilarion. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und nickte weg, bis ich von seinem bewundernden „Das sieht ja auch stark aus!“ wieder wach wurde. Wir rollten hoch oben über dem Rhein auf der Brücke, während unter uns die Flussufer im Nebel versanken. Eine schöne Herbststimmung.

Auf dem Kölner Ring ging nicht nur die Sonne am Himmel auf, sondern auch mal wieder eine ungarische. „Bleib bloß auf Deiner Spur, Gulaschkanone!“ „Du magst die irgendwie nicht?“ „Schlecht ausgebildet, von der Uhr gehetzt, Käfighühner für Wochen im Fahrerhaus gefangen. Eigentlich sind sie arme Schweine. Aber vor lauter Hektik schauen sie auch mal nicht in den Spiegel, bevor sie rüber ziehen. Dank so einem weiß ich, wie weit nach vorne eine XF-Kabine kippen kann, wenn man voll in die Eisen steigt! Und wenn hinten 18 Tonnen Phosphorsäure schieben ist das ein Scheißgefühl.“

Schließlich kamen wir in Düsseldorf an, lieferten den Bagger ab und fuhren nach Bochum. Die Firmentankstelle war inzwischen in Betrieb. Als ich die Pistole abnahm, tickerte ein Literpreis rein, den ich kaum glauben wollte. Aber die Abnahme eines ganzen Tankwagens und Befreiung von der Märchensteuer hatten so ihre Auswirkungen.
Chris, der Scherzkeks, hatte die Standard-Zapfsäule von Benny und seinen Softwarespezis so programmieren lassen, dass sie den aktuellen, steuerbereinigten Einkaufspreis anzeigte. Die Datenverbindung diente eigentlich nur dazu, dass die Pumpe an den Server meldete, wie viel gezapft worden war und von welchem Fahrzeug der Transponder zum Freischalten der Säule davor gehalten worden war. So konnte das System berechnen, wann wir neuen Diesel ordern mussten.
Sollten wir irgendwann mal Diesel-Autos auf die Firma kaufen, konnte das Transpondersignal sogar automatisch auslösen, dass für diese Tankfüllung Steuer abgeführt werden musste. Auch wenn es nie mein liebstes Thema war, musste ich schon sagen, dass die Computertechnik die Arbeit erstaunlich einfach machen konnte.

Wir machten den Truck noch sauber, wobei Timo runter gekommen war, nachdem er uns gehört hatte. Also machte ich die beiden erst einmal miteinander bekannt.
Ilarion und ich erledigten die Bürokratie und dann ging er die Straße runter zur S-Bahn. Ich machte mich mit Timo auf den Weg nach oben, nachdem er mir schon gesagt hatte, dass Chris nicht da war. Seine Suzuki fehlte allerdings ebenso wie Julians KTM, da schien ein Zusammenhang zu bestehen und bei dem Wetter wollte ich ihnen das nicht verübeln.

Also blieb mir nur, mich mit Timo als letztem Mohikaner in die Stadt aufzumachen. Ich brauchte ein paar neue Pullover und dickere Schuhe, er noch eine oder zwei blaue Jeans mehr.
Apropos Pullover, ich beschloss, mal Sweater-Jacken in unserem Dunkelgelb mit eingesticktem Logo zu bestellen. So langsam war die Polohemdensaison zu Ende und wir trugen aus der Not schon offene Sweater-Jacken in den verschiedensten Farben drüber.
Als wir wieder kamen, war Julian schon da und Chris tuckerte kurz danach in die Halle. Also waren die beiden wohl doch nicht zusammen auf Tour gewesen. Konnte mir aber auch egal sein, denn jetzt war er ja da.

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