Kapitel 112 – New Kid in Town

In diesem Kapitel…
…protestiert Luke gegen das Essen…
…an der Wand entlang geht es rund…
…und Timo bekommt eine Rolle im Musical!


Mittwoch 25.07. bis Sonntag, 29.07.2018

In der Tat bekam ich Termine zusammen. Die Mitteilung, die Luke mir am Nordkap gezeigt hatte, brachte uns nun dazu, endlich Eigentum zu kaufen. Das ging in Großbritannien erfrischend einfach, im Prinzip einfacher, als eine Mietwohnung zu finden. In manchen Gegenden kauften sogar Studenten als Gruppe ein Haus für ihre WG und verkauften es nach dem Studium wieder.

Als Luke am Donnerstag ankam, hatte ich einen Termin bei der Bank auf der Agenda und schon mal Häuser in schlechter Lage, schlechtem Zustand, für 2 Autos und 2 Motorräder zu wenig Stellplätzen, mit Blümchendekor auf den Sanitärinstallationen – konnte man in Eigentum rausschmeißen, musste dann aber entweder doch erst mal damit leben oder die Renovierung der Bäder direkt auf die Liste der Kaufnebenkosten setzen – oder der Hauptstraße gefühlt über die Terrasse ausgesiebt.
Am Ende blieben 4 Immobilien übrig, wo wir kommende Woche Besichtigungstermine hatten. Allerdings waren drei davon in Holywell, einer Stadt 20 Minuten mit dem Auto und eine Stunde mit dem Bus entfernt von hier. Nicht eben optimal. Das einzige Haus in Connah’s Quay, Shotton oder Flint war das aber auch nicht.

Am Sonntagabend setzten wir uns erst mal in den BMW und machten uns auf den Weg in „Die Stadt“, was in Großbritannien grundsätzlich London meinte.

Montag, 30.07.2018


Wir hatten im Hotel übernachtet und um 10 war der Termin. Wir waren wahnsinnig aufgeregt. Was im Kopf der Person vorging, die wir gleich treffen sollten, wagten wir uns gar nicht vorzustellen. Wir fuhren nach Whitechapel, einen Stadtteil, in dem man sich mit einem BMW M5 reichlich deplatziert vorkam. Dort parkten wir vor der Zieladresse, wo wir von der Leiterin der Einrichtung, Mrs. Summer, empfangen wurden.
Nach der Vorstellung fing sie an, uns etwas näher zu erklären, was oder eher wer uns da erwartete. Wir hatten es ja schon gelesen und das hatte uns erst mal ziemlich geschockt: „Sie wissen ja, dass es für Chadwick schon zwei gescheiterte Anläufe mit Pflegeeltern gegeben hat. Wir haben uns bewusst für Sie entschieden, weil es immer an Mutterfiguren gelegen hat.“ Wir kannten ihn von einem ziemlich behördlichen Formular und einem Passbild. Chadwick Stafford war am 02.07., zwei Tage vor meinem Geburtstag, 10 Jahre alt geworden. „Sein Vater ist ein Soldat der US Air Force, der nach Amerika zurückgegangen ist, als Chadwick 2 Jahre alt war und sich seither nicht mehr bei uns gemeldet hat. Mit 5 musste er seiner britischen Mutter wegen Vernachlässigung weggenommen werden. Danach konnte er schnell an eine alleinstehende Lehrerin als Pflegekind vermittelt werden. Aber nach 3 Jahren gab es Schwierigkeiten und sie hat ihn zurückgeben müssen. Dann haben wir nach ein paar Monaten eine neue Pflegefamilie gefunden, die ihn aber nur 4 Monate behalten hat, weil er die Pflegemutter nicht akzeptierte nach seinen Erfahrungen mit seiner leiblichen und der ersten Pflegemutter.
Jetzt hat er etwas über ein Jahr hier in diesem Heim gelebt. Ist ziemlich lebhaft und manchmal allerdings auch vorlaut. Wir haben ihn dann gefragt, ob er sich vorstellen könnte, von zwei Männern adoptiert zu werden und er war nicht nur einverstanden sondern schon so was wie begeistert.“
„So was wie begeistert“ klang so, als wäre es generell nicht leicht, ihn zu begeistern. Bei dem Lebenslauf andererseits auch keine Überraschung.
Dass wir das alles wussten, sollten wir ihn aber nicht wissen lassen. Das war so eine Gratwanderung. Wir sollten schon wissen, mit was für einer Vorgeschichte wir es zu tun hatten, aber andererseits sollte er das Gefühl haben, nur so viel von sich preisgeben zu können wie er wollte.

Nachdem wir vor mittlerweile 10 Monaten den Antrag gestellt hatten und der geprüft worden war, hatten wir in Mold, dem Verwaltungssitz von Flintshire, einige Kurse besuchen müssen, wo wir mit anderen Interessenten darauf vorbereitet wurden, was uns erwartete. Außerdem hatten wir mehrere Einzelgespräche mit einem Sozialarbeiter, der uns zusätzlich gesagt hatte, dass es in der Altersklasse um 10 Jahre eher selten Kinder mit „geradem“ Lebenslauf gab, denn die standen ohnehin nicht zur Adoption. Die meisten waren entweder durch den plötzlichen Verlust der Eltern, üblicherweise durch einen Unfall, traumatisiert oder sie stammten aus schwierigen Verhältnissen, aus denen das Amt sie herausholte. Wenn wir das nicht wollten, sollten wir uns für ein Kleinkind bewerben, würden aber 8 bis 10 Jahre älter sein als die meisten Eltern der Schulkameraden. Und wir wollten ja auch ein Kind, das schon ein Bisschen selbstständig war.

Nachdem Mrs. Summer mit ihren Erklärungen durch war und uns gefragt hatte, was wir dachten und wir zugestimmt hatten, ließ sie Chadwick rein bringen. Er wirkte ein Bisschen unsicher und gegenüber der Beschreibung von eben sehr schüchtern. Er sah ansonsten aus, wie 10-jährige Jungs halt so aussahen. Normale Größe und Figur, auffällig waren zwei Dinge: türkisfarbene Augen, was ich noch nie gesehen hatte und nicht ganz so sehr die Haare, die wohl im Winter dunkelblond, fast braun sein würden wie jetzt die Augenbrauen und die „Unterwolle“ oben. Aber jetzt wirkten die Spitzen und besonders an den Seiten und im Nacken, wo sie kürzer geschnitten waren die ganzen Haare, hellblond. Diesen Bleicheffekt durch die Sonne kannte ich auch von meinem Neffen, der im Sommer immer deutlich hellere Haare hatte als im Winter.

Sie stellte uns einander vor, es gab noch ein Bisschen organisatorischen Kram und dann waren wir zu dritt draußen. Nun sollten wir mindestens 10 Wochen „Probezeit“ zusammen wohnen, danach durften wir entscheiden, wie es weiter gehen sollte. Luke und ich durften frühestens dann einen Antrag auf Adoption stellen, Chadwick durfte sich dann aussuchen, ob er bei uns bleiben wollte oder zurück ins Heim und auf die nächsten Pflege- oder Adoptiveltern wartete – oder die Volljährigkeit, wenn er in den 8 Jahren bis dahin nirgends unterkam.

Seine ganzen Habseligkeiten waren in einer Sporttasche – immerhin. In Amerika hatten Pflegekinder ihren Kram scheinbar in einer schwarzen Plastiktüte, die eigentlich ein reißfester Müllsack war. Dieses Merkmal war so dermaßen Klischee, dass es manchmal im Film und in Serien benutzt wurde, um ein Kind als elternlos zu kennzeichnen ohne dass das ausgesprochen werden musste.

Chadwick setzte sich auf den Rücksitz auf der Beifahrerseite hinter mir, Luke war als erstes mit Fahren dran. Im Schatten der Bürotürme am nahe gelegenen Canary Wharf fuhren wir aus London raus.

Als nächstes passierten wir das Emirates Stadium. Chadwick murmelte: „Mach’s gut, Arsenal. Ich werde Dich vermissen.“ „Hey, Chadwick.“ „Sagt nur Chad, bitte. Das finde ich cooler.“ „Okay, dann sind wir aber auch Luke und Ricky. Bist Du Gunner?“ So nannten sich die Arsenal-Fans auch selber, es klang in Eastend-Slang aber mehr nach „Gooner“. „Ja. Und ihr?“ „Ich bin Everton und er Cardiff City.“ „Gib’s zu, Du magst Cardiff auch.“ „Ja. Aber sie dürfen nicht gegen Everton gewinnen und nicht mehr Punkte machen als Everton. Beides sollte aber nicht allzu schwer werden.” Ja, Cardiff City war in der Saison 2018/19 mal wieder „oben“ in der Premier League. Damit hatte nun jeder von uns zwei „Familienderbys“ zu bestreiten.
Im Außenspiegel konnte ich sehen, dass Chad sein Gesicht an der Scheibe platt drückte und seine Heimatstadt vorbei ziehen ließ. Dann hatte Luke etwas Organisatorisches zu klären. „Ble ydym ni’n gwneud hamser cinio? Gwasanaethau Northampton?“ „Was?“ „Oh, das müssen wir uns wohl eine Weile abgewöhnen, bis Du es kannst. Ich habe nur gefragt, ob wir auf dem Rasthof Northampton Mittagspause machen wollen.“ „Was war das für eine Sprache?“ „Walisisch.“ „Muss ich das auch lernen?“ „Ja, schon von der Schule her. Und Deutsch auch. Das sind unsere drei Sprachen zu Hause. Ricky kommt ursprünglich aus Deutschland. Das geht aber einfach, weil wir es eben alles zu Hause sprechen. Als wir uns kennen lernten, konnte ich kein Wort Deutsch und er erst recht keins Walisisch.“

Schließlich erreichten wir Northampton Services und Luke parkte das Auto ein.

Im Rasthaus ging es erst mal zur Toilette und dann an die Essensausgabe. Es gab nur McDonald‘s. Luke nahm den klassischen Big Mac, ich vermisste hier immer den McRib. Dafür gab es auf der Insel den Chicken Big Tasty, den ich im Gegensatz zur in Deutschland auch bekannten Rinder-Version gerne mochte. Und Chad bekam ein Cheeseburger Saver Menu Small. Das war uns lieber als der noch größere Müllberg, den ein Happy Meal hinterließ.

Ich hatte ein Selfie von uns dreien an meine Mutter und meine Schwester geschickt. Während meine Mutter einfach nur zum Familienzuwachs gratulierte und sich freute, auch aus meiner Richtung unerwartet „Oma“ geworden zu sein, ließ meine Schwester mal wieder eine unserer freundschaftlichen Sticheleien ab: „Herzlichen Glückwunsch, da steht ja dann in 2 bis 3 Jahren geradewegs die Pubertät an.“
Ich lachte kurz, musste für Chad übersetzen und schrieb dann meine passende Antwort zurück: „Ja. Ich finde es auch sehr bedauerlich, dass wir nicht miterleben durften, wie er Zähne gekriegt und ganze Nächte durchgeplärrt hat. Oder wie das mit dem rechtzeitigen Bescheid sagen, bevor er aufs Klo muss, nicht geklappt hat und er sich selbst und einen halben Regionalexpress unter Wasser gesetzt hat. Oder wie er ganz Kleinkinder-Klischee auf dem Bauch vor der Supermarktkasse liegt und auf den Boden trommelt, weil er kein Überraschungs-Ei kriegt. Und auch wenn das Geschlecht nicht passt, zur Pubertät können wir uns ja dann gegenseitig Rat und Trost spenden.“
Luke und Chad lachten über die Antwort. Alles drei hatte Schwesterchen nämlich mit ihren Kindern erlebt. Und meine Nichte war 6 Wochen älter als Chad. Sie gab auf. „Touché!“

Danach fuhren wir weiter und ich übernahm das Steuer. „Wie weit müssen wir eigentlich fahren?“ „Bis Deeside. Von der Entfernung ist das wie Liverpool, wir müssen nur vorher abbiegen auf die M56.“
Chad war ziemlich still auf der Fahrt. Aber wir waren ja auch neu für ihn und es ging diesmal für ihn aus Greater London weg. Als über den USB-Stick Nightwishs „Sleeping Sun“ lief, sah ich an den Lippenbewegungen, dass Chad stumm mitsang.

Um viertel nach 4 passierten wir die Grenze nach Wales, in 15 Minuten waren wir zu Hause.

Nach dem Schlabberfraß am Mittag beschlossen wir, aber abends noch mal was Warmes zu kochen. Also fuhren wir zum ASDA. „Was hättest Du denn heute Abend gerne? Aber was einfaches, wo man nicht so lange in der Küche steht. „Leber mit Zwiebeln?“ Luke zog eine Grimasse: „Wäh! Beim Essen ist er schon mal Dein Sohn.“ Ich ließ ein Paket Hühnerleber in den Einkaufswagen klatschen. „Tja. Dann haben wir jetzt bei Innereien wohl eine Zweidrittelmehrheit. Auch wenn die Extrawürste nicht einreißen werden, behalten wir mal unsere Sonderregelung mit Leber und Fisch. Kauf Dir halt was anderes, das zu Kartoffelpüree und Mushy Peas passt.“ Er nahm ein Schollenfilet.
„Extrawürste?“
„Luke mag keine Leber und ich mag nur 3 oder 4 Sachen mit Fisch, davon eins aber er wieder nicht.“ Das war der typisch deutsche Heringssalat mit Matjes, saurer Sahne, Gurke, Apfel und Zwiebeln. „Da darf dann mal eine Ausnahme gekocht werden, wenn es der andere unbedingt haben will. Idealerweise so wie heute, dann haben wir beide einmal unsere Spezialität am gleichen Tag gehabt. Das wird aber keine Gewohnheit. Für uns nicht und für Dich nicht.“ „Ich habe gelernt zu essen, was aus der Heimküche kommt oder hungern zu müssen.“

Beim Abendessen wollte Chad schließlich wissen, was wir so arbeiteten. „Ich habe vor 5 Jahren eine Spedition in Deutschland gegründet, bin inzwischen Leiter der britischen Niederlassung. Luke fährt einen der Lastwagen, ist aber meistens abends wieder zu Hause.“ „Cool. Darf ich mal mitfahren?“ „Klar. Sind ja noch einige Zeit Ferien.“

Zum Schlafen kam Chad ins Gästezimmer, wie es war. Bei seinem Zimmer im neuen Haus konnte er natürlich mitreden.


Dienstag, 31.07.2018

Heute waren der Bungalow in Connah’s Quay und ein Haus in Holywell dran. Wir fuhren also als erstes in die Nachbarstadt. Der Bungalow hatte einen recht merkwürdigen Zuschnitt. Es gab eine Aneinanderreihung von 3 Zimmern, von denen die hinteren nur durch die jeweils davor liegenden erreichbar waren, weil es keinen Zugang vom Flur gab. Eins der kleinen Schlafzimmer war das mit dem fast obligatorischen En-Suite Badezimmer. Ein Zimmer hatte gleich gar kein Fenster sondern ein Oberlicht und lag mitten im Haus. Das gefiel Luke allerdings gut als Maleratelier für sein Hobby. Was auf dem Luftbild nach Garage ausgesehen hatte, entpuppte sich vor Ort als gemauertes Gartenhaus, also nicht mal eine Unterstellmöglichkeit für die Motorräder, ohne in den Schuppen ein Tor zu brechen.
Der Vorteil hier war andererseits, dass Chad nach der Schule einfach mit dem Bus in 15 Minuten im Industrial Park war. Nach Holywell mussten wir es so drehen, dass einer von uns dann fuhr, um ihn zu holen, wenn wir länger in der Firma blieben, zum Beispiel mit der „Firmenband“.

Das Haus in Holywell war am Hang gebaut, im Erdgeschoss gab es eine innenliegende Garage, Küche, Esszimmer und Wohnzimmer sowie einen Balkon mit Treppe zum Garten. Im Obergeschoss waren drei Schlafzimmer, von denen das kleinste Büro werden sollte sowie ein Wannenbad. Im Keller gab es noch mal zwei große Zimmer, von denen eins für die Eisenbahn sein sollte und eins Lukes Atelier. Der Garten war von der Größe noch halbwegs überschaubar, allerdings durch Leerstand verwildert und „Blickfang“ war ein umgekippter Gartenteich mit schon begehbar wirkenden Algenteppich. Außerdem gab es Blick auf den Dee Estuary, der leider gerade leer war. Denn weil er gezeitenabhängig war, war es die Hälfte der Zeit eine Bucht und die andere Hälfte eine Schlammwüste mit Rinnsal in der Mitte. Trotzdem war das schöner als der Blick vor die Hecke der Nachbarn.

Abends gab es ein erstes Fazit beim Essen. Wir waren uns alle drei einig, dass der Bungalow in Connah’s Quay nicht passte. Nicht vom Grundriss, nicht von der Lage und nicht von den Möglichkeiten, ihn auszubauen. Und es war nun mal das einzige Angebot hier im Bereich Deeside.


Mittwoch, 01.08.2018

Und wieder ging es nach Holywell. Das erste Haus war das ungewöhnlichste, eine alte Windmühle. Auf dem Hof stand ein Nebengebäude mit zwei nicht ausgebauten Zimmern, die sich als Werkstatt und Modellbahnraum aufdrängten und einer Garage. Die Mühle hatte vier Etagen. Eßzimmer, Küche, Waschküche und Wannenbad mit Whirlpoolfunktion waren im Hochparterre.
Die gesamte erste Etage bestand aus einem riesigen Wohnzimmer mit einem umlaufenden Balkon. In der zweiten gab es ein Duschbad und ein riesiges Schlafzimmer für Luke und mich. Dieses Geschoss lud dazu ein, eine weitere Zwischenwand einzuziehen und eine Sauna zu installieren.
Das dritte Geschoss hatte ein weiteres großes Schlafzimmer für Chad und ein kleineres, das ein Arbeitszimmer werde sollte. Dass das zwei Jahre später als mein Büro unverzichtbar werden sollte, konnten wir damals noch nicht ahnen. Und dann gab es noch ein Zimmer als Atelier für Luke im Obergeschoss, dazu einen Abstellraum, den man aber auch ausbauen konnte, wenn erforderlich.
Und von hier oben konnte man auf den zweiten Balkon, eigentlich der Umlauf für Wartungsarbeiten auf der Flügelebene, gehen und hatte einen Rundumblick, der kaum zu beschreiben war:

Nach Norden auf den Dee Estuary bis in die Irische See Nach Osten den Dee hinaus bis zum Deeside Industrial Park mit den Landmarken Kohlekraftwerk und Schrägseilbrücke, nach Süden auf die Hügelkette hinter der Stadt und nach Westen an ihr entlang.
Der Haken war, dass die Mühle im Verhältnis viele Außenwände hatte und das sich beim Heizen bemerkbar machen würde. Allerdings meinten die derzeitigen Besitzer, dass das wegen der dicken Wände nicht mal so schlimm wäre und im Sommer dafür schön kühl blieb. Und weil sie rund war, ließen sich leider auch größere Möbel kaum sinnvoll stellen, Schrankwände und ähnliches mussten aus kleinen Teilen in der Rundung zusammengesetzt werden. Zum Glück zählte unser Hausstand einige IKEA-Billys, die dafür ganz gut geeignet waren, aber mittelfristig durch etwas rustikalere Möbel ersetzt werden sollten, wie sie die aktuellen Besitzer hatten und die besser zum Ambiente passten.
Chad war begeistert. Luke und ich erst mal nicht ganz so sehr, auch weil der Garten recht groß war und viel Arbeit machen würde. Andererseits war ich eigentlich begeisterter Gärtner und der Beruf wäre damals die Alternative zum Landmaschinenmechaniker gewesen. Nur jetzt war es ein Zeitproblem, da für einen Garten eben nur der Zeitumfang eines Hobbys frei war.

Letztes Objekt war dann ein höheres Haus. Im Erdgeschoss waren eine innenliegende Doppelgarage, ein Duschbad und das potenzielle Eisenbahnzimmer. Eine Treppe im Haus hoch ging in den Flur, außen gab es noch eine Treppe direkt in die Küche mit Essbereich. Hier gab es dann unser Schlafzimmer, das Atelier, die Waschküche und ein Wannenbad. Noch eine Treppe hoch waren ein offener Bürobereich, noch ein Wannenbad, Chads Schlafzimmer und ungewöhnlich weit abgelegen innerhalb des Hauses das Wohnzimmer.
Hier gab es eindeutig zu viele Badezimmer, der Garten war das zu klein, was der an der Mühle zu groß war. Und es war zwar nicht Luftlinie, aber dank des Straßenbildes vom Fußweg her am weitesten vom Stadtzentrum entfernt. Von der Windmühle waren es keine 400 Yards für Chad zur Grundschule und nach der 6. Klasse zur Mittelschule direkt daneben. In die andere Richtung war man nach 500 Yards von der Mühle am Tesco.

Wieder zu Hause nahmen wir spontan noch Mold, Hawarden und Buckley in den Suchradius auf. Denn auch von da konnte Chad in 30 bis 45 Minuten mit dem Bus oder Zug nach Deeside. Aber die Messlatte lag inzwischen verdammt hoch und ein Browser-Tab nach dem anderen ging zu. Mal war der Garten zu klein, dann der Blick verbaut.

Dazu kam erschwerend, dass wir uns die Prioritäten verschieden gelegt hatten. Luke war nach den Besichtigungen in Holywell auf Aussicht und Lage geeicht, ich auf die Möglichkeit, eine Sauna nachzurüsten und Chad auf einen Garten groß genug, um auch mal rumrennen, mit hoffentlich schnell gefundenen Freunden Fußball oder als Familie eine Partie Croquet oder Bowls (der britischen Version von Boule, dank Hohlkugeln mit Schwerpunkt außerhalb des Mittelpunktes nicht so ohne aber durch die eiernden Kugeln sehr lustig) spielen zu können.
Am Ende blieb nur ein Baugrundstück mit Aussicht auf die Rolling Hills, wo wir unser Traumhaus drauf stellen konnten. Der Haken daran war nur, dass Chad entweder die Schule nach ein paar Monaten wieder wechseln musste oder wir mussten ihn in Buckley anmelden und dann bis das Haus bezugsfertig war, jeden Tag dort auf dem (Um-) Weg zur Firma absetzen.

„Du kannst sagen was Du willst. Mein Favorit ist die Windmühle.“ „Meiner auch.“ „Dann sind wir uns ja einig, meiner auch. Kaufen wir die Windmühle“


Donnerstag, 02.08.2018

Heute hatten wir dann einen Termin bei der Bank. Chad durfte ausschlafen, den wollte ich danach abholen. Bei unserer Lage war die Finanzierung kein Problem. Und auch mein deutscher Pass und der bevorstehende Brexit schreckten nicht ab, da die Ehe mir auf jeden Fall Aufenthaltsrecht sichern würde, die Firma ziemlich sicher auch.
Luke fuhr danach direkt zur Firma, ich erst einmal nach Hause, rief den Makler an, dass wir einen Kaufabsichtsvertrag abschließen wollten, der ihn dann ermächtigen würde, die Maschinerie von Banken und Notar in Bewegung zu setzen. In der Zeit frühstückte Chad und dann wollte ich mit ihm mal in der Firma vorbeischauen. Nun waren Ferien und schon mussten wir sehen, wie wir ihn unter bekamen. Aber das war in der Firma kein Problem, irgendwie ließ er sich da schon beschäftigen.

Kaum war ich da, nahm mich aber erst mal Philip in Beschlag: „Gut, dass Du kommst, Ricky. Wen hast Du denn da?“ „Das ist Chad, derzeit rechtlich gesehen Pflegekind und ab Oktober dürfen wir ihn dann adoptieren.“ „Hallo Chad, ich bin Philip.“ Er war so ein Bisschen in den Großvater-Modus gesprungen. Selbst wenn wir die Zeit gehabt hätten, wollten wir unseren Kinderwunsch und dass er sich erfüllte, nicht vorher an die große Glocke hängen.

„Du müsstest mal schnell einen Personaldatenstamm ändern. Da hast ja nur Du die Rechte zu.“ „Huch, welches Personal ändert sich denn?“ „Timo. Er ist am Wochenende umgezogen.“ Ich nahm mir die Daten, loggte mich ein und stutzte bei Postleitzahl und Ort. Holywell CH8 7HU.
Ich griff zum Telefon, das rief nach Klärung: „Moin Chef! Auch wieder im Dienst?“ „Ja, mich wird man nicht los – nicht mal privat übrigens.“ „Wieso?“ „Weil wir Familienzuwachs haben und auch nach Holywell ziehen werden.“ „Wie, Familienzuwachs? Holywell?“ „Den Kurzen lernst Du morgen kennen, wenn Du rein kommst. Und wir kaufen da die alte Windmühle.“ „Echt? Da gucken wir von unserer Terrasse direkt drauf. Das ist Luftlinie eine halbe Meile oder so. Wir wohnen südlich im zweiten Haus am Berg hoch.“ Ich kicherte, Timo war scheinbar inzwischen auch im imperialen Einheitensystem angekommen. „Iestyn unterrichtet ab September an der Ysgol Treffynnon. Zusammenziehen wollten wir ja sowieso, also haben wir einen Bungalow gekauft und in den letzten 2 bis 3 Wochen renoviert, Iestyn konnte dank Schulferien von morgens bis abends streichen und tapezieren und jetzt sind wir drin. Wie alt ist Euer Junge denn?“ „10.“ „Dann noch nicht. Die Treffynnon ist die Mittelschule.“ „Käme er in 2 Jahren aber auch hin.“

Für Chad fand sich Arbeit in der Werkstatt. Ben hatte ein Kleinteilemagazin bekommen und nun mussten die bisher in Verkaufsverpackung in Klappkörben gelagerten Normteile in die nach Bens System farblich Schrauben, Muttern, Scheiben, etc. zugeordneten Stapelkästen geschüttet und die Fächer beschriftet werden. Da hatte er zu tun, aber auf die restlichen Ferien würde das auch nicht aufgehen.

Nach der Arbeit fragte ich ihn also, was er sich denn wünschte, um seine Zeit in den Ferien totzuschlagen. Denn Spielzeug oder so hatte er keins besessen. „Ein Skateboard.“ „Kannst Du schon skaten?“ „Nicht so gut, nur ein paar Mal mit dem Board aus den Sportgeräten vom Heim probiert. Aber es macht mir Spaß.“ „Dann auf zum Sportgeschäft.“ Luke und ich hatten für den Fall, dass wir die Autos tauschen wollten oder mussten, eine abschließbare Box, wo wir die Schlüssel rein legten, bevor einer mit dem Truck weiter weg fuhr. Also legte ich den vom BMW rein und nahm den vom Jaguar raus, es war Offenes-Dach-Wetter.
Chad bekam ein Skateboard, einen Skaterhelm und Schoner für Knie, Ellenbogen und Handgelenke. Dazu ein Heftchen mit Anfängerkurs, was er am besten in welcher Reihenfolge lernen sollte.


Freitag, 02.08. bis Donnerstag, 30.08.2018

Die restlichen Sommerferien waren geschäftig. Ich war meistens im Büro. Chad fuhr ein paarmal bei Luke mit auf den Hull-Pendel oder eine Tagesrunde durch Wales und die Midlands. Ansonsten übte er Skateboard in einer abgelegenen Ecke des Firmengeländes. Schnell hatte er sich auch mit Jake, dem ein Jahr älteren Sohn unseres Nachbarn Jordan angefreundet und blieb auch einige Tage bei dem zu Hause.
Und da wir unsere Finanzierung schnell stehen hatten und auch beim Notar schnell an die Reihe kamen, hatten wir auch schnell unsere Windmühle und konnten renovieren. Hier half Timos Lebensgefährte Iestyn kräftig mit und am Wochenende auch Timo.
Eine Erkenntnis für die Firma, die sich für mich ergab, war vor allem, dass wir bis zu den Herbstferien einen Springer brauchten. Denn nun hatten wir mit Merwyn, Luke und als bisherigem Springer mir selbst drei Fahrer, die wegen Kindern in den Ferien Urlaub nehmen mussten. Und als vierter kam Timo dazu, der zwar nicht mit einem Kind an die Ferien gebunden war, aber dafür mit einem Lehrer als Partner. Also schickte ich eine Stellenanzeige raus.


Freitag, 31.08.2018

Morgens kam eine Lieferung für die Werkstatt, also fragte Ben, ob Chad wieder Normteile einsortieren wollte. So war er am letzten Ferientag erst mal wieder beschäftigt. Nach der Arbeit im Werkstattmagazin kam er aber verunsichert und geknickt in mein Büro.
„Hey, Chad! Was ist denn los?“ „Im Radio haben sie gesagt, dass durch die Verzögerungen bei den Verhandlungen mit der EU immer noch nicht geklärt ist, ob Leute aus der EU nach dem Brexit hier bleiben dürfen. Du musst doch nicht hier weg?“ „Nein. Ich bleibe hier. Das kann ich Dir versprechen, denn es gibt zwei Gesetze, die mir das jetzt schon erlauben würden, egal aus welchem Land ich kommen würde. Erstens gehört mir die Firma. Ausländer, die Geld im Land investiert haben, sind berechtigt, eine Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen. Noch viel wichtiger ist aber, dass Luke und ich verheiratet sind. Und wer mit einem Briten verheiratet ist, bekommt sozusagen automatisch eine Aufenthaltsgenehmigung. Und nach einem halben Jahr ist der Spuk vorbei. Ende 2019 darf ich einen britischen Pass beantragen. Und das werde ich tun, koste es was es wolle – und wenn das meine deutsche Staatsbürgerschaft ist!“
„Danke. Ich will, dass wir zusammenbleiben. Es ist so schön bei Euch.“
Dieses Bekenntnis freute mich sehr. Und als Luke in der Mittagspause aus Hull anrief, erzählte ich es ihm natürlich sofort.

Nachdem es in den letzten Wochen an Urlaub, Mehrarbeit für die Nicht-Urlauber und Renovieren gescheitert war, sollte es heute nach der Arbeit mal wieder Firmenband geben. Zwar waren wir noch nicht fertig in der Mühle, aber lagen gut im Plan.
Chad lümmelte sich gelangweilt auf einen Stuhl, während wir ein Bisschen Guns N‘ Roses spielten. Iestyn konnte irgendwann den Musiklehrer nicht mehr verstecken. „Hey, Chad! Spielst Du kein Instrument?“ „Geige…“ brummte er mehr als es zu sagen. „Kann ich Dir eine nächstes Mal mitbringen.“ „Hardrock mit Geige?“ Chad klang skeptisch. „Klar. Spielen wir derzeit mit dem Keyboard.“ „Bleibt aber ein uncooles Instrument mit Design aus Achtzehnhundertirgendwas. Und wie soll ich gegen Euch ankommen?“ „Die hat ein eingebautes Mikrofon. Besser sieht sie davon nicht aus, ich nenne das Ding selbst immer Steckdosenstradivari. Aber mit Verstärker und vielleicht noch einen Effekter mit Vervierfachung davor, dann spielst Du alleine ein elektrisches Geigenquartett und gehst nicht unter. An uns gab er das Kommando für den Beweis, wie Metal mit Geige klingen konnte: „Rhapsody! Riding the Winds of Eternity!“

Ben spielte den Streicher-Teil auf seinem Keyboard. Chad sah so aus, als würde er das doch gerne mal probieren, jedenfalls packte er die Luftgeige aus. „Und sonst? Kannst Du singen?“ „Dank meiner Pflegekraft ja. Klassischen Knabensopran! Auch sehr hilfreich in einer Band.“ Die „Pflegekraft“ war sein Spottname für die Pflegemutter, die vergeblich versucht hatte, aus ihm einen Musterknaben zu machen. So lange er sich unter Mitmenschen benehmen konnte, uns gehorchte und gepflegt aussah, würde er bei uns so wild sein können, wie er wollte. Wobei eigentlich jede Schule in der Schulordnung „unangemessenes Aussehen“ verbot. Wir hatten es aber selbst als Teenager wild und bunt mit unserem Aussehen getrieben.
Mir kam bei Sopran ein Geistesblitz und ich flüsterte ihn als erstes Iestyn ins Ohr, der schon mal den Akkord auf seinem Keyboard anschlug. Dann ging ich von einem zum nächsten, was ich vorhatte. Iestyn begann den Orgelteil, Ben mit dem zweiten Keyboard das Glockenspiel. Und da bemerkte Chad, was das war und dass Tarja auch klassische Sopransängerin gewesen war. Er kam angerannt, nahm das Mikrofon aus dem Ständer, an dem Iestyn eben gesungen hatte, Timo schlug den Bass an und das war Chads Einsatz für Nightwishs „Sleeping Sun“. Gut dass ich ihn das Lied hatte im Auto mitsingen sehen.

Ich hatte das Gitarrensolo Lewis überlassen, trotz des getragenen Liedes grinste Chad über beide Ohren. Und als das Lied zu Ende war, rief er durch den Raum „Great! Now it’s happening what I did EVER!!! DREAM!!!!!“ Während der Musiklehrer in Iestyn noch begeistert von Chads Stimme war, erkannte Ben die Aufforderung für das nächste Lied, registrierte sein Keyboard um von Glockenspiel auf Klavier und schnappte Iestyn das Intro weg.

Danach waren wir der Meinung, wir bräuchten eine Pause – alle außer Iestyn jedenfalls. Denn er spielte wieder Keyboard. Es stand auf der skurrilen Instrumentenauswahl Flöte und er spielte, was wir alle schnell als den Instrumentalteil aus der Musical-Version von „Can you feel the Love tonight“ erkannten. Was wurde das denn?

Entsprechend spielte Ben dann einfach mal die Akkorde mit Einstellung Streichorchester in den Hintergrund, es war ja ein klassisches I-V-vi-IV 4-Akkord-Muster. Luke klimperte ein Bisschen passend auf dem Becken rum, Lewis und ich mussten zuhören, weil E-Gitarren da nicht so wahnsinnig toll zu passten.

Dann ging Iestyn vom Keyboard weg und mit Nalas Text auf Timo zu:
Can you feel the love tonight?
You needn’t look too far
Stealing through the night’s uncertainties
Love is where we are.
Am Ende dieser Zeile kniete Iestyn sich und hielt Timo einen Ring hin.
And if he feels the love Tonight
In the way I do

Timo schlug überwältigt die Hände vors Gesicht. Dann ging er auch auf die Knie, umarmte Iestyn und übernahm mit vor Emotionen ziemlich zitternder Stimme Simbas Text:
It’s enough for this restless Wanderer
Die letzte Zeile sangen sie zusammen.
Just to be with you.

Nach der musikalischen Verlobung von Timo und Iestyn war die Session natürlich beendet. Wir beschlossen spontan, ins Wok-1 zu gehen. Ein Chinese und eins der beiden Restaurants in Shotton, in dem man vernünftig sitzen und vernünftig essen konnte. Es gab noch zwei Inder. Einer vergleichbar zum Chinesen, der andere schied mit besseren Stühlen, aber dafür leider umso schlechterem Essen aus. Der Rest waren Imbissbuden oder Bringdienste mit eher provisorischer Sitzgelegenheit an einer Wandtheke auf Barhockern.
Iestyn und Timo luden uns zu All You Can Eat ein, Getränke jeder selbst. Der Kellner stellte eine Frage, die wir uns selbst noch nicht beantwortet hatten. „Wie groß ist denn der junge Mann?“ „Warum?“ „Unter 4‘5“ kostet es für Dich £ 7.25 und zwischen 4‘5“ und 5‘2“ £ 9.95.“ „Keine Ahnung.“ „Dann einmal hier an die Wand mit der Skala bitte.“
„4‘5½“ Dann wären das für die Gruppe £ 75.65.“ Damit wäre die Frage auch beantwortet, 136 Zentimeter. „Danke Chad! Die 12 Millimeter hättest Du den Kopf auch einziehen können!“ Ach, Timo. Nachdem ich aus eigener Erfahrung beurteilen kann, was an Kosten grob auf Euch zukommt, würde ich mal sagen, dass es dann auf £ 2.70 für ein Verlobungsessen auch nicht mehr ankommt. Das erste, was man während der Hochzeitsvorbereitungen bekommt, ist ein entspanntes Verhältnis zu großen Zahlen.“ „Auf Dich kommen auch gleich Kosten zu, wenn Du ja sagst, Herr Trauzeuge.“ „Na logisch sage ich ja.“ Ich hatte eigentlich auch nichts anderes erwartet.
Nach dem Essen machten wir uns alle auf den Heimweg. Lewis war kürzlich 17 geworden und war nun mit einem 4 Jahre alten Nissan Pulsar unterwegs, den er von seiner Mutter bekommen hatte, als die nach einem Bandscheibenvorfall auf einen Renault Captur mit höherer Sitzposition umsteigen musste. Bevor er Auto fahren konnte, war es immer schwierig, wenn wir etwas länger machen wollten, weil er entweder einen Zug kriegen musste oder seine Eltern ihn holen mussten, zumindest in Glan-y-don, dem Wohnort von Ben und immer noch 8 Meilen von seinem Elternhaus in Prestatyn.


Samstag, 01.09. und Sonntag, 02.09.2018

Am Samstag standen die letzten Schulsachen auf der Einkaufsliste, außerdem gab es weitere Dinge zur Renovierung. Chads Zimmer war weiß gestrichen und dann holte Luke seinen berühmten Karton mit Dosen hervor. Unter Chads erstaunten Blicken entstand an der Wand ein Bild, das unverkennbar eine Comic-Version von ihm auf dem Skateboard durch die Mauer springend zeigte – original mit fliegenden Ziegelsteinen und ungefährer Darstellung dessen, was man durch das Loch draußen sehen würde. Drunter stand in typischer Graffitischrift „Skater Power“.
„Bring ihn nicht auf dumme Gedanken!“ „Wenn er Airbrush und Graffiti lernen will, gerne. Vor allem von mir. Denn dann würde ich illegale Dummheiten von ihm am Stil schneller erkennen, als die Farbe trocken ist!“
Zum Glück galt ein Grade II Listing nur für die „wesentliche Außenansicht.“ Innen konnten wir machen, was wir wollten, außen durften wir Details so ändern, dass der Stil des Gebäudes trotzdem erhalten blieb. Die Vorbesitzer hatten bei der Restaurierung nicht nur die vorher naturbelassene Außenfassade geweißt, sondern auch die große, drehbare Dachkuppel mit den Flügeln durch das kleinere, feststehende Dach und den Holzbalkon ersetzt, die Flügel waren abgebaut worden und nur noch das gusseiserne Kreuz an dem sie mal angeschraubt waren, war wieder angebracht worden. Das war bei Grade II alles erlaubt, weil die Anmutung einer historischen Mühle erhalten blieb. Panoramafenster oder Metallbalkone mit Glas unterm Geländer wären zum Beispiel verboten – abgesehen davon, dass das nicht nur baurechtlich sondern auch ästhetisch mit Höchststrafe zu belegen wäre.

Und auch der Sonntag war uns nicht heilig, denn je früher wir umziehen konnten, umso besser war das am Ende für unseren Alltag. Der von Chad würde morgen ein paar hundert Yards von hier losgehen.
Im Baustellenradio hörten wir aber erst mal das erste Familienderby. Unsere Fußballsaison hatte schon am vergangenen Dienstag damit begonnen, dass in der zweiten Runde des League Cups Everton genauso souverän gegen Rotherham 3:1 gewonnen hatte, wie Cardiff eher unsouverän 1:3 gegen Norwich rausgeflogen war. Arsenal stieg erst in die dritte Runde ein, insofern hatte Chad pokalseitig noch nichts zu befürchten.
Am Ende verlor Cardiff City das Ligaspiel 2:3 gegen Arsenal. Dass unser Junior uns bei diesem Thema die meisten langen Nasen drehen würde, war uns aber schon vorher klar gewesen.

Montag, 03.09.2018

Am Montag begann dann seine „Arbeit“. Anstatt ihn für schlanke £ 6 am Tag nach der Schulzeit betreuen zu lassen, bekam er einen Schlüssel für die Mühle und konnte schon mal Hausaufgaben machen, bis der erste von uns dann 45 Minuten später oder so rüber kam. Das wäre heute Luke, der schon vor 5 aufgestanden war und seine Tour nach Hull begonnen hatte.
Ich war gegen halb 7 aus dem Bett gekrochen, hatte mich fertig gemacht und dann Chad ins Bad geschickt. Nun frühstückten wir im Trainingsanzug. Kleiner Trick, um nicht schon wegen einer Unachtsamkeit am Frühstückstisch die Arbeitskleidung wechseln zu müssen.

Nach dem Frühstück ging es in die Uniformen. Bei mir war das eine beige Jeans und ein blaues Polohemd mit Firmenlogo. Bei Chad gab es dank sommerlicher Temperaturen lila Shorts, ein weißes Polohemd, und lila Socken in schwarzen Schuhen.
Insgesamt war es schon eine ziemlich dicke Rechnung gewesen, bis die Schuluniformen für jedes Wetter, den Sport- und Schwimmunterricht – ja, sogar eine lila Badehose mit Schulwappen gehörte jetzt zum Inventar von Chads Kleiderschrank – zusammen war. Und die Sachen würden wohl nicht bis zum Schulwechsel halten, da würde er in den zwei Schuljahren noch mindestens einmal, eher zweimal raus wachsen. Hoffentlich waren wir bis dahin ein Bisschen in Holywell vernetzt und konnten eine gebrauchte Uniform bekommen. Meistens wurden die ja nur 8-10 Monate getragen und es war nichts dran, wenn sie nicht mehr passten. Sie waren aber eben auch begehrt und deshalb schwer zu bekommen, wenn man nicht gerade Verbindungen ausnutzen konnte.
Ich fuhr Chad im BMW 20 Minuten nach Holywell und setzte ihn an der Schule ab. „Ysgol Maes y Felin“ hieß auf Englisch „Mill Field School“, also „Mühlenfeld-Schule“. Das führte zu der kuriosen Situation, dass Chad sein künftiges Zuhause im Wappen auf der Schuluniform hatte, denn dort war die Mühle abgebildet, allerdings im Urzustand mit grauen Mauern, großem Dach und Flügeln.

Danach fuhr ich ins Büro, wo mich unser Lagerhilfsarbeiter Rafal überraschte. Eingeplant war er nämlich heute nicht, auch wenn noch Semesterferien waren. Aber die Trucks waren alle vorgeladen, vor morgen kam auch kaum was Neues rein. „Kann ich kurz mit Dir sprechen, Ricky?“ Ich bat ihn in mein Büro, wegen Lewis Ausbildung saß ich ja normalerweise im Dispobüro.
„Wie kann ich Dir helfen?“ „Ich hätte mich bis vorgestern wieder an der Universität einschreiben müssen. Aus Hoffnungslosigkeit habe ich das aber spontan sein lassen. Mit meinen Noten werde ich nur einen befriedigenden Bachelorabschluss machen und die Professoren haben in der Klausurbesprechung schon gemeint, dass der Master eher eine halbe Note schlechter wird. Mit solchen Abschlüssen brauche ich mich dann aber erst gar nicht zu bewerben. Was ich kann, ist Lagerlogistik, nachdem ich hier in den vergangenen 2 Jahren gearbeitet habe. Ich würde gerne Vollzeit anfangen.“ „Das muss ich natürlich auch mit Gary besprechen. Er ist immerhin Lagerleiter.“
Also rief ich als nächstes Gary zu mir und besprach die Lage kurz mit ihm. Er sah zwar nicht die Möglichkeit, Rafal eine Vollzeitstelle zu geben, aber schon jetzt um die 30 Stunden in der Woche beschäftigt zu halten. Und der Antrag für das Kühllager war immer noch schwebend unwirksam, aber nicht abgelehnt. Ich machte mir eine entsprechende Notiz auf der To-Do-Liste. Wir boten also Rafal eine Stelle, die es ihm ermöglichte, ein einigermaßen brauchbares Einkommen zu erzielen und andererseits uns zu nichts verpflichtete, was wir ihm nicht auch an Beschäftigung geben konnten. Er sagte zu.

Nachmittags kam Luke früh rein, stellte den Truck ab und fuhr nach Holywell. Er sollte problemlos sogar vor Chad zu Hause sein, aber er war auch gut an Manchester und Leeds vorbeigekommen und in Hull relativ schnell bedient worden. Seine Runde konnte auch gerne mal eine Stunde und mehr länger dauern als heute. Ich folgte dann nach zwei Stunden, als ich im Büro fertig war.
Und abends folgte dann die erste Unterschrift als Eltern. Chad hatte sich natürlich nicht vor den Ferien für die Fremdsprache einwählen können, weil zu dem Zeitpunkt noch niemand wusste, dass er nach den Sommerferien hier die Schule besuchen würde. „Ich würde ja gerne Deutsch nehmen.“ „Schon klar. Die gute Note ist Dir sicher. Aber nix da. Das lernst Du zu Hause auch so. Sieh die Schule als Möglichkeit, mehr zu lernen als in der Familie und nicht die Familie als Möglichkeit, in der Schule gut zu sein. Französisch oder Spanisch?“ „Dann Spanisch.“ „Kriegt Timo irgendwann einen Gesprächspartner.“ „Warum?“ „Weil der in Lateinamerika aufgewachsen ist. Durchs Geburtsrecht hat er sogar einen mexikanischen Pass. Der spricht Spanisch wie eine Muttersprache. Das kann für Dich zum Üben dann auch mal gut sein.“


Samstag, 15.09.2018 bis Sonntag, 16.09.2018

Und so gingen zwei Wochen rum, bis wir am 15.09. so weit waren, dass wir umziehen konnten. Umzugswagen wurde Lukes FH16 mit einem der Fruehauf-Trailer, weil der Volvo dank Backlift den kürzesten Radstand fürs knappe Rangieren in Wohngebieten hatte und eine Hubbühne am Trailer beim Umzug nie verkehrt war. Iestyn und Timo halfen beim Möbel tragen.

Und nachdem Timo schon einige Umzüge und Umbauten während unserer Zeit in Bochum mitgemacht hatte, kannte er die Tradition. Ursprünglich stammte das von meiner Mutter, die das schon immer so gehalten hatte und ich hatte es seit meinem Auszug aus dem Elternhaus übernommen. Bei Renovierungen oder Umzügen gab es grundsätzlich Lauch-Hackfleisch-Käse-Suppe. Die konnte man morgens einfach vorbereiten, indem man Hackfleisch anbriet, den Lauch dazu gab und dünstete und dann alles mit kalter Brühe ablöschte und quasi abschreckte. Dann noch Sahne und gewürfelten Schmelzkäse einrühren, kalt stellen und einfach vor der Mittagspause auf den Herd damit und aufkochen. Der Käse konnte dann schmelzen und ein sättigendes Essen für die ganze Armee Umzugshelfer war schnell fertig.
Natürlich machten wir auch eine Runde durch das Haus und als Timo und Iestyn die nachgerüstete Sauna sahen, waren sie einerseits begeistert, andererseits enttäuscht: „Schon toll so was, nur bei uns passt die nirgends hin.“ „Wir können uns ja hier bei uns zu Saunaabenden verabreden. Man ist sowieso immer 15 Minuten drin und 15 Minuten draußen. Können in den Pausen ja die anderen rein. Und Ihr wohnt ja im wahrsten Sinne des Wortes um drei Ecken.“ Es waren knapp über 1000 Yards oder in kontinentalen Einheiten 900 Meter zu ihnen und dabei musste man wirklich genau 3-mal abbiegen.

3 Kommentare zu „Kapitel 112 – New Kid in Town

  1. Hallo TurboStar ich bin ein grosser Fan deines Tagebuches habe dich schon bei TSM verfolgt.

    Ich habe da mal eine Frage hast du von den anderen Schreiber (Dachser_Kutscher, Deichgraf, Viking1971, Sauerländer die zwei ersten Tagbücher, alaskabaer01, Iceman684) die Tagebücher von der TSM leider ist auf der TSM Seite über http://web.archive.org viele Kapitel nicht mehr zu finden ich würde mich freuen wen du die hast und mir geben köntest oder mir ein Tip geben kanst wo ich sie bekommen kann.

    MfG Markus Rabke

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    1. Hallo Markus,
      Leider nicht und wenn ich die hätte, wäre das Weitersenden auch urheberrechtliches Grauland. Wir haben intern noch gelegentlichen Kontakt, aber leider schreibt derzeit keiner Tagebücher oder veröffentlicht zumindest auch leider niemand außer mir alte Stories aus dem Archiv.
      Viele Grüße, Mirko

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