Kapitel 113 – Kanon in D

Montag, 17.09. bis Sonntag, 23.09.2018

Ab Montag wurde es nun einfacher, unsere Morgenroutine abzuhandeln. Es entfielen die 20 Minuten Fahrt von Shotton zur Schule nach Holywell, um sie dann wieder in die Firma zurück zu fahren. Ich hatte diese Woche wieder morgens „Kinderdienst“, Luke dürfte schon im Großraum Leeds-Bradford unterwegs sein. Inzwischen hatte er raus gefunden, dass er am besten seine Frühdienste so legte, dass er spätestens 5:30 in Deeside abfuhr. Dann war er vor dem Berufsverkehr an Leeds vorbei und nachmittags sogar vor Chad wieder zu Hause. Spät ging er zusammen mit Chad aus dem Haus und fuhr um 9:00 in Deeside ab, kam dann aber auch erst gegen 18:00 wieder nach Hause.
Also bereitete ich für uns Porridge zu, das klassisch britische Frühstück, das hier den Stellenwert von Müsli in Deutschland hatte. Auch ich verließ das Haus zusammen mit Chad und war dann gegen 8:45 im Büro. Das würde mir gegen 17:15 Feierabend bescheren und dann war ich zwischen 17:30 und 17:40 wieder zu Hause.
Derjenige, der nachmittags früh mit der Arbeit aufhörte, machte dann das Abendessen. Chad nahm nicht am Kantinenprogramm der Schule teil sondern nahm sich für die Pause Obst und ein Sandwich mit. Das gemeinsame Abendessen zu dritt war nämlich schnell unser Familienritual geworden – der Zeitpunkt, wo wir alle drei zusammen sitzen und unsere Neuigkeiten austauschen konnten, Pläne für die nächsten Tage schmieden und mal Spaß haben. Manchmal beschlossen wir spontan, auch einfach sitzen zu bleiben, das Kartenspiel zu holen und eine Runde zu spielen. So hatten wir es in meiner Familie früher auch oft gemacht.

Im Laufe der Woche kam dann auch jemand vom Children and Family Court Advisory and Support Service. Das war nicht der erste Besuch vom hiesigen Jugendamt, aber weil wir jetzt in unserem endgültigen Eigenheim wohnten, der mit dem größten Interesse am Alltag. Die beiden Sozialarbeiter sahen sich unser Anwesen an, sprachen mit uns allen als Familie und mit jedem von uns einzeln.
Uns keine Rückmeldung zu geben, war Teil der Angelegenheit. In Deutschland fiel das wahrscheinlich unter „nicht kritisiert ist genug gelobt.“ Zumindest war das etwas, das wir an Informationen von Leuten finden konnten, die vor uns durch dieses Prozedere gegangen waren.
Wir waren jedenfalls glücklich mit Chad und er scheinbar auch mit uns. Entgegen allem, was wir allgemein nach den Vorbereitungsgesprächen und speziell bei seinem Vorleben hätten befürchten können, war er ein lieber Junge und ein Glücksgriff. Dass das nicht immer so sein würde und wir auch mit ihm mal Ärger bekommen konnten, war uns klar.
Aber zu zwei der Elternpaare aus dem Vorbereitungskurs hatten wir noch gelegentlichen Kontakt, weil die eine Mutter im Deeside Industrial Park arbeitete und man sich mal mittags am Imbisswagen traf, die anderen wohnten im Nachbarort Carmel, was den Tesco hier ums Eck zur nächsten Einkaufsmöglichkeit machte. Und bei dem einen war das Zusammenleben mit dem Mädchen, das sie aufgenommen hatten, eher als „durchwachsen“ zu bezeichnen. Die anderen wollten ihren Jungen wieder zurückgeben und hinterfragten sich generell, ob sie einen zweiten Versuch mit einem fremden Kind wagen sollten.

Am Freitag wurde die Routine für eine Kurzreise durchbrochen. Luke fuhr nach seiner Hull-Runde nach Holywell und holte Chad mit dem BMW direkt von der Schule ab. Dann kamen sie zur Firma zurück und ich stieg auch ein. Wir mussten einen Flug in Manchester kriegen, denn am Samstag hatte meine Mutter Geburtstag und einer ihrer Wünsche war natürlich, nach 7 Wochen endlich ihren Enkelsohn in Spe kennen zu lernen.

Am Flughafen dann kam eine Nachricht aus Bochum. Es war ein Foto von Marlon, auf dem er sich zu Judith ins Krankenhausbett beugte und vor ihnen lag ein Baby: „Wir sind zu dritt. Am 21.09.2018 um 17:35 Uhr erblickte Torben-Julien Franke das Licht der Welt.“ Sie führten also die Tradition mit einem deutschen und einem französischen Vornamen fort und bei dem zweiten Vornamen schien Julian die Ehre der Patenschaft zuteil zu werden.
Und weil wir bisher zwar mal erwähnt hatten, dass wir Chad als Pflegekind mit Adoptionsabsicht aufgenommen hatten, aber vor lauter Baustellentrubel noch nie ein Foto an unsere Freunde in Deutschland geschickt hatten, machten wir auch gleich ein Selfie von uns. „Von uns drei alles Gute den frischgebackenen Eltern. Luke, Chad und Ricky!“

In Düsseldorf übernahmen wir unseren Mietwagen, einen Volvo V40, und fuhren nach Marsberg. Wir hätten uns natürlich auch in einer Pension einquartiert, aber meine Mutter bestand darauf, dass wir weiter bei ihnen übernachteten. Luke und ich hatten wie immer das Gästezimmer, für Chad fand sich als Schlafstätte das Klappsofa in ihrem Näh- und Handarbeitszimmer.
Und das nahm er um 23 Uhr, auf der inneren Uhr auch schon 22 Uhr, schnell in Anspruch. Das richtige Kennenlernen folgte also am Samstag beim Frühstück. Meine Mutter sprach nicht viel Englisch, mein Vater so gut wie gar keins. Chad konnte bisher auch kaum Deutsch, so dass Luke und ich vor allem als Übersetzer gefragt waren.

Am frühen Nachmittag kam dann meine Schwester mit Mann und Kindern. Lena und Chad mit 10 Jahren waren in dem Alter, in dem das andere Geschlecht grundsätzlich doof war. David war zwar deutlich jünger als Chad, aber die beiden waren bald mit Matchboxautos auf dem Straßenteppich beschäftigt. Verkehrsregeln wurden ohne gemeinsame Sprache mit Händen und Füßen ausdiskutiert. Allerdings musste Chad manchmal von David mit einem empörten „Andere Seite!“ und nachdrücklichem Zeigen auf die entsprechende Fahrbahn auf die kontinentalen Gewohnheiten des Rechtsverkehrs hingewiesen werden.
Und das ließ beide auch nicht los, als zur Kaffeetafel gerufen wurde: „Na, habt Ihr schön gespielt?“ wollte meine Schwester wissen. „Ja. Aber Chad will immer auf der falschen Seite fahren.“ Mein Schwager musste nach allgemeinem Gelächter erklären: „Das kennt der nicht anders. Da drüben fahren sie links. Du kannst Dich doch vielleicht noch dran erinnern. Als wir vor 2 Jahren auf Rickys und Lukes Hochzeit waren, da mussten wir vom Schiff zu ihnen auch links fahren.“ „Warum machen die das denn?“ „Das weiß man nicht so genau. Das war schon immer so. Es gibt aber viele Länder auf der Welt, wo wie bei ihnen links gefahren wird. Japan, Indien und Australien sind ein paar große. Muss man akzeptieren. Aber hier sollte er natürlich rechts fahren. Wenn wir sie mal besuchen und Ihr spielt da mit Autos, musst Du aber dann auch links fahren!“
Auch Chad hatte so seine Probleme damit: „How do you manage to switch roadside immediately? I didn’t want to upset David but automatically started driving on the wrong side so often.” “A rental car with the wheel on the correct side for the country makes things easier. But we are just used to changing. No matter of driving left or right in a car or lorry with the wheel on either side. If you travel internationally as often as we do, you just do it correctly without thinking.”

Am Sonntag nach einem ausgiebigen Brunch fuhren wir nach Düsseldorf zurück und flogen nachmittags nach Manchester. Gegen 20 Uhr waren wir wieder zu Hause. Im Auto erfuhren wir, dass fußballerisch auch heute Chad der Gewinner war. Arsenal gewann zu Hause gegen Everton 4:2.


Montag, 24.09.2018 bis Freitag 28.09.2018

Am Montag vor Abfahrt hatte ich erst einmal zur Betriebsversammlung eingeladen. Es gab ein paar Dinge zu regeln. Die letzte halbe Stunde vor der Schule musste Chad deshalb alleine klar kommen, weil Luke mit nach Deeside musste.

„Hallo Leute! Es gibt eine Neuigkeit. Und zwar wird die Firma Wyatt & Stack sich in einem Monat auflösen. Ich will nicht in die unschönen Details einsteigen, auch eine Unternehmenstrennung ist Scheidungskrieg. Für uns heißt das, dass wir mit Kevin Stack weiter arbeiten werden, aber der vorrangig die East Midlands und angrenzende Gebiete bedient. Die Kooperation mit Richard Wyatt wird enden. Für sozusagen die West-West-Midlands und südöstliches Wales müssen wir jetzt selber sorgen. Kurzfristig wird das bedeuten, dass Davey schwerpunktmäßig Verteilerverkehr fährt, sich allenfalls mit Luke im Hull-Pendel abwechseln wird. Ihr werdet mehr Ladestellen in diesem Gebiet direkt bedienen. Dann werden wir entweder eine neue Partnerfirma auftun oder uns einen zusätzlichen Fahrer suchen, um es selbst abzudecken.
Das bringt uns allerdings zu einem weiteren Problem, dem Brexit. Wir haben immer noch keinen klaren Kurs aus Westminster, wie die zukünftige Zusammenarbeit mit der EU aussehen soll. Daher habe ich Bauchschmerzen, einen zusätzlichen LKW zu kaufen und einen weiteren Fahrer fest anzustellen. Wenn sie einen harten Brexit hinbekommen, sei es nun taktisch oder aus Versehen, weil sie bis zum 29.03. nichts auf die Beine gestellt bekommen, dann hätte ich gerne so wenige Verpflichtungen wie möglich. Ich hoffe schon, dass wir dann alle weiterhin Arbeit haben, so wie wir hier stehen. Viele unserer Transporte hier sind direkt oder indirekt für die hier ansässigen Airbus, Toyota und andere Unternehmen, die schon jetzt drüber nachdenken, auf den Kontinent zu wechseln, sollte es keinen Freihandel mit der EU geben.
Der erste Leidtragende ist Merwyn, denn Du wirst Deinen DAF weiter fahren müssen, auch wenn er turnusmäßig zum Austausch dran wäre.“
„Vielen Dank auch! Das freut Dich jetzt? Wäre heute Referendum würde ich Remain wählen!“ Dass er Leave gewählt hatte, wusste man inzwischen. Und dass ich natürlich als Besitzer eines auf Außenhandel mit der EU angewiesenen Unternehmens mit dem Brexit damals und in der Hauptsache auch noch heute nicht so glücklich war, ebenfalls. „Was Du damals gewählt hast, interessiert mich nicht die Bohne, auch wenn es sich herumgesprochen hat. In einer Demokratie war und ist das Dein gutes Recht und wenn ich wählen dürfte, dann würde ich bei dem morgigen Referendum, das Du Dir vorstellst, wahrscheinlich Leave wählen und übermorgen mit dem Bau der Kühlhalle anfangen können, die derzeit an Eingriffen der EU in den freien Wettbewerb scheitert, weil sie die Region gefördert hat und nun der Stadt die Regeln diktiert, wer hier wieviel von welchem Gewerbe treiben darf! Dass es nun Dich erwischt ist Zufall und ich verspreche Dir, dass Du den nicht bis zu dem Meilenstand haben wirst, wie es Davey, Timo und Alex mussten. Aber stell Dich mal drauf ein, dass es Frühjahr 2019 werden kann, sofern das Parlament vorher nichts gebacken kriegt. Fragen? Anregungen? Kritik von Eurer Seite? Irgendwelche Probleme, von denen ich bisher nichts weiß?“
Ben meldete sich zu Wort: „Auch wenn ich Dir jetzt gefühlt ein Bisschen in den Rücken falle, ein zusätzlicher Truck wäre dennoch nicht verkehrt. Dann müsste ich nicht immer Rücksicht auf freie Tage nehmen und wenn es nur einer ist wäre ich nicht so unter Zeitdruck. So muss immer Lukes schon fast historischer Volvo FH in den Ersatzdienst.“ Der sprang auch gleich in die Bresche: „Ich bin da mit Ricky auf einer Linie. Lass uns erst mal abwarten wie der Brexit wird und welche Folgen er hat. So lange kann mein FH16 als Ersatzfahrzeug her halten, wenn Ricky nicht einen anderen Truck bis dahin kaufen will.“

Weitere Fragen gab es nicht, also gingen Lewis und ich in die Dispo und wir händigten den Fahrern ihre Papiere aus. Merwyn ging grummelnd an die Arbeit. Alex, Shawn und Luke ließen sich ihre Unterlagen so aushändigen. Timo und Davey sprachen in der Ecke Deutsch. Als nur noch sie beide übrig waren, fragte Timo mich, ebenfalls auf Deutsch: „Was bedeutet das denn mit der Gefahr vom harten Brexit am Ende für uns beiden?“ „Tut mir leid, meine Glaskugel ist runter gefallen. Ich weiß es nicht. Für Davey Sicherheit bis zum Ende der Ausbildung. Die ist hier genauso geschützt wie in Deutschland. Wenn ich heute sagen könnte, wie die Lage im Mai nach der Abschlussprüfung ist, wäre ich froh. Ich hoffe, ich kann Dich übernehmen.
Das gleiche gilt im Prinzip für Dich, Timo. So lange genug Arbeit da ist, muss hier niemand gehen, auch Du nicht. Und wenn es zu wenig Arbeit wird, muss ich einen Sozialplan aufstellen, der hier aber nicht so aussieht wie in Deutschland, weil das Deutsche Prinzip von Bonus auf Alter, Betriebszugehörigkeit und Familie nach britischem Recht eine Diskriminierung junger, unverheirateter und kinderloser Angestellter wäre.
Aber das sind ungelegte Eier. Ich lasse niemanden einfach hängen von meinen Angestellten. Und Euch zwei schon gar nicht, dazu verdanke ich Euch einfach zu viel. Im besten Fall gibt es keinen Sozialplan und im schlimmsten muss ihn hier niemand fürchten, der es in Deutschland müsste. Eure Chancen hängen hier von anderen, rein beruflichen Faktoren wie Qualität der Arbeit ab.“
Ich hoffte wirklich, ich würde nie das „Employee Redundancy Program“ einleiten müssen.

Dienstagabend bekam Chad den nächsten Grund zum Jubeln, Arsenal besiegte mit Brentford nicht eben eine Fußballmacht 3:1 in ihrem ersten Spiel des League Cups.

Am Freitag legten wir nach der Arbeit mal wieder eine Band-Session ein, kurzerhand bei uns in die Mühle. Luke wollte das Schlagzeug nicht runter tragen, in den BMW packen und in der Firma wieder aufbauen. Timo und Iestyn wohnten sowieso in der gleichen Stadt, für Lewis lag es an einem der beiden möglichen Wege und für Ben waren es 4 oder 5 Meilen Umweg.
Und Iestyn hielt Wort, brachte die E-Geige, ein Effektgerät und einen Verstärker mit. „Ich kann aber nur Pachelbels Kanon auswendig. Noch bevor er die Geige angesetzt hatte, fing Timo auf dem Bass an, den Cellopart zu zupfen. „Ach, kannst Du das auch?“ „Ich bin nicht als Bassist geboren sondern habe mal Cello gelernt. Und deshalb kenne ich auch die schlimmste Cellopartie der Musikgeschichte!“ „Wieso schlimmste?“ „Weil es ganze 8 Viertelnoten sind, die Du die ganze Zeit wiederholst. D-A-H-Fis-G-D-G-A!“ „Ach so…“ „Ja, 54-mal muss man das als Cellist spielen, während Ihr Euch mit Euren Geigen vergnügt! Ich habe es nachgezählt, weil ich nichts Besseres zu tun hatte! Und wenn Du nicht bald anfängst, knacke ich die 70!“
Die sollte er locker knacken, denn nicht nur, dass Timo von Ben und Iestyn auf den Keyboards Gesellschaft mit dem Grundthema bekam. Auch Lewis und ich auf den Gitarren spielten die zweiten und dritten Einsätze der Geigenstimmen zum echten Kanon oder improvisierten Soli drüber. Und auch Chad kannte einige ziemlich schwierige Variationen des Themas, so dass wir uns am Ende über 8 Minuten mit Pachelbel und seinem Kanon in D beschäftigten. Chad hatte richtig Spaß damit und war überrascht, wie gut sich die Geige mit den Instrumenten einer Rockband mischte. Und weil sonst keiner von uns Geige spielen konnte, schien er auch ein Bisschen stolz auf sein in der Runde einzigartiges Talent zu sein.
Ansonsten sang er natürlich wieder vor allem Nightwish und wünschte sich, dass wir das Album „Of Wars in Osyrhia“ von Fairyland ins Programm aufnahmen. Denn auch dort gab es mit Elisa Martin eine Sängerin, die in seiner Stimmlage war. Iestyn wollte sehen, ob er Noten bestellen konnte. Außerdem ließ er Chad zum Üben Noten von Rhapsody, Avantasia und Dragonforce da, die Geigenstimmen enthielten.
„Wie lange darf ich die Geige denn behalten?“ „So lange, bis sich entweder der eigentliche Besitzer mal bei mir meldet und sie zurückhaben will. Die gehört einem Mitglied meiner Studenten-Boyband. Oder bis Du sie nicht mehr willst oder brauchst. Doch nicht so uncool?“ „Na ja. Verglichen zu Lewis Gitarre oder Timos Bass sieht sie schon langweilig aus.“ Die beiden waren mit einer Jackson Rhoads und einem Santander Metal aber auch sehr extravagant unterwegs. Meine billige Yamaha Pacifica war dagegen langweilig, da half auch die Sonderfarbe „Amber Burst“ nicht viel.
Nach der Musik ließen wir uns Pizza liefern und verabschiedeten nach dem Essen unsere Freunde. Und wir hatten das Gefühl, unseren Jungen mal wieder zufrieden und glücklich ins Bett zu schicken.


1. Oktoberwoche 2018

Das erste große Ereignis hatte ich am 2. Oktober vorm Fernseher, leider kein gutes. Everton ließ sich 3:4 nach Elfmeterschießen aus dem FA-Cup befördern. Es folgte in der Euroleague ein Erfolg für Chad, dessen Gunners mit Aserbaidschans Meister Qarabag Agdam einen wieder recht leichten Gegner 3:0 aus deren Heimstadion in Baku fegten.
In einer Teepause sprach mich dann unser Kaufmannsazubi Lewis an: „Ricky, ich weiß, dass man mit seinem Chef keine politischen Diskussionen führen soll. Aber ich denke wir sind eine offene Firma. Deine Aussage, Du würdest Leave wählen gegenüber Merwyn neulich hat mich doch enttäuscht.“ „Das war auch etwas übertrieben dargestellt. Um es gleich vorweg zu sagen, ich bin in der Tat Eurosceptic. Aber in der Summe würde mir die Vernunft immer sagen, Remain zu wählen, wenn ich Stimmrecht hätte oder mal haben werde. Nicht weil ich davon überzeugt bin, dass die EU eine tolle Sache ist, sondern weil ich davon überzeugt bin, dass Mitmachen das kleinere der beiden zur Auswahl stehenden Übel ist. Wenn es den Saftladen aber irgendwann an seinen offensichtlichen Fliehkräften von alleine zerreißen sollte, bevor sie ihn mal so grundlegend reformiert kriegen, dass er wirklich was wert ist, werde ich nicht in Tränen ausbrechen. Reicht Dir das? Ich weiß, dass Du das als Mitglied von Plaid anders siehst und ich weiß, dass das meine Meinung nicht gerade in einer Linie zu den Liberal Democrats stellt, in deren Nähe ich sonst zu suchen bin.“ „Ja. Danke. Die Diskussion würde sowieso deutlich länger als eine Tasse Tee dauern, wenn man sie aufnehmen wollte. Aber mit überlegten Eurosceptics kann ich, kann Plaid Cymru und kann vor allem und am wichtigsten das Vereinigte Königreich leben.“


Am Wochenende dann sollte Chads neueste Errungenschaft ausprobiert werden. Die bestand aus Leder und Kunststoff, eine komplette Motorradausstattung mit Funktionsunterwäsche, Nierengurt, Lederkombi, Stiefeln, Halstuch und Helm. „Ich würde ja bei mir mitfahren. Wir sind sowieso gleich schnell, Luke nutzt nur 50 seiner 85 Pferde. Und mein Soziussitz hat ein dickeres Polster als sein Fahrersitz.“ „Trotzdem sieht die Maschine cooler aus.“ Also kletterte er auf die GSX650F und wir fuhren los.
Bei der Mittagspause in Porthmadoc saß er etwas unruhig, aber war begeistert von der Tour. Also dachten wir noch, dass er einfach schnell weiter wollte. In Betws-y-Coed war die Tour aber zu Ende. Luke hielt auf einem Parkplatz an und Chad stieg mit verheultem Gesicht ab. „Was ist?“ „Ich kann nicht mehr sitzen.“ Nachdem wir ins neben dem Parkplatz gelegene Outdoorgeschäft gegangen waren und Luke einen Blick am Vorhang der Umkleide vorbei auf Chads Hinterteil geworfen hatte, stand das Ergebnis fest: „Okay, der fährt heute nirgendwohin mit dem Motorrad. Ich würde sagen, ich fahre nach Holywell und hole ein Auto. Schau Du mal, ob es hier normale Unterwäsche und eine weite Hose in seiner Größe gibt.“
„Wie lange dauert das?“ „Eine Stunde hin, eine rück und dann noch eine mit Dir nach Hause.“ „Oh nein. So lange?“ „Ich habe eine Idee, wozu hat man Freunde?“ Ich rief Timo an, das Geräusch klang nach Autofahrt. „Hallo Timo. Wo treibt Ihr Euch denn rum?“ „Auf dem Heimweg von einer kleinen Spritztour, gerade auf der A494 am Llyn Tegid.“ „Oh, super. Könnt Ihr vielleicht einen kleinen Umweg einlegen und nach Betws-y-Coed kommen? Lukes Suzuki war etwas zu viel für Chads Kehrseite.“ „Okay. Sollten in einer halben Stunde da sein. Und das mit extra weichen Sitzen.“

Nach der genannten halben Stunde fuhr unser Traumpaar mit Iestyns Sechszylinder-Sportsofa vor.

1987 FORD CAPRI 280 INJECTION

„Wenn Du willst, kannst Du mit Chad und Iestyn im Auto fahren und ich bringe Dir das Motorrad, Luke. Deine Sachen dürften mir passen und auch wenn ich seit der Prüfung nicht mehr gefahren bin, Klasse A habe ich. Die beiden tauschten in den Umkleidekabinen des Ladens ihre Sachen und Luke drückte Timo den Suzuki-Schlüssel in die Hand: „Übertreib es bitte nicht.“ „Habe auf einer Honda CBR600 Prüfung gemacht. Sollte mich von der Leistungsklasse nicht auf dem falschen Fuß erwischen.“

Als Timo und ich an der Mühle ankamen, waren Iestyn, Luke und Chad auch gerade erst ausgestiegen. Zum Dank für den spontanen Taxidienst luden wir Timo und Iestyn zum Grillen ein.

Am Sonntag lag Chad vor allem bäuchlings auf dem Sofa und sah sich mit dem Tablet Videos auf Youtube an oder las in deutschen Kinderbüchern von mir, die wir für ihn bei meiner Schwester mitgenommen hatten, nachdem ihre Kinder langsam zu alt dafür waren.
Zwar war auch Chad für den Inhalt zu alt, meine Oma hatte mir die seinerzeit mit 4 bis 6 Jahren vorgelesen. Aber um die Sprache zu lernen, waren die Tier-Abenteuer von „Strupp dem Hirtenhund“ oder „Wolli dem Kaninchen“ besser geeignet als ein Text, der für 10-Jährige Deutsche, die mit der Sprache aufgewachsen waren, gedacht war. Wenn er in 2 Jahren rum das passende Alter hatte, würde er dann wenigstens meine deutsche TKKG-Sammlung lesen können. Und hören auch, denn sowohl mit Büchern als auch Cassetten war ich diesbezüglich gut versorgt.

Eine wichtige Sache war allerdings Grund genug, die Lesestunde zu unterbrechen. Luke und ich kamen ins Wohnzimmer und Chad schien schon zu ahnen, worum es ging. Er nahm sich ein dickes Kissen und setzte sich in die Mitte vom Sofa. „Bleib ruhig liegen. Wir können uns auf die Sessel setzen.“ „Nein. Nicht wenn es das ist, was ich denke. Heute ist der siebte Tag der zehnten Woche, oder?“
„Ja. Ab morgen dürften wir Deine Adoption beantragen. Und deshalb erst mal unsere Frage, ob Du bei uns bleiben willst oder ob Du noch Zeit brauchst Dich zu entscheiden.“ Er überlegte keinen Sekundenbruchteil: „Ja, natürlich. Darf ich denn?“ „Ja. Wir wollen Dich behalten und würden Dich auch adoptieren wollen. Vorausgesetzt, Du willst auch das.“ „Was bedeutet das für mich? Erklärt hat mir das leider nie jemand vom Jugendamt.“ „Das offensichtlichste ist, dass Du den Nachnamen Kaiser-Leighton bekommst. Außerdem wenn wir es vor dem Brexit machen auf jeden Fall die doppelte Staatsangehörigkeit britisch und deutsch.“
Das könnte ihn im Extremfall von mir unterscheiden, denn wenn es zu keiner einvernehmlichen Regelung zwischen EU und UK kam und der Brexit nicht hinter den 12.11. verschoben wurde, dann könnte es sein, dass als Folge der Einbürgerung ins Vereinigte Königreich die Bundesrepublik meinen Pass einziehen würde. Oder er wurde gerade zum Grund, dass sie mir nicht entzogen werden konnte, da ich dann juristisch Vater eines Kindes mit deutscher Staatsbürgerschaft war und somit meine eigene deutsche Staatsbürgerschaft unter besonderem Schutz stand.
„Im Prinzip wirst Du dadurch zu unserem Kind. Mit allen Rechten und Pflichten, die sich daraus ergeben. Als Pflegeeltern haben wir bisher nur die Aufgabe, Dich zu erziehen und auszubilden.“ Das könnte auch so bleiben, aber wir hofften, dass er den letzten Schritt auch gehen wollte. „Wenn Ihr mich adoptiert, sind wir also eine richtige Familie?“ „Ja. Rechtlich gäbe es dann kein Unterschied mehr zu leiblichen Eltern.“ „Cool. Zwei richtige Eltern. Eine komplette Familie.“ Er legte seine Arme bei uns beiden über die Schultern und zog seine „komplette Familie“ zu sich heran.

Also beschäftigten wir uns erst einmal mit Formular A58. „Du hast jetzt die einmalige Chance, Deinen Namen zu ändern, Chadwick Justin.“ Den zweiten Vornamen und den vollen ersten betonte ich. Das war nämlich tatsächlich und auch jetzt so, diente aber von seiner Intention bei Babys dazu, den Wunschnamen bei der Adoption vergeben zu können. „Wieso sollte ich?“ „Vielleicht willst Du ja Deinen an einen kanadischen Teeniestar erinnernden Zweitvornamen loswerden oder auch amtlich auf Chad verkürzen.“ „Nee, die Vornamen gehören auf dem Papier so zu mir, wie sie sind.“ Schließlich waren wir durch, unterschrieben vordatiert auf morgen und ich steckte den Umschlag ein für die Ausgangspost im Büro.
Die Wundsalbe tat ihr übriges und so stand dem Schulbesuch am Montag auch nichts im Wege.


2. Oktoberwoche 2018

Der Alltag an den Werktagen spielte sich ein. Hätte man mir mal gesagt, dass ich als Herumtreiber vor dem Herren meinen Gefallen daran finden würde, jede Woche abwechselnd entweder morgens ein Kind zur Schule aus dem Haus zu kriegen oder Nachmittags den Haushalt zu schmeißen, während dieses Kind seine Hausaufgaben machte und abends im Familienkreis gemeinsam zu Essen, dann hätte ich ihm noch bis vor 3 Jahren einen Vogel gezeigt.
Meine Karriere als LKW-Fahrer hatte mich weit herum gebracht. Bei Mahler nach Norwegen, Schweden, Dänemark, Finnland, Benelux, Großbritannien und Irland. Bei BP waren es dann „nur“ noch die britischen Inseln, aber von der Basis an der Westspitze von Wales bis an die Nordspitze von Schottland war es auch ein gutes Stück, genauer gesagt 1100 km. Von Bochum aus kam man damit zum Beispiel bis Bologna. Bei Talke waren es wieder Dänemark und die britischen Inseln gewesen, wo mich meine Touren hin führten und neu kamen nur die Alpenländer Österreich und Schweiz dazu.
Schließlich hatte ich mit der eigenen Firma dann im wahrsten Sinne des Wortes alle Grenzen hinter mir gelassen. Alleine oder im Team mit anderen Fahrern hatte ich so viele Länder hinzu bekommen. Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn, Italien, Spanien, Portugal, fast das komplette Ex-Jugoslawien, Griechenland und die komplette afrikanische Nordküste von Ägypten bis Marokko.
Nie ging es mir weit genug. Wenn es sich ergeben hätte und die politische Großwetterlage mitgespielt hätte, dann wäre ich auch gerne tief nach Russland rein, durch die Sahara ins Herz von Afrika oder sogar den Traum meiner Kindheit – Touren bis in den Orient. Damals waren sie bis Pakistan gefahren – mit Trucks, die heute keiner mehr mit der Kneifzange anfassen würde, der nicht damals zumindest davon geträumt hatte. Und so einen hatte ich inzwischen als Liebhaberstück.

Wenn ich solche Geschichten in meiner Mittagspause im Internet fand, ertappte ich mich beim Staub Wischen am Nachmittag manchmal dabei, dass ich mir wünschte, nicht Jahrgang 1979 zu sein sondern 1959 und es erlebt zu haben.
Und dann kam Chad angerannt, um mir stolz zu verkünden, dass er die Hausaufgaben fertig hatte und noch ein Bisschen mit dem Fahrrad fahren wollte. Ich sah den kleinen Wirbelwind, seine an den Seiten dank der Tendenz auszubleichen hellblonden und obenauf ins natürliche Dunkelblond übergehenden Haare und das schelmische Grinsen und wusste, dass 1979 doch das richtige Jahr gewesen war.
Ich hatte es vielleicht nicht mit dem Truck bis Pakistan geschafft. Aber ich hatte einen gleichgeschlechtlichen Partner heiraten und mit ihm eine Familie gründen dürfen. Vor 20 Jahren wäre das nicht mal im liberaleren Großbritannien möglich gewesen, in Deutschland noch keine 2 Jahre. 2001 eröffneten die Niederlande als erster Staat der Welt die Möglichkeit der Heirat, 2002 der erste australische Bundesstaat die Adoption durch eingetragene, gleichgeschlechtliche Paare. Erst 2012 nahm die Gesetzgebung in beiden Belangen weltweit Fahrt auf.
Scheinbar kam für jeden Menschen der Zeitpunkt, wo er genug in der Welt erlebt hatte und sesshaft wurde. Und in dem Zusammenhang fiel mir dann mein beruflicher „Sohn“ Timo ein. Er hatte schon mit seinem Vater im diplomatischen Auslandsdienst einige exotische Länder durch, bevor er mit 16 erstmals in Deutschland wohnte. Auch er hatte dann als angestellter Fahrer die komplette EU plus Norwegen und Schweiz, Ex-Jugoslawien, Griechenland, Marokko, Tunesien und Algerien gesehen. Nun war er schon mit Mitte 20 an dem Punkt mit dem Heiraten angekommen und hatte darum gebeten, maximal noch ein Wochenende im Monat draußen zu sein.

Und am Wochenende wollte Chad noch einen Versuch auf zwei Rädern wagen, aber diesmal saß er bei mir auf der Yamaha Ténéré. Und weil die zwar realistisch betrachtet nicht mehr Polster auf dem Soziussitz hatte als die Suzuki auf dem Fahrersitz, aber definitiv mehr als die Suzuki auf dem Sozius, blieb der Ausflug auch folgenlos für Chads Sitzfleisch.


Dritte Oktoberwoche 2018

Im Büro gab es in dieser Woche Vorstellungsgespräche. Ich wollte einen Fahrer befristet einstellen als Verteilerfahrer im jetzt nicht mehr bewirtschafteten Gebiet von Wyatt & Stack und einen Springer. Allen Konjunkturwarnungen zum Trotz brummte die Wirtschaft noch und daher war die Reaktion auf unsere Anzeigen verhalten gewesen. Fahrer waren gesucht und wer wollte schon Springer und Regionalkutscher machen, wenn er nationalen und internationalen Fernverkehr kriegen konnte.
Inzwischen waren wir aber an einem Punkt, wo eigentlich ständig jemand fehlte, sei es durch 25 Werktage Urlaub je Kopf und Nase, bei Davey die Berufsschule oder auch mal Krankheit. Bei 6 fest angestellten Fahrern, 5-Tage-Wochen wegen der durchschnittlichen Lenkzeit und einem Auszubildenden kamen so schon planmäßig 42 Mannfehlwochen zusammen. Selbst wenn man es geschickt anstellte und Fahrzeugwartungen passend dazu legte oder Fahrzeuge eintauschte, war es eigentlich unnötig totes Kapital, denn selten waren die Wartungen eine ganze Woche und im Gegensatz zum Urlaubsanspruch der Fahrer hatten die Trucks auch keine 25 Tage Wartungsanspruch im Jahr. Und ein Fahrzeug, das solche Fehlzeiten durch Defekte fabrizierte, wäre schon lange nicht mehr in der Flotte.
Am Ende wollten dann doch 5 Leute und die schickten ihre Bewerbungen auch später, als mir lieb war. Wenigstens hatte dieses Land schöne, kurze Kündigungsfristen.
Namen alleine waren mir egal, aber wenn Antoniu Vasilescu nicht mal einen sinnvollen englischen Satz in Schriftform zusammen bekam, dann wollte ich mit ihm erst gar kein Gespräch führen. In solchen Fällen war auch die hier typische, anonymisierte Bewerbungsmappe machtlos, zumal man am Namen sowieso oft die Herkunft erkannte, hier definitiv mal Rumänien. Zum Anonymisieren der Bewerbungen waren wir zu klein. Theoretisch könnte Philip mir die Mappen mit 1 bis 5 nummeriert vorlegen und die Anschreiben mit den gleichen Nummern bei sich behalten.
Elliott Lovell war mir suspekt, da er zwar eine Menge Erfahrung hatte, aber zuletzt als Kommissionierer bei einem Internetversand gearbeitet hatte, wo er jetzt wieder weg wollte als Fahrer. Ich konnte nicht sehen, wie lange er dort war, weil das nicht angegeben werden musste, aber da könnte auch der Führerschein einen Erholungsurlaub in Swansea bekommen zu haben. Den hierzulande in solchen Fällen nicht üblichen Anruf bei den ehemaligen Chefs hatte ich mir gleich erspart, konnte man immer noch nachholen wenn niemand anders in Frage kam. Also würden heute Reza Kouroshi, Mike Draper und Andrew Grant zum Vorstellungsgespräch kommen.

Auch bei Reza Kouroshi war der Name schon Aussage genug, denn der war zweifellos Farsi und männlich. Aber ansonsten wusste man mangels Foto und Altersangabe in Großbritannien nie, wer oder was einen erwartete. Reza Kouroshi war ein auf den ersten Blick jung wirkender Mann mit einem gepflegten Vollbart. Beim zweiten Hinschauen würde ich ihn dann aber altersmäßig doch schon mit der 3 vorne schätzen.
„Herzlich Willkommen bei KFL. Bedienen Sie sich.” Ich zeigte auf den Vorrat an Getränken und passendem Geschirr. Er goss eine Tasse heißes Wasser ein und nahm einen Beutel Schwarztee. Dem schloss ich mich an und während der Tee zog, erzählte ich ein Bisschen über die Firma und mich. Britische Vorstellungsgespräche begannen immer mit Smalltalk. Also machte er dann weiter und erzählte was zu sich.
Er war 1985 in Teheran geboren und somit 33 Jahre alt. Seine Eltern mussten in den Wirren nach dem Tod Chomeinis und den international bis auf eine Handvoll Ereignisse wenig beachteten Auseinandersetzungen um dessen Nachfolge fliehen und so kam er als Vorschulkind nach Manchester, besuchte eine englische Schule und begann ein Studium im Maschinenbau, das er aber wegen schlechter Noten nicht beenden konnte. Er bekam einen Job bei Leyland Trucks in der Fertigung, aber bekam dabei nur eine interne Fahrerlaubnis, um fertige LKW zwischen Fabrik, Stellplätzen und Verladeterminal zu fahren. Über den Grund, Leyland zu verlassen, äußerte er sich nicht wirklich, aber es war klar, dass er auf eigenen Wunsch gegangen war. Danach folgten Hilfsjobs bis zum Führerschein CE, durch die wechselnden Arbeitgeber bedingt diverse Umzüge in Lancashire, Manchester und Cheshire und privat seine Hochzeit mit einer damaligen Studentin und heutigen Anwältin, gebürtig aus Aserbaidschan, sowie die Geburt des ersten Kindes.
Danach änderte sich nicht allzu viel, denn auch mit CE wechselte er sich durchs Arbeitsleben, teilweise nur Urlaubsvertretungen mit 14-Tages-Verträgen. Dass seine Frau das Geld nach Hause brachte oder eher im Anbau des Hauses in ihrer Kanzlei verdiente, störte ihn nicht. Generell machte er einen weltoffenen Eindruck, der zu dieser Aussage passte. Den Hausmann zu geben, war aber auch nicht sein Ding, daher arbeitete er weiter als Aushilfsfahrer.
„Als ich die Anzeige für einen fest angestellten Springer gesehen habe, dachte ich, dass das eine gute Möglichkeit ist, einen dauerhaften Job zu bekommen, aber ansonsten keine Änderungen zu haben und weiter viel bei meiner Familie zu sein.“ „Es kann aber sein, dass es mal keine Arbeit gibt und damit auch kein Geld. Oder dass mal morgens das Telefon klingelt, dass Du unbedingt kommen musst.“ Die Stelle sollte tageweise bezahlt werden und war mit „garantiert 35 Arbeitswochen, bedarfsweise bis zu Vollzeit“ ausgeschrieben. Mir war klar, dass das schwer zu besetzen war und von den Kandidaten, die ich eingeladen hatte, war er auch der einzige, der sich auf diese Stelle beworben hatte. „Das ist mir schon klar. Aber realistisch bin ich derzeit auch bei nicht mehr Wochen beschäftigt. 3 Monate arbeitslos kommen immer mindestens am Jahresende zusammen. Und hier würde der ganze Aufwand entfallen, eine neue Stelle zu suchen. Ich kann mich um meine Kinder kümmern, bis ich das nächste Mal eingeplant bin oder kurzfristig gebraucht werde.“
„Ausland fahren kannst Du laut Deinen Unterlagen nicht?“ Sprachlich gab es keinen Unterschied im Englischen und vom Umgang waren wir schon eher bei einem deutschen Du angekommen. „Ohne Vorlaufzeit kann ich nur hier und in der Republik Irland arbeiten, so lange es die Common Travel Area gibt. Für mehr gilt meine Aufenthaltsgenehmigung nicht. Für Schengen muss ich entsprechend lange vorher ein Visum beantragen, habe ich aber zumindest als Tourist immer ohne Probleme bekommen.“ Die Common Travel Area sollte nach den Plänen beider Länder auch bei einem Brexit bestehen bleiben.

Mike Draper war der nächste Kandidat. Er entpuppte sich als Mittvierziger und kam mir unsympathisch rüber. Er hatte lange in der Army gedient und auf dem harten Weg von den Soldatenrängen ohne Akademie und nur durch Dienstzeitbeförderung bis zum Sergeant. Während das Gespräch inhaltlich ganz normal und eigentlich positiv verlief, gefiel mir der soldatische Tonfall nicht. Merwyn, der ja ebenfalls einen Hintergrund in den Streitkräften hatte, konnte zwar in seiner direkten Art und manchmal unüberhörbaren Bestimmtheit auch nicht immer verbergen, wo er her kam. Aber bei ihm war das eher latent und nicht dominant im Verhalten.

Also blieb als einzige Hoffnung für den Nahverkehr Andrew Grant. Der gehörte mal wieder zu den Überraschungspaketen der anonymisierten Bewerbungen, denn er war von der Abstammung afrikanisch und schien auch seitdem kein europäisches Blut abbekommen zu haben. Aufklärung würde auch hier der nach meiner Unternehmensvorstellung zweite Teil bringen, wenn er von sich erzählte.
Seine Großeltern stammten aus Nigeria und kamen in den späten 60ern durch den Commonwealth Immigration Act nach London. Seine Eltern und auch er wuchsen in Hackney, East London auf. Mit 21 zog er nach Liverpool um und wurde LKW-Fahrer. Jetzt war er 28 und stand vor den Scherben einer kinderlosen Ehe, die an einer Affäre seiner Frau während der beruflich bedingten Abwesenheit zerbrochen war. Das nahm er zum Anlass, die Großstadt zu verlassen und auf dem Land neu anfangen zu wollen.

Nach den Gesprächen beschloss ich, Andy Grant als Nahverkehrsfahrer einzustellen. Eventuell könnte der Nahverkehr ja dann auch zwischen Luke, Andy und zumindest bis zur Abschlussprüfung im Sommer noch Davey rotieren mit dem Hull-Shuttle. Der größte Haken war, dass Andy nicht sofort zur Verfügung stand, da er noch angestellt war und dann umziehen musste. Er würde erst Mitte November anfangen können.
Und auch Reza, den ich als Springer haben wollte, hatte während der bevorstehenden Ferien natürlich schon eine Stelle zugesagt und konnte erst danach anfangen. Dann könnte er aber wenigstens bis Andy anfing, schon mal Nahverkehr fahren. Einen LKW dazu würde ich bis zum Brexit und der Gewissheit über die Größe der Flotte erst mal mieten. Auch die Verträge waren erst mal bis Ende April ausgelegt. 4 Wochen nach dem Stichtag konnte man die Laufrichtung des Hasen vielleicht schon abschätzen.


Vierte Oktoberwoche 2018

In dieser Woche lief soweit alles in der normalen Routine. Die Verträge von Reza und Andy kamen unterschrieben zurück und ich mietete bei British Rental and Leasing einen Alptraum aus Södertälje, weil das das beste Angebot war. New Scania R410, leasingweiß mit einem Union Jack Aufkleber als Markenzeichen des Vermieters, dazu ausstattungsfrei und Vollplastik.

Außergewöhnlich war der Termin, den wir am Donnerstag hatten, denn es ging zum Gericht nach Mold. Wir warteten auf dem Gang und wurden schließlich aufgerufen. Ein Bisschen aufgeregt waren wir alle drei. Der Richter hielt sich nicht lange auf und nach zielstrebigem Abhandeln der formellen Fragen machte er kurzen Prozess: „In der Antragssache Adoption von Chadwick Justin, geboren Stafford, durch Eric Simon und Lucas Jacob Kaiser-Leighton ergeht folgendes Urteil: Die Adoption ist bewilligt. Die Geburtsurkunde von Chadwick Justin Stafford wird behördlich einbehalten und vernichtet. Eine Adoptionsurkunde für Chadwick Justin Kaiser-Leighton kann in der Schreibstube ausgestellt werden.“
Bumm, der Hammer schlug auf den Korkuntersetzer. So unromantisch wurde man also eine Familie. Wir ließen uns für stolze £ 11,00 die Adoptionsurkunde ausstellen, schon alleine, um damit gleich weiter nach Liverpool zum deutschen Konsulat fahren und den deutschen Pass beantragen zu können. Auch einen geänderten britischen Pass brauchte er, den bekamen wir aber bei der Stadtverwaltung in Holywell. Und am Abend gingen wir zur Feier des Tages Essen.

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