Kapitel 28 – Hängende Mundwinkel, hohe Nasen und Justin Biebers Zwillingsbruder

Jussufs Hausarzt fand keine Probleme an meiner Wunde, auch wenn mir wohl eine Narbe als ewige Erinnerung bleiben würde, Reisewarnungen zu beachten.

Also konnte ich mit Marlon die Ruhezeit genießen. Wir besichtigten Meknes und das Umland. Marlon kannte sich natürlich gut aus und er zeigte mir den Markt, wo mich der Duft der vielen Gewürze fast betäubte, die Altstadt mit zahlreichen Prachtbauten und die zum Weltkulturerbe gehörenden Ruinen aus der Römerzeit.

In der Zwischenzeit baute uns Jussuf ein neues Seitenspiegelglas an, ersetzte Lampen und den Schmutzfänger. Nur beim Dachspoiler musste er passen, aber da konnte sich Vinni zusammen mit der verkratzten Beifahrerseite drum kümmern.

Zwischendrin telefonierten wir auch mit unseren Daheimgebliebenen. Es waren auch nach dem zweiten Wochenende gerade mal drei Bewerbungen eingegangen. Ich sagte Chris, dass sie alle drei Kandidaten für kommenden Montag einladen sollten. So wenige Bewerber konnten wir uns alle anschauen.

Meknes war eine Großstadt, was wir spätestens Dienstag merkten, als wir morgens raus wollten und im Berufsverkehr stecken blieben. Marlon fuhr bis an die Autobahn bei Rabat, tankte noch einmal voll und danach fuhr ich zur Fähre.
Auch in Tangier gab es mal wieder viel Verkehr und somit viele rote Ampeln und eine intensive Kontrolle des Trucks.

Wir konnten erst mit der Abendfähre übersetzen, dort ging der Tag bei einem Abendessen so schweigend weiter wie er bereits die ganze Zeit gewesen war. Und dann war es so weit. Gegen 22 Uhr fuhr ich den Truck auf die Rampe und schließlich hatten wir wieder europäischen Boden unter uns, den wir über 3000 Kilometer weiter östlich vor mehr als einer Woche verlassen hatten.

Also riefen wir noch zu Hause an, um die Zeit natürlich auf getrennten Leitungen in getrennte Häuser. Auch wenn sie dort mit jeder Minute ruhiger geworden waren, seit wir aus Libyen raus waren, sorgte die Nachricht, dass wir wieder in Europa waren, für Beruhigung.

Am nächsten Tag fuhren wir nach Madrid, lieferten das Benzin ab und übernachteten in einem Industriegebiet. Dann wechselten wir den Brennstoff. Mit einem Kipper voll Steinkohle ging es nach Montpellier. Marlon sprach immer noch nicht viel, aber er brütete was aus.

Auch hier gab es eine Übernachtung, aber wenigstens bei einem Routier, wo es Duschen und was zu Essen gab. Am kommenden Tag waren wir mit einer Ladung Natrium auf dem Weg ins nahe Clermont. Endlich, kurz vor dem Viaduc de Millau, brach das Eis.
„Bist Du schon mal hier her gefahren?“ „Nein.“ „Dann genieß, was jetzt kommt. Hätte ich das gewusst, wäre ich ans Steuer gegangen.“

Ich konnte die Überquerung der größten Autobahnbrücke Europas aber auch am Steuer genießen, selbst wenn ich dabei den Verkehr ein Bisschen aufhielt, weil ich vor Staunen vom Gas ging.

Hinter der Brücke meinte Marlon dann: „Ricky, es tut mir leid, was Du miterleben musstest.“ „Schon gut. Ich wollte ja mitkommen. Und die Tour hatte auch ihre schönen Seiten. Die Wüstendurchquerung oder die zwei Tage in Meknes waren besondere Erlebnisse. Den Sinnesrausch auf dem Basar werde ich nie vergessen.“
„Bist Du nie durch die Sahara? Und hast Du noch nie in einer nordafrikanischen Stadt Pause gemacht?“
„Nie am Stück. Mal Algier nach Oujda, Algier nach El Hamma, dazwischen Wochenende in Algier und auf dem Hotelzimmer mein Italienisch aufgefrischt. Insofern bin ich Dir auch dankbar dafür, was ich erleben durfte.“

„Wichtig ist, dass wir unsere Lehren daraus ziehen. Wir sollten die Verantwortung aufteilen, habe ich mir gestern überlegt. Wir sind vier Inhaber, davon zwei Geschäftsführer und zwei Prokuristen. Es ist sinnlos, dass jeder alles so ein Bisschen macht, nichts davon richtig und am Ende auch noch was Wichtiges ganz vergessen wird.“

„Da habe ich auch schon dran gedacht. Wenn wir zu Hause sind, sollten wir uns mal überlegen, was es alles für Themen gibt, um die wir uns kümmern müssen. Die teilen wir dann immer so auf, dass zwei Leute dafür verantwortlich sind. Die großen Sachen müssen eh zwei unterschreiben.“

In Clermont lieferten wir das Natrium ab und die Stahlrohre auf dem nächsten Trailer sollten uns nach Köln bringen, dann leer nach Hause. Nach einer Fahrt durch ein Unwetter bei Paris kamen wir zu unserer letzten Nacht in der Kabine des wackeren Renault Premium auf einem Rastplatz an der alten Grenzstation von Frankreich nach Belgien zum Stehen.

Der Samstag sollte nun der Abschluss unserer Abenteuer-Tour werden. Es waren drei Wochen mit viel Licht und einem dunklen Schatten. Beide jubelten wir erleichtert, als wir über den Grenzübergang Lichtenbusch wieder nach Deutschland fuhren.

Die Rohre standen kurz vor 11 vormittags in Köln bei Hellmann auf dem Hof. Anschließend folgte die letzte Etappe, leer nach Bochum. Hier wartete das große Empfangskomitee auf uns. Ich ließ die Zugmaschine einfach mitten auf dem Hof stehen. Dort draußen stand Chris, da konnte vernünftiges Einparken warten.
Erleichtert fielen wir uns alle der Reihe nach in die Arme, Marlon und Judith genauso wie Chris und ich natürlich begleitet von einem ewigen Wiedersehens-Kuss.

Danach hatten wir viel zu erzählen und weil das schon vorher klar war, hatte Judith einen Kuchen gebacken, damit wir den beim Erzählen mit einigem Kaffee und Tee verputzen konnten. Gegen Abend heizte Chris den Grill an. Er mochte am Herd mit Kochtopf eine Niete sein, aber am Grill lief er zur Höchstform auf.
Zwischendrin diskutierten wir auch Marlons und meinen Plan, Verantwortungen zu bestimmen. Am Ende war jeder von uns mit jedem anderen für etwas verantwortlich. Ich kümmerte mich mit Chris um das Gebäude und alles, was damit zusammenhing. Mit Marlon war der Einkauf meine Aufgabe und mit Julian das Personalwesen, das demnächst ja über Judith als Angestellte hinausgehen würde. Chris und Marlon machten die Finanzen, Chris und Julian würden sich um die Kundenbetreuung kümmern und Julian mit Marlon um rechtliche Belange und weil das hoffentlich nicht allzu viel Arbeit würde, noch um Informationsbeschaffung und Entscheidungen rund um Reisewarnungen und Hindernisse wie langfristige Straßensperrungen oder unterbrochene Fährverbindungen.

Auf dem Weg an der Büro-Etage vorbei bog ich mit Julian noch mal ab: „Wenn wir uns ums Personal kümmern wollen, dann sehen wir uns doch mal die Kandidaten noch schnell an, die am Montag hier auflaufen. Morgen ist MotoGP, da habe ich gar keine Lust hier runter zu steigen.“

Julian holte die drei Bewerbungsmappen: „Irgendwie ist aus den Unterlagen bis auf den mittleren alles nur Bodensatz des Arbeitsmarktes, aber sehen wir sie uns Montag mal an. Hier ist erst einmal Manfred Glaser.“

Von einem mutmaßlichen Automaten-Passfoto sah mich ein sogar dort reichlich verkniffen dreinschauender Mittvierziger an. Er war, nachdem er seinen Schein gemacht hatte, erst einmal innerdeutsch gefahren, die zweite Hälfte der 90er dann in die westlichen GUS-Staaten und nach Russland bis hinter Moskau. Seit 2001 war er dann erst einmal über zwei Jahre arbeitslos gewesen. Ab 2003 hatte er einige Arbeitgeber durch, im Schnitt hatte er selbst nach knapp 2 bis 3 Jahren gekündigt. Aktuell fuhr er für eine bekannte Silospedition aus Unna und war mal wieder ungekündigt auf der Suche.

„Dann hätte ich einen Namensvetter von Dir, auf dem Papier mein Favorit.“ Erik Mahler, geboren in Treysa? Das konnte nicht wahr sein, die Welt war wohl eine Erbse und alle traten auf ihr herum. Sein Großonkel war mein erster Chef gewesen, ihn hatte ich logischerweise mit 13 Jahren das letzte Mal auf dem Fahrrad über den Speditionshof fahren gesehen und schon da wusste er erstens alles und zweitens besser. „Na auf den bin ich mal gespannt.“ „Wieso?“ Ich erzählte Julian kurz die Vorgeschichte mit ihm.

„Und was der bei uns will, weiß ich auch nicht. 21 Lenze, druckfrischer Lappen, logischweise keine Berufserfahrung als Trucker, gelernter Bankkaufmann, derzeit nach bestandener Abschlussprüfung in dem Job arbeitslos. Darf ich vorstellen? Timotheus von Hofmeister…“ Ich schnappte mir den Lebenslauf von dem Bürschchen, immerhin von einer „bewegten Kindheit“ konnte man da mal sprechen. Ob ich jemals dort hin wollte, wo er aufgewachsen war, wagte ich zumindest teilweise zu bezweifeln.

„Grandiose Auswahl. Wo war die Anzeige jetzt alles?“ „Je zweimal WAZ-Gruppe und Rheinische Post, je einmal Fernfahrer, Lastauto-Omnibus, Gefahr/gut und Berufskraftfahrer Zeitung.“ „Na mehr geht kaum, und dann nur drei Bewerbungen. Wir haben halt keinen Namen.“

Während Chris, der wieder fahren durfte, und Marlon die beiden neuen Trucks foliert und mit Anbauteilen bei Vinni abholten und stattdessen den angekratzten und angeschossenen Premium dorthin brachten, machten Julian und ich uns auf unseren ersten Einsatz als Personalchefs gefasst.

Als erstes kam Manfred Glaser, er fuhr gleich mal im DAF CF seines aktuellen Brötchengebers vor. Ein komplettes Silo, voll mit irgendwas Brandförderndem und Umweltgefährlichem, dekorierte nun unseren Hof. So konnte man auch nachweisen, dass man Gefahrgut fahren durfte.
Es war ein sehr wortkarges Gespräch. Alle Würmer mussten wir ihm einzeln aus der Nase ziehen. Als er, auf die vielen Wechsel in den letzten 11 Jahren angesprochen, sagte, dass immer „irgendwas im Betrieb nicht gepasst hatte“ war ich bedient. Wir brachten das Gespräch förmlich zu Ende und verblieben mit der Floskel, dass wir uns melden würden.

„Was war das denn?“ „Ich nenne sie die erste verlorene Generation.“ „An was verloren und wer ist die zweite?“ „An die Weltpolitik verloren. Der hat bestimmt damals den Lappen gemacht, um im Orientverkehr der 80er schnell reich zu werden. Das war hart aber ging. Aber pünktlich als der Schein in der Tasche war, wurde aus dem guten Irak der böse Irak, damit war das letzte orientalische Land mit Transportpotenzial weggefallen.
Zusammen mit denen, die etwas älter sind als ich, ist er dann Russland gefahren. Aber irgendwann haben die Russen alte West-LKW gekauft, wollten weniger Geld haben, deutsche Fahrer wollte auf diesen Strecken keiner mehr bezahlen und wieder war Schluss mit dem Traum vom großen Geld als Trucker.
Deshalb sind so grob die Fahrer, die vom Alter zwischen Marlon und mir liegen, die zweite Generation durch einen politischen Wandel und seine Folgen desillusionierter Fahrer, die das wegen dem Geld gemacht haben und jetzt auf dem Bock sitzen und unzufrieden sind, aber nichts anderes können.“

„Mit dem haben wir jedenfalls keinen Spaß.“
„Nein, glaube ich auch nicht. Irgendwas passt dem bei uns auch nach kurzer Zeit nicht und dann ist er wieder weg.“

Dann führte Judith uns Erik Mahler rein. Er war vor einem Monat 25 geworden und trat ziemlich selbstbewusst auf. Er war sehr gesprächig, ließ sich im Gegensatz zu Manfred Glaser auch sofort auf den Vornamen ein.
Sein Lebenslauf gab zu Selbstbewusstsein in jüngerer Zeit allerdings wenig Anlass. Anfang des Jahres aus betrieblichen Gründen gekündigt, also hakte ich da erst mal ein: „Warum hat man Dir denn gekündigt?“ „Das übliche halt. Schrumpfende Aufträge wegen Konkurrenz aus Osteuropa, finanzielle Schieflage, Sozialplan und dann unverheiratet, 24 Jahre und erst 3 Jahre dabei. Da fällt man durchs Raster.“ Das kannte ich zwar von Talke, aber gestern hatten wir uns dann doch noch mal mit Zeugnissprache befasst und das makellose Bild hatte Schrammen bekommen.
So war „Er brachte stets seine Gedanken und Vorschläge in den Betriebsablauf ein“ vielleicht ein Lob für jemanden, der wirklich den Betriebsablauf optimieren musste. Sollte aber jemand Waren von A nach B bringen, was nicht wirklich eine optimierungsbedürftige Aufgabe war, stand es für einen Besserwisser. „Einfühlsamer Umgang und freundschaftliche Atmosphäre mit der Disposition“ war eher ein Hinweis auf eine Affäre mit einer Dame aus dieser Abteilung. Und auch dass seine alte Firma ihm nicht alles Gute für den weiteren Berufsweg wünschte, war ein Hinweis, dass man nicht allzu unglücklich darüber war, dass er neben das Netz des Sozialplans gefallen war.
Aber jetzt auch schon eine Weile auf der Suche? Einen Monat angestellt, wieder arbeitslos, jetzt bei einer Zeitarbeitsfirma.“ Nun kam das Selbstbewusstsein wieder: „Ich habe mir ein Bisschen was zusammengespart, da kann ich wählerisch sein. Da hat die Dispo einfach drollige Vorstellungen gehabt, die am Ende nicht aufgingen. Die Zeitarbeit sehe ich nur als Provisorium. So kann ich wenigstens Kontakte knüpfen. Das Ziel ist natürlich wieder eine Festanstellung direkt bei einer Spedition.“
Trotz seiner fast schon nervigen Selbstsicherheit und der Warnungen im Zeugnis machte er aber sowohl auf Julian als auch auf mich wohl einen guten Eindruck. Wir hatten einen „Kugelschreiber-Code“ vereinbart. Und der auf die Tischmitte zeigende Kugelschreiber hieß, dass Julian bisher zufrieden war.
„Was war denn so drollig?“ „Wochenruhe quer durch Europa. Ich will am Wochenende zu Hause sein.“ „Das wird aber auch hier schwierig. Wir fahren von Schottland bis Griechenland und von Portugal bis Polen, auch mal nach Nordafrika. Zumindest Marokko, Algerien und Tunesien. Ägypten sehr selten und nur Libyen ist komplett tabu.“
„Nee, also das geht nicht.“ „Wenn die Disponentin das sagt, dann geht das.“ „Dann muss aber die Kohle stimmen.“ Seine Gehaltsforderung war nicht von schlechten Eltern, der Urlaubswunsch schien eine Kompensation für die Wochenenden in der Ferne zu enthalten. Sowohl Julians als auch mein Kugelschreiber zeigten inzwischen nicht mehr in die Tischmitte, sondern in die Gegenrichtung. Das war die mittlere Stufe.
„Und natürlich will ich einen LKW, in dem diese Zumutung erträglich ist. Scania, neuer Volvo, Actros Gigaspace.“ „Auch da wird gefahren, was auf dem Hof steht. Und das ist ein Renault Premium.“ „Eine veraltete Franzackenkarre für den Nahverkehr? Und damit bis Afrika? Ich glaube es hackt!“ „Bin ich selbst die letzten drei Wochen noch auf 9000 Kilometern damit unterwegs gewesen. Und Du sollst den alleine haben, wir fahren Zweierteams.“
Da hatte wohl jemand vergessen, wer hier von wem mehr wollte. Julian, der ohnehin zu seinem Kugelschreiber gegriffen hatte, legte ihn nun nach seiner Notiz quer ab. Sollte heißen „Das war’s dann wohl!“ So wie unser Bewerber sich in die Sache rein steigerte, hatte auch er wohl keine Ambitionen mehr.
„Bei meinem Onkel Gustav hätte es das nicht gegeben. Aber die Firma ist leider von den Osteuropäern kaputtgemacht worden, sonst würde ich jetzt da fahren. Da bekam jeder Fahrer einen anständigen Truck nach Wahl, nur die besten Marken und am Wochenende war jeder zu Hause.“
Das war wohl eine andere Firma Mahler Transporte gewesen als die, bei der ich gefahren war. Aber so viele Gustav Mahler werden schon keine Spedition in Schwalmstadt gehabt haben, in der ein Neffe namens Erik herumlief.
„Wenn man in einer Firma neu anfängt, muss man erst mal fahren, was da ist. War bei meiner ersten Stelle nicht anders.“ „Hätteste mal bei einer vernünftigen Firma angefangen. Was war es denn?“ Der Spott war nicht zu überhören.
„So einer wie der da links.“ Ich zeigte auf das 1:18 Road Kings Modell, das Julian mir geschenkt hatte und inzwischen mit einem Italeri 1:24 Kenworth W900, den ich als Jugendlicher gebastelt hatte, den halbhohen Schrank an der einen Seite des Besprechungsraumes verzierte. „Nur er war Rot-Silber lackiert.“
Er bemerkte die Fußangel nicht, die ich ihm ausgelegt hatte: „Ach du Schande. Wie alt war der denn da schon?“ „10 Jahre, bin ich 3 Jahre lang bis 2003 gefahren.“ Nach der Lackierung ignorierte er auch den zweiten Warnschuss mit dem Insolvenzjahr. Ich lehnte mich schon genüsslich zurück, Julian bekam langsam Mühe, die Fassung zu behalten, da er ja ahnte, wo das hin führen sollte. „Wenn man es sich gefallen lässt.“
„Der war nicht so schlecht, wie alle denken. Ich bin ihn gerne gefahren und das Kennzeichen kenne ich bis heute: HR-GM…“ Weiter kam ich nicht. „Du bist bei meinem Onkel gefahren?“ „Ja.“ Jetzt hatte er dann zwangsweise gemerkt, in welches Messer er gelaufen war. Mit offen stehendem Mund wurde er erst kreidebleich und dann knallrot.
„Dein Onkel hatte also nur das, was Du als anständige Trucks bezeichnest, jeder Fahrer sich die selber ausgesucht und war am Wochenende zu Hause?“ „Ähm, also…“ „Ich erinnere mich jedenfalls ganz gut daran, dass ich den Iveco nach dem Motto friss oder stirb zugeteilt bekommen habe und oft genug Wochenenden auf Autobahnparkplätzen im Fahrerhaus, im Niemandsland am Straßenrand einer skandinavischen Fernstraße im Fahrerhaus oder irgendwo in einer abgetakelten Pension verbracht habe. Oder redest Du von einer anderen Gustav Mahler Transporte GmbH?“
„Nein. Ich glaube, ich gehe besser.“
„Das glauben wir auch.“

„Meine Güte, was eine Flachpfeife.“ „Ja. Wenn ich mir überlege, dass nun derjenige kommt, mit dessen Bewerbungsunterlagen wir schon am wenigsten anfangen können.“
Derjenige fuhr mit einem silbernen Golf auf den Hof. „Ich hasse Bewerber mit VW.“ „Warum?“ „Viele Autos sagen was über den Fahrer aus, das habe ich erkannt, nachdem mir die meisten Menschen mit einem Auto drum herum begegnen und für persönlichen Kontakt erst mal aussteigen müssen. Aber ein VW ist nichts sagend. Da kann jeder Typ Mensch drin sitzen.“ „Da drin sitzt jedenfalls ein Double von Justin Bieber.“

Timotheus von Hofmeister war, wie wir aus den Unterlagen wussten, vor zwei Wochen 21 geworden, seine Lateinamerika-Rundreise während Kindheit und Jugend verdankte er wohl seinem Vater, der im diplomatischen Dienst der Bundesrepublik gearbeitet hatte und wären die Haare braun statt dunkelblond, sähe er in der Tat aus wie der heimliche Zwillingsbruder von Justin Bieber. Judith führte ihn rein.
„Hallo ich bin Ricky.“ „Julian.“ „Timothe… ach, sagt einfach Timo.“ Er trug zwar ein Hemd mit offenem Kragenknopf, aber Stoffhose und Lederschuhe. Zu unserem inzwischen auch mal festgelegten Firmenlook aus Black Sneaker, Blue Jeans und gelbem Poloshirt mit den Blitzen in weiß und orange und dem Firmennamen in Blau eingestickt, sah er jedenfalls reichlich overdressed aus und immerhin bemerkte er es: „Entschuldigt den Fummel, mein Vater denkt ich wäre bei der NRW.Bank zum Vorstellungsgespräch.“
„Gutes Stichwort. Wie kommt jemand mit abgeschlossener Ausbildung als Bankkaufmann dazu, den CE zu machen, den Fernfahrer zu lesen und sich bei einem Start-Up als Fahrer zu bewerben?“ „Ich will Fernfahrer werden, seit ich 12 bin. Aber ich sollte nach dem Willen meines Vaters einen anständigen Beruf lernen, oder was der auch immer dafür hält. Also musste ich, da er meine Ausbildung ja finanzieren musste, erst mal nach seiner Pfeife tanzen, bis ich 21 war und den LKW-Schein machen konnte.“
„Und was ist mit 12 passiert, dass Du unbedingt Fernfahrer werden wolltest?“
„Zu der Zeit lebte ich mit meinem Vater in Bolivien, mein Onkel ist Fernfahrer in Chile. Und da hat er mich in den Ferien in La Paz abgeholt und ist mit mir über Santiago de Chile, Paso Los Libertadores, Cordoba de Argentina, Asuncion, Porto Velho und die berüchtigte alte und damals noch einzige North Yungas Road zurück nach La Paz gefahren.“
„Apropos Südamerika. Von einem Jahr Mexiko als Baby hast Du ja nichts gehabt, aber dann Nicaragua, Kuba und Bolivien. Interessante Länder für ein Kind.“ „Kommt dem Kind in dem Moment gar nicht so interessant vor. Aber inzwischen finde ich das auch. Es waren außergewöhnliche 13 Jahre und ich spreche wenigstens fließend Spanisch.“
In seinem Lebenslauf, der wohl mit Erwähnung des Vaters als ehemaligem Diplomat und heute auf leitender Position im Akademischen Austauschdienst vor allem als Türöffner bei Banken geschrieben war, tauchte die Mutter nicht auf. Ich wüsste ja zu gerne, was mit der war, aber die Frage war nicht erlaubt.
„Genug Vergangenheit. Reden wir mal über die Zukunft. Was denkst Du denn, was auf Dich zukommt?“
„Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung. Wären wir in Lateinamerika, würde ich jetzt antworten ‚ein LKW, der zwischen 5 und 10 Jahre hinter der Entwicklung in Europa hinterher hinkt, mörderische Andenpässe, Dreck und Staub auf unbefestigten Pisten in der Atacama und der argentinischen Pampa, Stechmücken im brasilianischen Urwald, Papierkrieg an den Grenzen, den man mit Papiergeld beendet, die ständige Angst vor Überfällen in den Elendsvierteln der Großstädte und schlaflose Nächte in einer schwülwarmen Kabine ohne Standklima. Denn das ist es, was ich bei meinem Onkel erlebt habe.“
„Ich kann Dir sagen, dass Du das alles entweder auch hier bekommst oder Europa eine andere Gemeinheit dafür übrig hat. Moderne LKW sind etwas größer, aber immer noch Käfighaltung. Die Alpen oder die Hohe Tatra sind auch nicht auf jedem Pass vergnügungssteuerpflichtig. Aktuell ist in Skandinavien nicht viel los, aber ich kann Dir einen Streuselkuchen voll von finnischen Mücken aus meiner Vergangenheit erzählen. Schotterstraßen haben sie im Norden auch reichlich. Unbestechliche Kontrolleure haben den Nachteil, dass man bei ihnen den Papierkrieg zu Ende kämpfen muss, und so weiter. Und dann willst Du trotzdem für ein statistisch eher niedriges Gehalt hier arbeiten anstatt in einer bequemen Bank vielleicht nach einigen Jahren dicke Prämien einzustreichen? Und was hatte Dein Onkel denn für einen Truck?“ „Einen MAN F2000 der ersten Serie mit langem 8×4 Fahrwerk und Kofferaufbau, wie sie in Lateinamerika üblich sind. Und Beruf kommt von Berufung. Ich bin kein Zahlenschieber, auf die Schiene hat mich mein Vater gesetzt.“
„ADR-Scheine hast Du keine? Immerhin sind wir dabei, uns auf Gefahrgut zu spezialisieren.“ „Nein. Ich will sie aber machen.“ „Wann könntest Du bei uns anfangen?“ „Sofort.“ „Okay. Willst Du noch was von uns wissen?“
„Was hättet Ihr denn mit mir vor, wenn ich die Stelle bekomme? Was für ein LKW, was für Strecken?“ „Einen Renault Premium Route mit 460 PS haben wir für Dich frei.“ Er zeigte keine irgendwie geartete Regung über diese Aussicht, nickte nur.
„Wenn Du die Stelle wirklich bekommen solltest, müssten wir Dich natürlich erst einmal auf Konsumgüter und so stecken, bis Du ADR hast. Die Strecken würden mit Deutschland, Österreich, Schweiz und Benelux anfangen. Mit der Zeit dann eben ganz Westeuropa, die erste Reihe osteuropäische Länder von Polen bis Ungarn, Mittelmeerraum. Je nach Gefahrenlage auch mal Nordafrika.“
Letztes Thema wurde das Gehalt. Hier zeigte sich, dass er überhaupt keine Ahnung von dem Job hatte. Wären wir unseriös, würden wir ihn für seine Gehaltsvorstellung ausnehmen und unsere Firmenkasse mit den Mehreinnahmen sanieren. Mit dem Gehalt war man im Verteilerverkehr unterwegs und zu Hause verdiente noch mal jemand. Ein Leben auf Reise mit oft deutlich höheren Lebensmittelpreisen und all den kleinen und großen Nebenkosten konnte man damit jedenfalls nicht bestreiten.

Nachdem wir ihn auch mit der Standardphrase verabschiedet hatten, dass wir uns melden wollten, sah ich Julian an. „Wenigstens war er der unterhaltsamste Bewerber.“ „Und auch der sympathischste. Aber von Tuten und Blasen trotzdem keine Ahnung. Wir waren natürlich auch dumm genug, in den Sommerferien auf Suche zu gehen.“ Wobei Julian ziemlich genau ein Jahr älter war. Aber er hatte eben illegal bereits 6 Jahre Erfahrung gesammelt, an denen ich nichts zu rütteln hatte. An die Ferien hatte keiner gedacht, da es uns alle persönlich nicht betraf, außer dass die Straßen frei waren.
Mir fiel auf, dass er trotz allem der einzige war, bei dem keiner von uns den Stift quer abgelegt hatte, sondern beide nur von der Tischmitte weg zeigend. Manfred Glaser hatte ich quer geblockt, Erik Mahler beide. Aber auch das bedeutete, dass wir ihn nicht wollten. Er hatte es nur nicht geschafft, auch noch Sympathiepunkte zu verspielen, während er sich auf die Knochen blamiert hatte.
„Sollten wir vielleicht noch mal in 2 oder 3 Wochen Anzeigen in den Tageszeitungen schalten?“ „Ja. Wird das Beste sein. Es herrscht nun mal Fahrermangel, da wird es sowieso schwer, einen guten Kandidaten zu finden.“

Judith suchte noch eine lohnende Anschlussfracht, als wir uns am Dienstag früh mit unserem neuen Arbeitsgerät auf den Weg machten. Bei ENI Duisburg sattelten wir einen Schwanenhalstrailer mit einem Tanktainer auf. Das Gespann sah zwar mit der 6×2-Zugmaschine witzig aus, aber Quecksilberchlorid war ziemlich schwer und so wog das kleine Fässchen mehr als es den Anschein hatte.

Chris steuerte über die A2 quer durchs Ruhrgebiet und das Touristenschild zeigte uns, warum unsere Firma mit unserer Spezialisierung mitten im Ruhrgebiet genau richtig angesiedelt war, auch wenn ich inzwischen doch manchmal Sehnsucht nach Köln bekam. Aber der ließ sich in einer Stunde Zugfahrt auch beikommen.

Die Fahrt war ziemlich entspannt und so erzählte ich Chris ein Bisschen von unseren Bewerbern. „Schöne Bescherung. Da hatte ja jeder einen größeren Nachteil als Vorteile. Zweimal mit Erfahrung und nicht motiviert, der eine weil er den Beruf verfehlt hat und der andere weil er sich für den König der Welt hält. Und der dritte würde ins Team passen, aber kennt nicht den Unterschied zwischen fahren können und fahren dürfen.“
Ich fing nach dem Satz an zu grübeln. Und dabei war keiner der drei Kandidaten direkt im Mittelpunkt, sondern ich projizierte einen von ihnen auf unseren Freund und Mitgesellschafter Julian. Ich stellte mir vor, wie er, knapp 16 Jahre alt, Marlon so lange belatschert hatte, bis er ans Steuer von ihrem Renault Major durfte oder wie er vor Weihnachten bei seinem Plan, notfalls auch ohne Marlon irgendwie weiter fahren zu können, gefühlt noch mal 5 Zentimeter gewachsen war.

Das war der Punkt, den wir übersehen hatten. Man konnte alles lernen, aber es gab auch Dinge, die musste ein Angestellter mitbringen. Ich drückte die Telefontaste und klickerte mich durch das Adressbuch, bis ich bei J ankam und Julian anrief.

„Hallo Ricky. Wie geht es?“ „So weit ganz gut. Ich hatte gerade eine Idee.“ „Was für eine?“ „Wen wir als Fahrer einstellen sollten.“ „Einen unserer Bewerber?“ „Ja.“ Im Hintergrund kicherte Marlon unmotiviert herum. Dass unser ehemaliger Eisblock das mittlerweile auch hinbekam, freute mich, auch wenn mir der Anlass unklar war.
„Und wen?“
„Timo.“ Wenn Marlon gerade was getrunken hatte, dann hoffentlich Wasser. Denn was auch immer es war, nach dem Prusten musste es gerade innen an der Windschutzscheibe runter laufen. „Ruhe auf dem billigen Platz ohne Lenkrad!“ pflaumte Julian seinen Bruder an.
„Und wie kommst Du darauf?“
„Nimm es mir nicht übel, er erinnert mich an Dich.“ Jetzt hatte Marlon wohl endgültig einen Lachflash. Ich erklärte kurz: „Er will diesen Job. So wie Du alle Truckhändler in der Metropolregion Rhein-Ruhr abklappern musstest und Deinen Dickkopf gegen Marlon durchsetzen wolltest. Timo mag keinen Meter ohne Fahrlehrer neben sich gefahren sein und keine ADR-Scheine haben. Aber er darf einen 40-Tonner fahren und den ADR-Schein für Tankwagen hat man nach einem Intensivkurs in einer Woche zusammen. Der Junge ist von den Fußballen bis in die Spitzen seiner Justin-Bieber-Haartolle vollgestopft mit der Motivation, die den beiden anderen fehlte.“
„Ich habe Julian gerade noch gesagt, dass ich schon mal mit jemandem zu tun hatte, der unbedingt LKW fahren wollte und keine Ruhe gegeben hat, bis er zwischen Algier und Batna endlich ans Steuer durfte. Und dass dieser Jemand auch dann noch fahren wollte, als ich die Schnauze letzten Winter voll hatte. Keine 2 Minuten später rufst Du an und erzählst ihm im Prinzip das gleiche.“
„Vielleicht habt Ihr ja Recht…“
„Und wenn nicht, dann gibt es immer noch eine Probezeit.“ „Wir haben gleich Pause, dann rufe ich zu Hause an und sage Judith, sie soll uns bis Donnerstag nach Hause holen und Timo Freitag einladen?“ „Das wäre nett.“

Wir fuhren weiter, zahlten den Eintritt ins polnische Autobahnnetz und machten erst spät Ruhe. Es war schon spät und wurde dunkel, als wir hinter Poznan auf einem Tankstellenhof an der Landstraße parkten.

Am nächsten Morgen fuhr Chris nach Gdansk bis auf den Hof von Linde, krallte sich die Papiere und stieg aus. „Hey, der Beifahrer macht die Papiere…“ „Na ja, bis Du mit Deinem nicht vorhandenen Polnisch fertig wirst, sind wir so rum deutlich schneller.“
Da hatte er allerdings auch wieder Recht. Also ließ ich mich von einem Mitarbeiter einweisen und setzte um an den nächsten Trailer, auf dem 22 Tonnen Nitrocellulosepulver ihren Transport ins Ruhrgebiet erwarteten.

Auch die Rückfahrt war ziemlich ereignislos. Die Weite der polnischen Landschaft brachte auch wenig Abwechslung, immerhin waren insbesondere die Sonnenblumenfelder kurz vor der Ernte ein netter Anblick.

Poznan erreichten wir im dicksten Berufsverkehr und so verloren wir einige Zeit. Allerdings waren wir so gut im Rahmen, dass wir sogar auf dem letzten Rastplatz in Polen die Nachtruhe einlegten. Um gerade mal 18 Uhr endete unser Tag außergewöhnlich früh.

Am Donnerstag sollte es dann quer durch Deutschland gehen. Erster Fahrerwechsel stand kurz hinter Berlin an. Das hieß auch eine Runde durchs Rasthaus, Toilette und Bistro. Bei einer italienischen Kaffeekette nahm ich dann mal Latte Macchiato und manövrierte das hohe Glas durch die Stehtische. Chris rief meinen Namen, um mich an den Tisch zu holen, den er für uns erobert hatte, als sich jemand umdrehte und stutzte. Auch ich kam in so ein „Ist er es?“ Grübeln, während ich den Tisch erreichte.

Er kam an unseren Tisch und als er uns so schüchtern und mit seinem immer noch ziemlich kräftigen Akzent begrüßte, war ich mir sicher. „Hallo Ruslan.“ „Ricky, Dich gibt es ja auch noch?“ Er umarmte mich überschwänglich, dann gab er Chris die Hand und stellte sich vor: „Ruslan Arginbayev. Ich bin mit Ricky zur Schule gegangen. Er war mein bester Freund, bis er weggezogen ist.“ Im Prinzip war ich sein einziger Freund gewesen, aber wir waren damals in der Tat gute Kumpels.
„Christian Langerczyk, Rickys Partner.“ Ruslan ließ erst einmal nicht durchblicken, wie er das interpretierte und ging zum Smalltalk über. Er wusste trotz unserer engen Jugendfreundschaft nicht, dass ich mit der Damenwelt nichts anfangen konnte. „Wie lange bist Du jetzt von zu Hause weg?“ „11 Jahre. Und zu Hause ist schon längst in Bochum. Das Sauerland würde ich auch nie wieder so nennen wollen.“ „Kann ich verstehen.“
„Und was macht ihr hier?“
„Von Danzig nach Essen fahren, der blau-gelbe da draußen ist unserer.“ „Oh, Kollegen? Ich bin auch Trucker.“ „Und wo steht Deiner?“ „Zu Hause. Ich bin mit dem Auto hier, komme aus der russischen Botschaft in Berlin.“
Er hatte den deutschen Pass zurückgegeben und den russischen behalten, als Russland ihn mit der Volljährigkeit vor die Wahl stellte. In der Schule war er immer für alle nur „der Russe“, mehr als einmal hatte er mir damals gestanden, dass er in Deutschland unglücklich war. Und das nicht nur wegen der ständigen Ausgrenzung. Als er mit 12 Jahren hier her kam, war er aus seiner alten Heimat geprägt, aber weil väterlicherseits mal die Urgroßmutter einen deutschen Schäferhund hatte, hatten seine Eltern ohne die Kinder zu fragen das Recht in Anspruch genommen, nach Deutschland zu ziehen.
Bevor ich nach Hessen gezogen war, hatte ich noch mitbekommen, dass die andauernde Arbeitslosigkeit seines Vaters über Alkoholismus in einem tödlichen Leberversagen geendet hatte.
Er brachte mich auf den neuesten Stand. Mit 23 hatte er einen Unfall im Schlafzimmer, sein dabei gezeugter Sohn hieß Sascha und war demnach jetzt 12. Die Mutter wollte mit beiden nichts zu tun haben und hatte Freund, Kind und Sauerland kurz nach der Geburt verlassen. Fünf Jahre danach hatte er geheiratet und mit seiner Frau dann noch eine gemeinsame Tochter, die jetzt fast 6 Jahre alt war.
„Und bei Dir?“
Also hatte er den Partner wohl rein beruflich aufgefasst. „Na wir zwei halt.“ Ich zeigte auf Chris. „Also doch… Hätte ich damals schon drauf wetten wollen. Dann ist aber auch klar, warum Du lieber in einer Großstadt wohnst.“

„Darf ich mal unverschämt fragen, ob Du für 14 Tage eine Zugmaschine unterstellen könntest?“
„Ein Stellplatz ist gerade frei, warum?“ „Mir wollen sie schon zum 15. den Stellplatz wegnehmen und ich bin erst Anfang September hier weg. So lange will ich die nicht am Straßenrand parken, wenn ich nicht muss.“ „Kein Problem. Wo willst Du denn hin?“ „Nach Russland, ein Haus und ein Firmengelände kaufen. Wir gehen zurück, und dieses Mal die ganze Familie einstimmig.“

Wir verabschiedeten uns voneinander und ich erzählte Chris ein Bisschen aus dem Nähkästchen, wie Ruslan und ich unsere gemeinsame Jugend miteinander verbracht hatten. Der von allen ausgegrenzte, aber wenn man mal ehrlich war auch nicht wirklich integrationswillige Osteuropäer einerseits und der heimlich Schwule, der logischerweise keine Lust auf „Hasenjagd“ hatte andererseits.
Während die anderen im Freibad flirteten, unternahmen wir Fahrradtouren und wenn unsere Klassenkameraden in der Disco waren, spielten wir am Computer.

So verging auch die Fahrt nach Essen wie im Fluge und wir waren nach drei Tagen wieder zu Hause. Kurz nach uns rollten auch Julian und Marlon auf den Hof.

Am Freitag wollte Timo schon am Morgen da sein. Mittags musste er bei beim TÜV in Köln sein, die praktische Übung und Abschlussprüfung seines kombinierten ADR- und Tankwagenkurses absolvieren. Der Junge meinte es wirklich ernst.

Nach der Begrüßung wurde es ernst: „Und, hast Du über unserem letzten Gespräch nachgedacht?“ „Ja.“ „Und willst Du immer noch Trucker werden?“ „Ja…?“ „Das bedeutet noch mal eine Menge lernen, wenn wir Dich nehmen würden. Das ist Dir klar?“ „Was zum Beispiel?“ „Frachtpapiere vor allem. Und dann auch noch ein paar fahrerische Besonderheiten. Es wird ein oder zwei Wochen nach Großbritannien gehen und zwei bis drei Wochen nach Nordafrika. Jeweils mit einem von uns als Experten für diese Gebiete. Bis wir Dich alleine los lassen, wirst Du wohl anderthalb Monate immer mit einem von uns unterwegs sein.“ „Okay, eine Einarbeitung ist ja nicht schlecht wenn man ohne Erfahrung ist.“
Er schluckte ein Bisschen, immerhin war es nicht so eine gute Idee, im Bewerbungsgespräch auf die eigenen Schwächen hinzuweisen.
„Auf was für einem Truck hast Du Fahrschule gemacht?“ „Scania G320.“ „Falsche Antwort. Aber erlösen wir Dich erst mal. Wir werden Dir gleich einen Arbeitsvertrag vorlegen.“ Er lächelte schüchtern. „Wir sind keine Bank, hier kann man sich auch richtig freuen.“ „Sorry, dafür bin ich gerade glaub ich viel zu überwältigt. Außerdem bin ich viel zu ernst erzogen worden.“ „Das haben wir bei meinem Bruder schon geschafft, Dich kriegen wir auch noch zum Lachen.“
„Also arbeiten wir Dich aber mal lieber auf dem Renault Premium ein. Wenn wir Dich jetzt auch noch mit einem Renault Magnum oder Iveco Stralis Hi-Way in schnellem Wechsel verwirren, bringt das glaub ich nicht viel. Außer Du hättest auf einem von denen Fahrschule gemacht.“ „Hier ist der Vertrag, lies ihn Dir mal durch.“
Er fing an zu lesen. Beim Gehalt stutzte er: „Wow, so viel Geld? Ich hatte da nach meinen Recherchen mit weniger gerechnet.“ „Wir wollen nicht die Hauptrolle bei einer Doku im Privatfernsehen über Lohndumping haben. Das waren dann vielleicht irgendwelche Zahlen, wo Osteuropäer mit drin sind, die den Schnitt versauen oder Nahverkehr, wo man weniger verdient aber auch weniger braucht. Unterwegs lebt man teuer.“
„Das werde ich auch sonst brauchen. Mein Vater hat gesagt, dass ich zu Hause raus fliege, wenn ich hier unterschreibe. Also muss ich mir was mieten und einrichten. Wird hart.“
„Du willst das unbedingt durchziehen? Respekt.“
„Und was möbliertes mieten?“ „Ist gerade kurz vorm Semester. Wird eng.“ „Ricky. Was ist mit Deinem Container?“ „Dem was?“ „Hinter der Halle steht ein Wohncontainer, in dem ich vor dem Ausbau hier gewohnt habe. Ein kleiner Herd und ein Kühlschrank sind drin, mein altes Bett ist noch nicht über Ebay weg und steht wieder drin. Brauchste im Prinzip nur einen Tisch, Stühle, ein paar Schränke und hast eine Behelfswohnung.“

Timo unterschrieb den Vertrag und machte sich auf den Weg nach Köln zu seinem Lehrgang. Er meinte, sein Vater würde das schon am Ende nicht durchziehen und ihn rauswerfen. Waren gute Eltern so selten? Nur ich hatte sie noch, sie waren gesund und ich verstand mich mit ihnen. Marlon und Julian war die Mutter gestorben und der Vater abgehauen, Judith der Vater gestorben und die Mutter im Pflegeheim, immerhin hatte sie immer ein gutes Verhältnis zu ihnen gehabt. Chris war von den Eltern rausgeworfen worden, Timo drohte vom Vater das gleiche, seine Mutter war bisher nie erwähnt worden. Aber vielleicht hatte er ja wenigstens Glück und sein Vater doch noch ein Einsehen.

Er hatte nicht, denn am nächsten Tag fuhr ein Mercedes mit Bonner Kennzeichen auf den Hof. Auf dem Beifahrersitz hockte Timo, als das Auto stand, stieg er aus und holte mit verbissenem Gesicht zwei Taschen aus dem Kofferraum. Auch der Fahrer stieg aus. Ich legte also die neuen Telepass und Télépéage-Transponder beiseite, die ich gerade in unseren Iveco kleben wollte. Auch Chris und Julian, die gerade auf der dritten Bahn Ölwechsel an zwei unserer Motorräder machten, blickten auf.

„Sigismund von Hofmeister, guten Tag. Sie haben Timotheus also diese Flause ins Ohr gesetzt, er könnte Fernfahrer werden?“ Er gehörte zu den wenigen Leuten, bei denen ich auf Anhieb beim Nachnamen bleiben wollte. „Eric Kaiser. Guten Tag. Timo hat sich hier von sich aus beworben, er hat einen LKW-Führerschein und bringt die nötige Motivation mit, die man in diesem anspruchsvollen Beruf braucht.“
„Anspruchsvoll…?“
„Was wissen Sie denn darüber?“ „Immerhin habe ich einen Bruder, der Lastwagen fährt und Ende der 80er, als ich für die deutsch-mexikanischen Wirtschaftsbeziehungen verantwortlich war, habe ich in Mexiko auch mal am Steuer von Sattelzügen gesessen.“
„Dann respektieren Sie doch einfach den Wunsch Ihres Sohnes.“ „Nein, sobald Lastwagen ins Spiel kamen, hat das Probleme für die von Hofmeisters gegeben. Mein Bruder ist aus dem diplomatischen Dienst ausgeschieden und Fernfahrer geworden, um seiner turunsgemäßen Versetzung in ein anderes Land zu entgehen und eine Chilenin zu heiraten. Jetzt lebt er unter unserer Würde in bescheidenen Verhältnissen…“ „Aber glücklich mit seiner Familie.“
„Und mir haben die Lastwagen auch kein Glück gebracht.“
„Eher die mit einem Mexikaner verheiratete Unternehmerin, der sie gehörten…“ In Berlin würde man wohl sagen „Nachtijall, ick hör dir trapsen.“ War Timo sozusagen ein diplomatischer Zwischenfall im Wirtschafts- und Entwicklungshilfe-Ressort?
„Ruhe jetzt! Hier sind 300 Euro zur Überbrückung und wage es nicht, wieder bei mir aufzukreuzen, bevor Du zur Besinnung gekommen bist und in einem würdigen Beruf arbeitest. Wird ja hoffentlich nur eine oder zwei Wochen dauern!“
„Dein Geld kannst Du Dir… behalten.“ Den vermutlichen Vorschlag, dass sein Herr Vater sich das Geld rektal einführen sollte, hatte er gerade noch so runtergeschluckt. „Herr von Hofmeister! Verlassen Sie und Ihre Ansichten über unseren Beruf umgehend mein Grundstück, bevor Sie das nächste Mal Probleme mit einem Besitzer von Lastwagen bekommen!“

Ich gab Timo den Schlüssel für den Container und bereitete einen Mietvertrag für das Ding vor, damit auch das seine Ordnung hatte. Er unterschrieb und wollte ein Auto, um ein paar zusätzliche Möbel und die nötigsten Dinge wie Handtücher und ein Bisschen Geschirr zu kaufen. Ich gab ihm den Schlüssel für meinen Citroen. In dem Moment ertönte draußen eine LKW-Hupe.

Ich ging also mit Timo wieder runter und auf dem Hof stand Ruslan mit seinem Truck. Dank der langen Bauzeit mit eher dezenten Facelifts erkannte man erst auf den dritten Blick, wie alt das Schätzchen schon war. Lightbox und Motor passten nicht so recht zusammen, der 124L war nur ein Sechszylinder.

„Hallo Ricky. Wo soll er hin?“ Ich warf einen Blick auf die Hallenbahnen, auf der 1 stand vorne der Iveco und dahinter der Magnum, auf der 2 vorne der Premium, dahinter war frei. Die 3 war die Bahn für PKW und Motorräder. „Einmal links um die Halle, ich mache ein Tor auf.“
Kurz danach stand sein Scania in der Halle. Er gab mir den Fahrzeugschein und Schlüssel. „In 2 Wochen brauche ich ihn wieder. Wenn Du einen Fahrer dafür hast, setz ihn so lange ruhig ein.“

————————————————————–

Wer in den 80ern ferngesehen hat – oder mal eine Wiederholung – wird sich vielleicht vorstellen können, wer der Vater des dritten Bewerbers ist. Und er sollte eigentlich einen Aufhänger für einen Querbezug zu einem anderen Tagebuch bei TSM unter dem vielsagenden Titel „Auf Achse – The Next Generation“ ergeben, wo der Autor in die Rolle des Neffen von Günter Willers geschlüpft war, der ebenso wie sein alter Kamerad Franz die Familie von Hofmeister ja nun bestens kannten.
Nun war diese Story leider zu dem Zeitpunkt bereits eingeschlafen, daher hatte ich überlegt, den Namen durch einen neuen aus dem Zufallsgenerator eines Namenslexikons zu ersetzen, wo die meisten hier her kommen.
Da dies allerdings der Schluss von meinem ursprünglichen Storybook war, habe ich beschlossen, dass er aus nostalgischen Gründen bleibt, wie er ursprünglich für das kleine und vermutlich ziemlich witzige Crossover vorgesehen war, auch wenn es das nie geben würde.

Und hatte ich noch im Begleittext zu meinem ersten Kapitel geschrieben, dass die fiktiven Personen im Laufe des Tagebuchs angefangen haben, ein Eigenleben zu entwickeln, dann erzähle ich zumindest den Lesern, die schon bei TSM dabei waren, nichts neues, wenn ich behaupte, dass das aus meinen Tagebüchern beidseits des Atlantiks auf niemanden mehr zutrifft als auf Timo.



2 Kommentare zu „Kapitel 28 – Hängende Mundwinkel, hohe Nasen und Justin Biebers Zwillingsbruder

Hinterlasse eine Antwort zu Mirko (TurboStar) Antwort abbrechen